Neinsager?

Haben Kinder und Jugendliche das Recht, nein zu sagen? Die Frage könnte Achselzucken hervorrufen. Warum sollten sie denn nicht nein sagen dürfen, werden viele denken.

Die Frage beschäftigt mich derzeit wie kaum eine andere. Ich habe hier bereits im September vergangenen Jahres diese Gedankenkette begonnen. Und weil mir ein Satz seitdem so subversiv wie produktiv durch den Kopf geht, will ich ihn den treuen Lesern noch mal zumuten.

Es ist ein Satz des Landwirts Mathias Peeters, der mit Schülern der staatlichen Potsdamer Montessorioberschule ein Grundstück am nahen Schlänitzsee kultiviert. Die Schüler der siebten und achten Klassen sind dort zwei Schuljahre lang eine Woche im Monat. Sie bauen, pflanzen, ernten, kochen, reden und denken. Ich fragte Mathias Peeters, was ihm an den Jugendlichen auffällt. »Aufrichtige Anteilnahme«, war seine Antwort, und nach einer kleinen Pause: »Auch aufrichtige Nichtanteilnahme.«

Ist es einfach nur fundamentalbanal, dass aufrichtige Anteilnahme an die Möglichkeit zu aufrichtiger Nichtanteilnahme gebunden ist? Dass es kein Ja gibt, wenn das Nein ausradiert worden ist? Oder ist genau das der Skandal, dass Schüler diese Wahl gewöhnlich nicht haben, weil ein aufrichtiges und ernsthaftes Nein zu den Veranstaltungen der Schule gar nicht vorgesehen ist? Immer nur müssen. Kaum wollen.

Nur ein Fach

Was heißt es, wenn Kindern in der Schule diese Wahl nicht zugestanden wird und wenn Jugendliche angesichts des Pensums von einem Duzend Fächer an die Möglichkeit aufrichtiger Anteilnahme und eben auch aufrichtiger Nichtanteilnahme schon selbst nicht mehr glauben und sich stattdessen zum Dienst nach Vorschrift schleppen? Dann haben sie jahrelang nur noch ein Fach: Irgendwie durchkommen.

Ich vermute, so selbstverständlich Sie es eben noch fanden, das auch Kinder das Recht haben, nein zu sagen, so wenig selbstverständlich finden es nun die meisten, dass es gegenüber Stunden- und Lehrplänen und dem ganzen »Stoff« die Wahl zwischen ja und nein geben könnte. Wie sollte das denn gehen, wenn jeder macht, was er will? – Oder wenn jeder macht, was er »will«. Betonen Sie »will« doch mal anders!

In die Tonne

Szenenwechsel. Ein Gespräch mit Julian und seiner Mutter Christel. Sie haben gerade einen interessanten Film über Räume in Kitas gedreht. Ein schöner Film auch darüber, wie schon kleinen Kindern Welt geboten wird und wie sie eingeladen werden zu wählen und sich zu entscheiden. Julian erzählt dann, wie er und seine damaligen Mitschüler nach dem Abi-tur ihre Schulbücher in eine Tonne geworfen und verbrannt haben und wie sie ums Feuer getanzt sind. Seine Mutter, die Fortbildungen für Kitas anbietet, versteht wie viele andere gute Kitaleute die Schule nicht. Was würde sie denn sagen, wenn die Teilnehmer bei ihr am Ende das Material verbrennen und einen Freudentanz aufführen? So eine Verneinung würde sie nicht ertragen.

Noch mal ein Szenenwechsel. Das Theater Total in Bochum. Für die meisten Teilnehmer ist es nach dem Abitur eine Art freiwilliges kulturelles Jahr. Theater Total heißt, alles wird gemacht, aber nicht von jedem: Spielen, Kostüme nähen, Kulissen bauen, Technik, Tournee planen oder Essen kochen. Die TTler erzählen begeistert, wie sie hier erstmals richtig gelernt haben. Wie sie ganz da sind. Wie sie sich selbst kennenlernen. Und die anderen. Mancher aber geht. Sie finden ihr Ding heraus. Zum Beispiel Jan-Ole. Er liebt Theater und Technik. Ist da Experte und will damit weitermachen. Außerdem liebt er seine Espressomaschine. Eine alte, ersteigerte. Sie steht jetzt im Theater. Ich habe von ihm in einer Viertelstunde erfahren, was ich schon immer über Espresso wissen wollte, habe Sorten probiert, von einem vertrauenswürdigen Händler in Hamburg erfahren und Jan-Oles Espresso genossen.

Am Abend zuvor hatte Theater Total eine Performance aufgeführt, die mit Profis und mit Schülern einer Förderschule entwickelt worden war. Was da alles zwischen den Jugendlichen und den Kindern gelaufen ist! Sich bewegen und sich auf die Bühne wagen. Jedes Kind hatte einen Partner aus der Theatertruppe. Gemeinsam haben sie Weltuntergänge durchgemacht und Wiedergeburten erlebt. Das gehört zu jedem Theaterprojekt, wie das Nein und Ja zum Leben. »In der Schule«, sagt einer, »ging es immer nur um Zahlen.« Überleben war sein Hauptfach. Und jetzt? Sagen wir es mit Hannah Arendt. Die Jugendlichen und die Kinder erleben, was es heißt, dass jeder Mensch an einer Stelle in der Welt steht, an dem vor ihm noch kein anderer stand. Jeder muss seine Position finden. Sein Ding. Seine Einsamkeit ertragen und erfahren, dass man seine Einzigartigkeit nur wagt, wenn es eine Gemeinschaft gibt. Ein komplexes System aus Verneinungen und Bejahungen. Ein Labor von Intelligenz und Schönheit. Leiden und Leidenschaft.

Nein sagen

Ich denke wieder an Hannah Arendt, wie sie gerade im Kino zu sehen ist. Eine Frau, die es wagt, Nein zu sagen. Nein zur gängigen Dämonisierung von Eichmann. Die seine abgründige Dummheit erkundet. Seinen prinzipiellen Denkverzicht, weil das Anderssein der Anderen bei ihm keinen Platz hat. Eichmanns Dummheit ist ja beileibe keine Eigenschaft nur von Massenmördern. Hannah  Arendt fragt, was es bedeutet »ein Jemand zu sein«, kein Funktionär, der nur funktioniert.

PS
Theater Total arbeitet jetzt am Faust und geht damit auf Tournee. Es lohnt sich darauf zu achten, wann TT in der Nähe ist. Ist ja dank Internet ganz einfach.

PPS
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Aus: Pädagogik 3/2013