Restlaufzeiten

Vom Stuttgarter Hauptbahnhof leuchtet ein Zitat aus Hegels »Phänomenologie des Geistes« in die Stadt: »... dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist«. Ein amerikanischer Künstler hat es vor 30 Jahren anbringen lassen. Ausgerechnet am Stuttgarter Bahnhof. Es lohnt sich den 200 Jahre alten Philosophensatz genau zu lesen. Im ersten Teil steht »irren« als Verb, menschlich und so notorisch ambivalent, wie wir nun mal sind. Wird aber dieses Humanum gefürchtet und vermieden, dann kommt es zum »Irrtum selbst«. Zur Paradoxie von Irrtümern und Fehlern gehört, dass sie erst mit ihrer Vermeidung richtig gefährlich werden.

Am Stuttgarter Bahnhof wurde im vergangenen Jahr Politik zurückgewonnen, als sie in Deutschland zu verschwinden schien. Nach dem Wahlsieg der Grünen könnte in Baden-Württemberg nun der Raum für eine zivilgesellschaftliche Politik ausgeweitet und kultiviert werden. Energie und Bildung wären dabei zwei Felder, deren Verwandtschaft es erst noch zu entdecken gilt. Überstrahlt wird alles von der Verabschiedung einer Energiebeschaffung, die nur unter der Voraussetzung absoluter Fehlerfreiheit akzeptabel wäre. Nach dem Glauben der Industriegesellschaft an Perfektion, geht es nun um fehlertolerante Systeme und fehlerfreundliche menschliche Haltungen. Schulen und andere Bildungshäuser wären als kulturelle Kraftwerke zu betreiben, in denen die Generationen miteinander reagieren und dabei Energie freisetzen. Vielleicht sollte man sie sich als Inkubatoren von Subjektivität vorstellen.

Rückblick

Während des Wahlkampfs in Hamburg hatte ich mir Notizen für eine Kolumne über das Auswandern der Politik aus der Politik gemacht. Dieser Wahlkampf war empörend dumm. Wie kann es nur sein«, notierte ich, »dass Politik zu der am geringsten komplexen Veranstaltung weit und breit geworden ist?« Keine Partei, aber auch gar keine, hatte was zu sagen. Alles nur Sprüche. Und eigentlich gab es am 21. Februar in Hamburg auch nichts zu wählen. Ich ging widerwillig zur Wahl wie die meisten, die ich kenne. Man hatte eine Liste derer im Kopf, die man nicht wählen kann. Wer dort an letzter Stelle stand, an den verlor man dann doch noch seine Stimme, eine unwürdige Erfahrung tatsächlich seine Stimme abzugeben. Dabei ist es doch der Sinn von Politik, die Stimme zu ergreifen. Politik ist – wie die Bildung – eine Sphäre, in der Menschen sich selbst stimmen, so wie man ein Musikinstrument stimmt, um dann mit anderen zusammenzuspielen.

An der politischen Entropie hatte die verunglückte Schulpolitik großen Anteil. Denn es waren ja nicht vornehmlich die Mütter mit den hochgestellten, schwarzen Autos und den Gucci-Taschen, die zusammen mit ihren Rechtanwaltsmännern aus Blankenese die Primarschule zu Fall brachten. Die schwarz-grüne Bildungspolitik litt an einem performativen Widerspruch von Anfang an. Sie wurde als Kabinettspolitik im Stil der 50er Jahre betrieben. Strikt von oben nach unten. Am Kuhhandel aus den Koalitionsverhandlungen sollte es nichts mehr zu deuteln geben. So etwas will sich aber niemand mehr gefallen lassen. Denn viele wissen es inzwischen und die meisten ahnen es: Das Neue wächst von unten nach oben.

Fünfziger Jahre

Danach war das bildungspolitische Feld erst mal ausgelaugt. Die Grünen gaben es kleinlaut auf und als Schulsenator folgte ein blasser SPD-Mann, dem nichts mehr einfällt außer: »Wir stehen zum Schulfrieden ohne Wenn und Aber. An der Schulstruktur wird nicht rumgefummelt.« Wer bietet noch mehr Sound der 50er? Damals plakatierte die CDU alle vier Jahre »Keine Experimente!« Und das alles aus Angst vor der Angst, einen Fehler zu machen.

Diese Agonie wurde über Monate jeden Montag um 18 Uhr in Stuttgart vom Schwabenstreich unterbrochen. Trillerpfeifend, kochtopftrommelnd und debattierend hallte ein neuer Sound durchs Land. Dann kamen wunderbare ägyptisch- und nordafrikanisch-arabische Töne hinzu. Und schließlich der Krach und das Schweigen aus Fukushima. Weltbrand am Horizont. Das treibt nun den Lernprozess weiter. Ulrich Beck, der 1986 das Buch »Risikogesellschaft« geschrieben hat, fasst noch einmal zusammen: »Bei riskanten Technologien wie der Kernkraft besteht der Zwang, eine totale Irrtumslosigkeit zu behaupten.« Dazu passt eine Politik, die das Wort »Sachzwang« zu ihrem Lieblingswort gemacht hat. Eine Merkel wie auch schon ein Schröder schließen ihre Erklärungen am liebsten mit der Basta-Formel: Es gibt keine Alternative. Das ist das Gekrächze von der Selbstabschaffung der Politiker-Politik. Ihre Restlaufzeit hat längst begonnen.

Hannah Arendt

Politik heißt, es gibt Alternativen, und Politik heißt auch, was richtig ist, können wir so ganz genau niemals wissen. Deshalb müssen wir denken, argumentieren, streiten, ausprobieren und schließlich beobachten, was unser Handeln bringt. Hannah Arendt hat es am klarsten ausgedrückt: »Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln, weil man es nicht wissen kann. Es ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, dass dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen, in einem schwer zu fassenden, aber grundsätzlichen Vertrauen in das Menschliche aller Menschen.«

PS

Die Chancen stehen nicht schlecht, Politik neu zu gründen. Dazu gehören ebenso dezentrale Systeme mit regenerativer Energie, die sogenannten smart Grids, wie ein ähnlich gedachtes Bildungssystem, in dem die Macht von den Ministerien, Bürokratien und Ideologen, dieser ganzen immer verzichtbareren Priesterklasse, nach unten zur Intelligenz der Praxis verlagert wird. Alle Politik wird Klimapolitik.

PPS

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 5/2011