Grenzen? Formen!

»Hamburgs strengste Schule: Beim Zuspätkommen droht Bußgeld«. Eine Schlagzeile des Hamburger Abendblatts kurz vor Weihnachten dick und fett auf Seite eins. Die Lübecker Nachrichten titeln »Schulen rüsten auf. Ein Preetzer Gymnasium führt bei Klausuren Handy-Ortung ein.« Und die Schwäbische Zeitung blickt in die USA: »Schulen werden zu Festungen.« Alle Überschriften wenige Tage, nachdem in Newtown der zwanzigjährige Adam Lanza 20 Kinder, fünf Lehrer, seine Mutter und sich selbst umgebracht hat. Seine Nachbarn haben ihn als nett und unscheinbar charakterisiert. Aber nach den spärlichen Berichten muss das Familienleben die Hölle gewesen sein.

Was haben die deutschen Überschriften mit den Morden in den USA zu tun? Der greise New Yorker Psychohistoriker Lloyd deMause betreibt seit Jahrzehnten neben seinen Studien zur Geschichte der Kindheit eine ganz besondere Forschung. Er liest Zeitungsüberschriften als Seismographen unterirdischer Mentalitätsströme. Lloyd deMause würde fragen, wie kommt es, dass Schlagzeilen plötzlich wie Parolen für eine pädagogische Aufrüstung klingen?

Zwar sind die Kommentatoren in unseren Medien bestürzt vom Amoklauf und fassungslos darüber, dass in den USA noch nie so viele Waffen verkauft worden sind wie in den Wochen nach dem Gemetzel. Zugleich mischt sich in den kommunizierenden Röhren unter der Oberfläche eine andere Botschaft. Was nach oben dringt, läuft auf das Proklamieren von Grenzen hinaus. Das Generationenverhältnis wurde erschüttert und nun wird auf Stabilität gesetzt.

Grenzen

Schon seit einiger Zeit schwillt die Rede über das Setzen von den Grenzen an. Wie eine magische Formel. Grenzen befestigt man gegen Barbaren, die unheimlichen Fremden. Barbarisch scheint vielen die nächste Generation. Barbarisch gelten immer häufiger die Fremdlinge außerhalb der Festung Europa. Es ähneln sich die Muster gegenüber Kindern und Fremden, diesen »Neuankömmlingen«, wie Hannah Arendt beide nannte.

Ich möchte den Grenzen ein anderes Narrativ, also Erklär- und Lösungsmuster gegenüber stellen: Die Form. Die Grenze ist defensiv, territorial und tendenziell kriegerisch. Die Form gibt Gestalt. Viele Gestalten sind möglich. Grenzen sind eindimensional und gleichgültig gegenüber dem, was links und rechts von ihnen passiert. Sie sollen nur trennen. Grenzen gehören zur Überlebensordnung. Häufig ist in sie Stacheldraht eingewirkt. Grenzen zu setzen ist leicht und etwas paranoisch. Man verlangt von anderen, sie einzuhalten.

Formen

Formen hingegen werden anderen gegeben und müssen erfunden werden, erst mal im inneren Labor der Vorstellungen und in der Werkstatt des gemeinsamen Alltags. Dann werden sie ansteckend. In Formen entwickelt sich das Leben. Formen sind nichts für Heuchler und Pharisäer, die bringen es nur zu Klischees. Aber jeder kann ein Künstler sein! Formen gehören zum zivilisatorischen Prozess. Ihr letztes Maß ist Schönheit. Um Grenzen zu setzen, reicht ein Gewaltakt, der oft Spiralen weiterer Gewalt auslöst. Dem folgt die Logik der Aufrüstung. Selbstreflexion wäre ein Schritt zur Abrüstung. Und genau darum ginge es doch: Pädagogische Abrüstung durch die Kultivierung von Formen. Aber das war nach dem Amok hierzulande nicht der Impuls, zumindest nicht auf den medialen Seismographen ablesbar.

Stattdessen zitieren mehr und mehr Zeitungen »Hamburgs strengste Schule«, das Gymnasium Hamm: »Wer morgens auch nur eine Minute zu spät zum Unterricht erscheint, darf an der ersten Stunde nicht mehr teilnehmen. Wer sechsmal zu spät kommt, muss zwischen 50 und 120 Euro Bußgeld zahlen. Vergessene Hausaufgaben werden mit roten Punkten im Schülerbuch vermerkt. Bei drei Verstößen gibt‘s ein Elterngespräch.« Das klingt nach Schulordnungen vergangener Zeiten, die doch schon längst von der pädagogischen Müllabfuhr entsorgt sein sollten.

Festungen?

Indessen gleichen Reportagen aus Nordamerika Berichten vom Generationenkrieg. »Schulen werden zu Festungen« oder »Lehrer sollen im Unterricht Waffen tragen« lauten die Überschriften. Man kann es kaum glauben: »Im Bezirk Skokie, Illinois, einem Vorort von Chicago, ähneln Schulen heute schon dem Hochsicherheitstrakt einer Strafvollzugsanstalt. Wer zum Beispiel die John-Middleton-Grundschule betreten will, muss beim Klingeln zunächst in eine Kamera schauen. Anhand der Bilder auf einem Videomonitor versuchen dann ein Schulpsychologe und ein Ordnungshüter festzustellen, ob der Gesichtsausdruck des Besuchers etwas über dessen Absicht verrät. Ist der erste Sicherheitscheck absolviert, wird der Besucher in eine kleine, gepanzerte Eingangshalle geführt, wo er seinen Ausweis abgeben muss. Dank der neuen Sicherheitstechnologie ›Raptor‹, die mittlerweile von mehr als 8 000 US-Schulen benutzt wird, kann binnen weniger Sekunden festgestellt werden, ob der Gast vorbestraft ist.«

PS
Ist nicht der abscheuliche Amokläufer auch der Verzweifelte, der in seiner Destruktivität heillos Verfangene? Und, ihr Christenmenschen, müsste man nicht auch ihn lieben? Wie geht das? Sein Leid zumindest sehen! Die Gewaltspirale im eigenen Blick unterbrechen. In seinem Buch »Hört ihr die Kinder weinen«, schreibt Lloyd deMause: »Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen«.

PPS
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Aus: Pädagogik 2/2013