Hattie kommt

Das ist ja wohl der Harry Potter der Pädagogik, meint meine Nachbarin im Oldenburger Hörsaal A14 HSI, dem größten. Die Lecture wird auch in Nachbarräume übertragen. Und stolz kündigte die Vizepräsidentin der Carl von Ossietzky Universität den »prominentesten Bildungsforscher der ganzen Welt« an. Meine Nachbarin sagt, der hat ja ne Surferfrisur. Die Nachbarin ist vom STERN. Später wird sie schreiben: »In Oldenburg tritt ein schlanker Mann mit blond-gesträhnten Haaren vors Publikum, mit grünem Hemd und ohne Krawatte.« Mit dem Harry Potter Vergleich meint sie den Bucherfolg. Das Werk* wird erst ein paar Tage nach dem Ereignis in Oldenburg, wo einer der Übersetzer lehrt, ausgeliefert und schon hat der Verlag mit 5 000 georderten Exemplaren einen Platz unter den ersten Hundert der Bestseller. Drei Wochen später ist das Buch voller Tabellen und Datentorten auf Platz 34.

John Hattie aus Neuseeland, inzwischen in Australien lehrend und von dort die Schulen der Welt erforschend, wirkt für einen deutschen Hörsaal ungewohnt locker, optimistisch und, ja, auch visionär. Man spürt bald, dass dieser Mann, der sagt »I like numbers«, nicht nur Zahlen frisst. Immerhin, die Daten von 250 Millionen Schülern, bereits in 50 000 Studien aufbereitet und von 800 Metaanalysen destilliert, die hat er in seiner Meta-Meta-Zentrifuge ausgeschleudert.

Roll back?

In Deutschland hatten nur wenige das englischsprachige Original der Studie gelesen. Im Umlauf waren vor allem Interpretationen. Die sind ja noch einen Grat weiter von der Wirklichkeit des Lernens entfernt. Hattie wurde häufig benutzt und manchmal missbraucht. Er zeige, so hieß es, ordentliches Lehren sei eben doch wirksamer als all das neue Lernen. Und er beweise, dass es auf die Organisation des Schulsystems, ob gegliedert oder integriert, gar nicht ankomme. Aber Hattie hat nur Studien aus der angelsächsischen Welt verarbeitet, wo dieser deutsche Sonderfall unbekannt ist. Oder es wird die starke Wirkung von Instruktion herausgelesen und darin sogleich eine Rehabilitierung des Frontalunterrichts gesehen. Geflissentlich übersehen wird, dass Hattie feststellt, Schüler lernten desto besser, je weniger ihre Lehrer redeten. Das ist nicht gerade das, was man hierzulande unter Frontalunterricht versteht.

Die zumeist ungelesene Studie kam manchen Konservativen beim Zündeln im immer noch nicht beendeten deutschen Bildungskrieg gerade recht. Ein Geschoß gegen den eben erst entdeckten Vorrang des Lernens vor der Belehrung.

Kein Stigma

Tatsächlich geht es Hattie, das wurde bei seinem einzigen Vortrag in Deutschland klar, ums Lernen. Das Buch heißt ja auch so: »Lernen sichtbar machen«.

Demnächst wird es Hattie-Symposien, Dissertationen und viele Aufsätze geben. Hören wir Hattie live & unplugged in Oldenburg. Da zeigt sich zunächst eine starke Korrelation zwischen der Begeisterung, mit der er spricht, und dem, was er herausgefunden hat: Die größte Effektstärke hat die positive Selbsteinschätzung der Schüler. Hattie erzählt, wie ihm als dem Sohn eines Schusters in Neuseeland niemals ein Stigma in der Schule angeheftet worden sei. »Niemand redete mir ein, ich könnte nicht erfolgreich sein.« In Interviews verweist er auf die enormen Pisa-Verbesserungen von Polen, »schlicht und einfach, weil sie den selektiven Charakter ihrer weiterführenden Schulen abgeschafft haben.« Aber es stimmt schon, er hat etwas dagegen, Organisationsfragen hoch zu hängen, weil sie zumeist etwas von einer Ausrede hätten und davon ablenkten, »was sich zwischen Lehrern und Schülern abspielt«.

Wenn man ihm zuhört, denkt man, ein Genie, genauso wie Lessing es pries: Ein Mensch im Einklang mit der Welt. So sehr decken sich bei ihm seine Leidenschaft und die untersuchte Wirklichkeit, also die Ergebnisse seiner Studie. Oder hat sich da wieder mal jemand aus seinen Daten einen Maßanzug genäht? Egal. Für diesen Moment. Der Anzug passt.

So entscheidend die positiven Erwartungen der Schüler auf ihre Fähigkeiten und Leistungen sind, so wichtig sind für sie die Resonanz der anderen und deren Erwartungen, also die der Lehrer. Feedback. Das ist sein Hauptwort. Feedback ist aus Lehrersicht, »was man erhält, und nicht, was man gibt.« Also nicht das Urteil oder gar die Strafpredigt. Es geht um die Antworten der Schüler, die eine Lehrperson nicht nur zuzulassen, sondern die sie herauszufordern hat. Das sei pädagogische Professionalität. Feedback ermöglichen, das ist im Grunde für Hattie das Ethos des guten Lehrers. Die Schüler, fügt er hinzu, wollten Feedback mit Information, also Hinweisen für ihre nächsten Schritte und »genau zur richtigen Zeit.« Sonst schlagen sie es aus. Für Lehrer hingegen darf das Feedback, das sie erreicht, unscharf sein, gewissermaßen das Rohmaterial, aus dem sie Kritik, Korrektur und Klarstellung herauslesen. Lehrer müssen denken. Denken ist das Geschwister von Feedback.

Nein, ein Maschinist der Schulmaschine ist dieser John Hattie nicht. Lehrer sieht er als »Change Agents«, als Betreiber des Wandels und als Regisseure des Unterrichts. Und wenn Lehrer zu Lernenden werden, dann profitieren davon ihre Schüler. Es geht ihm um die Schüler, immer um die Schüler, denen die Lehrer etwas schulden.

PS
Ich hätte John Hattie gern mit Hannah Arendt zusammen gebracht, zumal das wichtigste deutsche Forschungszentrum zu Hannah Arendt an der Uni Oldenburg angesiedelt ist. Es ist ein Zufall, absolut ein Zufall, dass  dieses höchst virtuelle Rendezvous sich in diesem Heft zwischen dieser Seite und den Seiten 38 ff. ergeben kann.

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de

Anmerkung
* John Hattie: »Lernen sichtbar machen«. Überarbeitete deutsche Ausgabe von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Schneider Verlag Hohengehren: Baltmannsweiler 2013, 439 Seiten, 28 Euro.


Aus: Pädagogik 6/2013