Weniger ist mehr

Remo Largo hat die Entwicklung von mehr als 800 Kindern erforscht, von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Das Resümee des emeritierten Zürcher Professors für Kinderheilkunde: »Jedes Kind ist anders. Alle sind verschieden. Und wir werden im Laufe unseres Lebens immer verschiedener.« Seine Schlussfolgerung für die Schulen: »Nur die Individualisierung des Lernens wird den Kindern gerecht.« Er kennt das Gegenargument von der pädagogischen Überforderung. Aber hier macht er keinen Kompromiss: »Wer die Vielfalt negiert, weil er glaubt, individualisierter Unterricht sei nicht realisierbar, der hat als Pädagoge kapituliert, damit aber die Vielfalt unter den Kindern nicht aus der Welt geschafft.«*

Seine Studien haben Largo gründlich davon überzeugt, dass alle Kinder lernhungrig sind, dass man ihnen nur Gelegenheiten bieten muss, aber zum selber essen. Das Stopfen mobilisiert eine psychische Immunabwehr. Kinder wollen Erfahrungen machen. Sie wollen etwas tun. Sie sind auf faszinierende Weise selbstbestimmt. »Das Drama ist«, schreibt Largo, »dass weder Eltern noch Lehrer daran glauben.« Bei den Eltern sieht Largo denn auch dunkle Wolken aufziehen. Was passiert, wenn das Wunsch- und Einzelkind ein Projekt der Eltern wird und sich nicht mehr selbst gehört? Es muss perfekt sein, hochbegabt und erfolgreich. Aber zu den Paradoxien der Erziehung gehört, dass diese Ziele just durch zielversessene Erwachsene mit hoher Wahrscheinlichkeit verfehlt werden. Nur das kann gelingen, was auch schief gehen darf.

Die Bilanz

Und was passiert in Schulen, die sich dagegen sichern, dass etwas schief gehen könnte? »Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen«, resümiert der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth, laufen darauf hinaus, »dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt.«

Gerhard Roth ist kein Freund des Alarms. Der Präsident der »Studienstiftung des deutschen Volkes« und Direktor des Instituts für Hirnforschung in Bremen hat vor seiner Emeritierung in der Uni Vorlesungen, im Rathaus Vorträge über Lernen, Persönlichkeit und unser Zentralorgan gehalten und sich in der Bremer Gesamtschule-Ost wochenlang hinten in die Klassen und mitten ins Lehrerzimmer gesetzt. Dann hat er 350 Seiten abgeliefert: »Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt«.**

Sein Ergebnis ist alles andere als der neueste trendige Schrei der Neurowissenschaften. »Es wäre schlimm, wenn in meinem Buch etwas steht, von dem Sie noch nichts gehört haben«, sagte er zur Buchvorstellung. Denn was er zusammengetragen hat, weiß man eigentlich, doch auch hier, die meisten glauben es nicht. Etwa dieses Grundgesetz des Lernens, dass weniger mehr ist. Es zieht sich wie ein Mantra durch das Buch. Wem sich diese Einsicht bisher noch nicht durch Beobachtung oder Introspektion erschlossen hat, der findet glasklare Argumente aus den Naturwissenschaften.

Keine Drehtür

Der Flaschenhals beim Lernen ist das Arbeitsgedächtnis. In das muss erst mal alles hinein und für Wert befunden werden, ans intermediäre Gedächtnis weitergeleitet und dann im Langzeitgedächtnis gesichert werden. Die Kapazität des letzteren ist schier unendlich, aber die des Arbeitsgedächtnisses reicht höchstens fünf Minuten. Wenn danach nicht von Aufnahme auf Verdauung umgestellt wird, eine halbe Minute Unterbrechung oder aus dem Fenster schauen reicht, wird das Vorletzte vom Allerletzten buchstäblich unbeleckt wieder aus der ersten Kammer rausgeschoben. Bei Überdruck wird das Foyer unseres Gehirns zur Drehtür.

»Der Lehrer ist wichtiger als der Stoff«, heißt das zweite Rothsche Mantra. Er fügt hinzu: »Selbst wenn der Lehrer in der Ecke sitzt.« Denn er ist der Gastgeber. Er lädt ein. Er beglaubigt die ganze Veranstaltung durch seine Person – oder eben nicht. Wenn Lernen bedeutet, dass neue Fäden mit dem vorhandenen Gewebe verknüpft werden, dann müssen die Pädagogen ihre Schüler vor allem gut kennen. Mit welchem Blick werden die Kinder empfangen? Es kommt auf die Gestik an. Auf die Stimme. Acht Muskeln im Gesicht sprechen Bände. Das alles führt Roth detailliert aus. »Mimik kann nicht lügen.« Kinder entschlüsseln mühelos all das, was aus dem limbischen System kommt. Vor allem: »Ein guter Blick ist die beste Belohnung, die es gibt.« Sie wird nur noch von der inneren Belohnung übertroffen, die das Gehirn ausschüttet, wenn Staunen in Verstehen übergeht, wenn etwas gelingt, wenn man etwas Neues kann. Die innere Belohnung macht nie satt. Anders als all die Gratifikationen in den Währungen von Noten, Geld oder Süßigkeiten.

PS

Noch ein Buch. Der Dichter Raoul Schrott und der Hirnforscher Arthur Jacobs haben es geschrieben.*** Sie zeigen, wie tief die Wörter in den Körper reichen. Wir lesen nicht wie ein Scanner. Die Augen springen zwischen Buchstaben hin und her, bis sich das Gehirn ein Bild gemacht hat. Die Bedeutungen bewegen nicht nur den Verstand, sondern gehen tatsächlich ins Mark, messbar im Knochenmark oder der Milz. Lesen irritiert. »Unter diesem Gesichtspunkt«, schreiben sie, »ist das Lesen ein milde Form von psycho-somatischer Erkrankung.«

PPS

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de

* Remo Largo, Lernen geht anders (2010). Bildung und Erziehung vom Kind her denken. Hamburg

** Gerhard Roth, Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt (2011). Stuttgart

*** R. Schrott/A. Jacobs, Gehirn und Gedicht. Nachrichten aus dem Inneren des Kopfes (2011). München


Aus: Pädagogik 4/2011