Alles neu erfinden?

Gleich mit der Tür ins Haus: »Erfindet euch neu!« Diesen 77 Seiten kurzen Essay von Michel Serres sollten Sie sich besorgen.¹ Ich habe die Druckfahnen schon dreimal gelesen und damit den Abgabetermin für mein PS ausgereizt.

Michel Serres? Seit 83 Jahren ein Staunender. Er gehört zu den 40 »Unsterblichen« der Académie française, lehrt immer noch an der Sorbonne und auch in Stanford. Er ist der optimistischste Philosoph, den ich kenne. Ein Liebhaber der Vielfalt. Zehn Jahre fuhr er zur See, bevor er sich für Mathematik und Philosophie entschied. Danach wurde er ein großer Navigator in der Epistemologie, der Wissenschaft vom Wissen. Sein Buch »Die fünf Sinne – Eine Philosophie der Gemenge und Gemische« ist für mich eines der größten. Und nun blickt er wieder mal durch die verwirrende Gischt in der Brandung und sieht ein Morgenrot, wie es sich in der Antike und in der Renaissance bot. Michel Serres erblickt neue Ordnungen in den Meeren des Wissens und auf den Kontinenten des Zusammenlebens. Seine Vision, erlauben wir uns das verbrauchte Wort, treibt ihn zu einer »Liebeserklärung an die vernetzte Generation«.

Zwei Seiten der Kinder

Dabei beginnt Serres mit geläufigen Beobachtungen an den Kindern: »Haben im Leben keine Kuh gesehen«. »Sind vom Glück verwöhnt«. »Wurden formatiert durch Medien, die ihr Aufmerksamkeitsvermögen gründlich zerstört haben«. Das ist die eine Genealogie der heutigen Kinder. Da geht etwas zu Ende. Da fliegt vieles auseinander. Nirgendwo wird das so sichtbar wie an den Kindern.

Die andere Genealogie skizziert eine sich abzeichnende, noch nie dagewesene neue Fülle des Wissens, in der die Kinder »schon heute über mehr Weisheit und mehr Informationen verfügen als jene Dinosaurier mit ihrem unmäßigen Energiehunger«, die wir Erwachsene gewöhnlich sind. Und er beobachtet an den Kindern: »Sie sind zu Individuen geworden.« Noch bis vor kurzem hätten wir in einer Welt diktatorischer Zugehörigkeiten gelebt: Französisch oder deutsch; katholisch oder evangelisch; männlich oder weiblich. Und noch bis vor kurzem regierte die Ordnung eines Wissens, die vom Buchdruck und von den Priesterkasten der Wissenden beherrscht war. Jetzt bekommt ein Universum der Individuen in einer Welt, »in der alles Wissen bereits da ist«, eine Chance. Aber der Welt fehlen dafür noch die Kultur und auch die Politik. So stehen die Kinder gewissermaßen mit Flügeln am »abschüssigen Rand«. »Wir Erwachsene haben keine neuen Bande erfunden. Die generalisierte Kultur des Verdachts, der Kritik und der Empörung hat eher die Zerrüttung der bestehenden vorangetrieben.«

Wie immer ist bei Serres vieles ahnungsvoll, das dann beim Versuch, es zusammenzufassen, schrumpft. Liest man ihn allerdings, geht es einem wie dem Kameramann, der aus der Unschärfe dauernd neue Bilder holt.

Umformatierung des Wissens

»Wie ein Atom ohne Valenz ist der Däumling völlig nackt.« Däumling, das ist der Kosename, der ihm zu seinen SMS schreibenden Enkeln eingefallen ist. Er bewundert, wie souverän sie durch das Wissen navigieren. Aber dieses Universum der Netze ist eher noch potentiell, ist noch nicht zur Menschenheimat kultiviert worden. Verwechseln wir also nicht die Verwahrlosungsbilder von nackten Däumlingen, die wie Fremdlinge in fast schon abgestorbenen Welten herumirren, mit den Möglichkeiten, die erst noch zu entdecken sind – und der Schönheit, die Serres bei den Däumlingen bereits sieht und preist.

»Die Kinder haben sich im Virtuellen eingerichtet.« Dabei beobachtet Serres deren allgemeine »Kompetenzvermutung« gegenüber sich selbst und gegenüber allen anderen. Diese wurde in unserer dreitausend Jahre alten Priesterkultur geschleift. Stattdessen wurde die allgemeine »Inkompetenzvermutung« zur dominierenden kulturellen Grammatik. Das ist Serres' zentrale, in all seinen Werken vorbereitete These: »Wir wurden 3 000 Jahre zum Schweigen verdonnert.« Wissen wurde gleichbedeutend mit dem Geschriebenen. So wurde zwar neues Wissen geschaffen, aber dabei das Wissen zugleich aus seiner Vielfalt und Verknotung gelöst und auf Seitenformate gebracht. In den Schulen wurde dann das Geschriebene wieder »vermündlicht«. Aus der vielfältigen Erzeugung und dem Weitergeben »dezentrierten« Wissens, das unsere Sprache ermöglicht, wurde ein Belehren, das nur »in eine Richtung durchlässig ist« und den leeren Kopf der Schüler geradezu voraussetzt.

Eine Demokratie des Wissens

»Alle Welt schien zu glauben, dass alles von oben nach unten fließt.« Diese einseitige Wissensvermittelung gelang nur in der fatalen Symbiose mit dem Kommando »Halt den Mund.« »Bis zur Lernunfähigkeit waren manche vom Wissen eingeschüchtert.« Schulen und Universitäten erinnern Michel Serres nun an einen längst erloschenen Stern, dessen Licht uns noch erreicht, obwohl wir wissen, dass er schon zerstäubt ist.

Vorbei jedenfalls ist es mit der Herrschaft des autoritären, absoluten Wissens. »Was es dem Körper auferlegte, war eine geduckte Haltung. Eine Demokratie des Wissens hat es nie gegeben.« Aber genau die wird für Michel Serres nun möglich. »Die Schüler hören einfach nicht mehr zu. Sie schwätzen.« Sie spielen eine Inszenierung mit, an die sie nicht mehr glauben. »Das Chaos ist unüberhörbar. Die Lehrer selbst schwätzen, wenn der Schulleiter zu ihnen spricht.«

PS
»Das geschriebene Wort hat auf hoher See keine Bedeutung. Das Papier wird zu schnell nass.« Käpt’n Blaubär

PPS
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*     Remo H. Largo (erscheint September 2013): Wer bestimmt den Lernerfolg. Flugschriften – Archiv der Zukunft. Beltz: Weinheim


Aus: Pädagogik 10/2013