Sitzenbleiben? Aufstehen!

Auf dem Laufsteg von Pop und Politik stolzierte in diesem Vorfrühling die Riege der Sitzenbleiber. Allen voran Obersitzenbleiber Stoiber. Dann Christian Wulff, Wowereit ist immer dabei, wie auch Westerwelle und Steinbrück. Man könnte in der Riege einen Beweis für die lockere Koppelung von Schulerfolg und Karriere sehen. Sie selbst wiederholt das Mantra: »Geschadet hat es uns nicht«. Hessens Volker Bouffier brachte die Apologie der Wiederholer in einer Zeitungskolumne auf den Punkt: »Wer das Sitzenbleiben abschafft, raubt den Kindern Lebenserfahrung.« Diese Belehrung über das Leben konnte nur noch Josef Kraus vom DL toppen. »Lehrer kämpfen für das Sitzenbleiben«, hieß die Schlagzeile über dessen Warnung vor »naiver Erleichterungspädagogik«.

Ausgelöst hatte diese Welle die rot-grüne Ankündigung, in Niedersachsen auf das Sitzenbleiben verzichten zu wollen. Das rief die Verfechter der »Lebenserfahrung« auf den Plan. Schreibt es Euch bitte hinter die Ohren, insistieren sie, mit dem Sitzenbleiben verschwindet auch die Leistung. So ist halt die harte, die einzig wirkliche Wirklichkeit. Der Mensch braucht diesen Riemen und wer sich nicht am Riemen reißt, der macht die Runde noch mal. Verstanden!

Was hart macht

Ohne diese Lebenshärte werde eben nur – wie heißt das Wort nochmal, das jetzt kommen muss? Genau, wird halt nur noch gekuschelt. Julia Klöckner, Bouffiers rheinland-pfälzische CDU-Nachbarin, die auch gerne Ministerpräsidentin wäre, vervollständigte das dürftige Sitzenbleiberweltbild mit der Antipode, dem Kuscheln. Diese träge, fast klebrige Art von Zärtlichkeit passt in die Kons-truktion, wonach das Antriebszentrum von Menschen nicht in ihnen und schon gar nicht zwischen ihnen sitzt, sondern irgendwo außerhalb. Frau Klöckner drückt es so aus: »Schule ohne Sitzenbleiben ist wie Fußball ohne Absteiger« und fügt im Chor der Sitzenbleiber hinzu, dass es eben ohne Anstrengung nicht gehe. Auch Anstrengung wird in diesem Kosmos außen installiert.

Was die Dame da so plappert, ist natürlich ein Hohn für alle, die gern Fußball spielen und keine Profilegionäre sind. Nur letztere spielen vor allem für ihren Marktwert. Aber auch bei den Profis gibt es kein elegantes Kombinationsspiel ohne Freude. Anstrengung steht dazu gar nicht im Widerspruch, zumindest so lange sie nicht von diesem inneren menschlichen Streben, über das wir von den Klassikern im Deutschunterricht so schöne Sätze gehört haben, abgespalten worden ist.

Eine andere Choreographie

Spaltprodukte unserer Bildungskultur sind »der Streber« und »der Sitzenbleiber«. Warum können wir nicht endlich dieses Zerrissene wieder zusammenbringen? Streben ohne Streber zu sein. Übungen wiederholen, ohne ein Wiederholer zu werden. Denn auch das Wiederholen gehört zum Lernen wie die Freude, der Eigensinn und eben auch das Streben. Dafür brauchten wir allerdings mehr als das allmähliche Abschaffen des Sitzenbleibens. Dafür brauchen wir eine andere Choreografie der Schule.

Während sich die Sitzenbleiber so kräftig zu Wort melden – und man von den Protagonisten des Sitzenbleibverzichts kaum noch was hört – kommt aus einer anderen Ecke der Ruf »Aufstehen«. Frank Schirrmacher zum Beispiel, Herausgeber der FAZ, nimmt sich in seinem Buch »Ego« das Monster Homo Oeconomicus vor. Dessen Religion eines absoluten Eigeninteresses betreibe die Erosion der gemeinsamen Welt, nicht nur der Umwelt. Wenn der Kapitalismus, so Schirrmacher, in die feinsten Kapillaren der Lebenswelt vordringt, könnte dieses Verwerten und Entwerten der Welt tatsächlich ein Endspiel einleiten. Schirrmacher stellt die Hannah Arendt-Frage, ob wir die Welt genug lieben, um sie überhaupt retten zu wollen.

Ein ähnlicher Ruf kommt von Richard David Precht. In seinem neuen Buch ruft er zur Bildungsrevolution auf: »Schaut man sich an, was in Menschen vorgeht, wenn sie ihre intrinsische Motivation aufgeben, dann kann man nur sagen: Sie verlieren die Herrschaft über sich selbst.« In seiner Kritik am Trimmen auf Außensteuerung und Egoismus erinnert er an den »Korrumpierungseffekt«. In einer Stanford-Studie wurden Kinder im Unterschied zur Kontrollgruppe für das Malen eines Bildes belohnt. Schon bei der Wiederholung des Experiments nach einigen Wochen hatten die Kinder aus der Belohnungsgruppe, wenn die Belohung nun ausblieb, deutlich geringere Lust zu malen. Ähnliches wurde bei Mathespielen festgestellt. Das ist der Skandal unseres Systems. Die tief verankerte Freude am Lernen, die menschliche Lernlust, wird ein Mittel zum Zweck. Wer hingegen überraschend belohnt wird, so zeigte die Stanford-Studie, verliert dadurch nicht seine Motivation. Das wäre auch der Unterschied von Geld und Gabe.

Hundepädagogik

Es ist ein bisschen so wie mit den Pferden. Deren »Natur« ja das Laufen ist und nicht das Springen über Hindernisse. Aber Zuckerbrot und Peitsche bringt die Pferde dazu, alles mitzumachen. Bei Hunden, die gern in der Erde scharren, vor allem bei Dackeln, gibt es eine treffliche Methode, ihnen die Lust daran auszutreiben. Sie dafür erst belohnen und dann die Belohnung aufkündigen. Diese Hunde buddeln dann nicht mehr.

PS
Am Tag der Abgabe dieses Manuskripts, am 6. März, ist die Aufmacherüberschrift der »Welt«: »Schüler möchten das Sitzenbleiben retten«. Nach einer Umfrage im Auftrag des Philologenverbandes wollten 85 Prozent der Schüler aufs Sitzenbleiben nicht verzichten. Sie fürchteten, ihre Leistungsbereitschaft würde dann sinken. Da sage noch mal einer, unser Schulsystem sei nicht wirksam.

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de


Aus: Pädagogik 4/2013