Cool?

»Ich gehe in die 9. Klasse eines Hamburger Gymnasiums und habe ein Problem: Ich habe kein Leben mehr.« Das schrieb kürzlich die fünfzehnjährige Yakamoz in der ZEIT. Der glasklare Artikel »Mein Kopf ist voll« stand auf einer Seite, die sonst berühmten Gastkommentatoren gehört. Da liegt wohl etwas in der Luft.

Bleiben wir noch bei Yakamoz. Sie kommt um 16 Uhr aus der Schule und geht nicht vor 23 Uhr ins Bett. »Und das liegt nicht daran, dass ich fernsehe, mich entspanne oder sogar Spaß habe. Mein Kopf ist voll. Zu voll. Was denken sich eigentlich diejenigen, die über unser Schulleben bestimmen?« Yakamoz wollte es wissen. Sie rief bei der Hamburger Schulbehörde an. »Doch die Person am anderen Ende der Leitung hat mich unterbrochen und gesagt, dass das Gymnasium nur für selbstständige Schüler geeignet sei, die ein gewisses Lerntempo durchhalten.« Aber Yakamoz hat lauter Einser und Zweier. Sie geht gern zur Schule. Sie wollte loswerden, wie sie und ihre Mitschüler sich fühlen, und zwar diejenigen, »die sich anstrengen und sich kaputt machen«, die mit guten Noten. Sie will nicht nur irgendwie durchkommen. Sie will keine sein, die schon beim Wort »Lernen« das Gesicht verzieht. Yaka­moz will nicht cool werden.

Funktionieren?
»Wir sollen Maschinen sein«, schreibt sie, »die funktionieren und das mindestens 10 Stunden am Tag. Aber funktionieren ist nicht gleich lernen. Lernen bedeutet nämlich vor allem eins: Erfahrungen sammeln.« Aber welche Erfahrungen macht sie in der Schule? Yaka­moz erwartet dort gar nichts Großartiges. »Jeder weiß, dass die Schule nicht das Leben ist. Mein Leben aber ist die Schule, was heißt, dass da was schief gelaufen sein muss.«

Wechseln wir vom pädagogischen Mikroblick zur Makrosicht, die alle Erfahrungen einfärbt. Das Raumschiff Erde ist in keinem guten Zustand. Das wissen schon die Kinder. Und dass die Kinder für das, was auf sie zukommt, nicht gut vorbereitet werden, ahnt jeder. Erwachsene wissen, dass das »Ende der Welt, wie wir sie kannten« (Leggewie und Welzer) bevorsteht, so oder so. Aber die meisten ziehen es vor, wegzusehen. Wenigstens selbst noch einigermaßen durchkommen. Nach uns die Mutation!

Wirtschaft, Politik und Schulen scheinen einer Maxime zu folgen, über die sich Mark Twain schon lustig machte: »Nachdem wir unsere Ziele aus den Augen verloren haben, verdoppeln wir unsere Anstrengungen!« Wohin das führt, ahnen die Jüngsten, zumal, wenn sie nicht mehr glauben, der Frustschutz antrainierter Coolness garantiere noch einigermaßen durchzukommen.

Protest?
Seit Monaten wird der Kältestrom von einem unerwarteten Wärmestrom unterbrochen. Er ist spanisch, jüdisch oder arabisch, er verbindet die Mittelmeerländer und führt bis nach Chile, wo die junge Studentin Samia Vallejo ganz unagitatorisch das ganze Land mit dem Satz entzündet: »Die Krise der Erziehung ist die Krise des Modells.« Damit meint sie die Haltung, die alles durchzieht.

Plätze werden besetzt. In Kairo, Madrid, Tel Aviv und irgendwann auch wieder in Peking. Der neue Protest ist performativ. Wörter dominieren nicht, schon gar keine Ideologie. Werden auch Hamburger und Berliner wach und lebendig genug sein, rauszugehen, oder bleibt man dort lieber im Warmen und innerlich cool? Immerhin, in New York, Berlin und sogar in Hamburg werden mobile Gärten gegründet. Gemüseanbau in Kisten, die auf Asphalt oder auf Dächern stehen, als würde schon mal eine Nomadenökonomie durchgespielt. Im neuen Protest werden Plätze nicht mehr zu Schlachtfeldern. Sie werden kultiviert. Sie werden nicht erobert. Sie werden belebt. Der Feind ist dann nicht mehr konstitutiv für die Konstruktion des Eigenen, das unter solcher Negativität ja nie wirklich gelang.

Fässer füllen?
Worum sollte es in der Bildung gehen, wenn nicht um die Ermöglichung des Eigenen? Die fünfzehnjährige Yaka­moz formuliert ihre Entfremdungserfahrung in einem System, das hochtourig läuft und als hochgradig unwirksam erlebt wird. Man kann das auch so ausdrücken: »Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen, laufen darauf hinaus, dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt.« Das ist die Diagnose von Gerhard Roth, hier vor ein paar Monten bereits zitiert. Sie sollte vielleicht Schulkonferenzen als Motto voran gestellt werden. Gerhard Roth, der Hirnforscher, ist Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Er hat natürlich mehr Autorität als Yakamoz. Aber sie bringt es auf den Punkt: »Auf dem Gymnasium wird uns beigebracht eine eigene Meinung zu bilden, aber nicht wie wir sie äußern und damit etwas bewirken können.« Die alte Frage: Werden Schüler als leere Fässer behandelt, die gefüllt werden sollen? Francois Rabelais beantwortete sie vor 500 Jahren: »Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Flammen, die entzündet werden wollen.« Ähnlich argumentierten bereits zweitausend Jahre zuvor Heraklit und Plutarch. Das waren jeweils Zeiten einer Renaissance. Die Wirksamkeit und Würde der Subjekte wurde entdeckt. Heute haben wir beides: die Entdeckung und die Abdeckung der Subjektivität.

PS
Yakamoz, die fünfzehnjährige Schülerin, wird am 14. Oktober bei der Eröffnung des Kongresses »Arche Nova – Die Bildung kultivieren« im Festspielhaus Bregenz sprechen.  www.adz-netzwerk.de

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 10/2011