Auf die Beziehung kommt es an

Leser dieser Kolumne wissen, dass sich ihr Autor zuweilen als eine Art Trüffelschwein versteht, das nach gelungenen Schulen sucht. Manchmal wird dieses Tier, das glaubt sich ganz gut auszukennen, überrascht. Da steht eine ältere Eiche. Sein Spürsinn glaubt erst nicht auf Neues zu stoßen. Und dann, was für ein Fest. Die Eiche heißt Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule und steht in Göttingen-Geismar.

Tischgruppen

Vor mehr als 30 Jahren habe ich eine Fernsehdokumentation über diese Schule gedreht. Sie wurde 1975 im Widerspruch zu den Lernfabriken gegründet, zu denen viele Gesamtschulen in kurzer Zeit geworden waren. Wolfgang Vogelsaenger, der heutige Schulleiter, erinnert sich an so eine Gesamtschule, in der er als Lehrer begann: 18 Parallelklassen. Die Göttinger Schule, zu der heute immerhin 1 500 Schüler gehen, wurde als Ensemble von überschaubaren kleinen Einheiten konzipiert. Sechs Klassen, die um einen Innenraum gebaut sind, werden von einem Lehrerteam betreut, das nur dort unterrichtet und den Stundenplan, seinen Tagesablauf, also sich selbst organisiert. Der Name dafür lautet »Team-Kleingruppen-Modell«.

Die kleinste Einheit sind Tischgruppen von jeweils sechs Schülern. Davon gab es früher vier und gibt es heute fünf pro Klasse. Sie sind so zusammengesetzt, dass nicht Freundinnen und Freunde zusammenkleben, sondern dass sich unterschiedliche Kinder gegenseitig herausfordern und helfen. Davon profitieren die Schwächeren und mehr noch die Stärkeren. Die Tischgruppe ist die Seele der Schule. Jede Tischgruppe trifft sich mit den Eltern und Lehrern viermal im Jahr jeweils bei einem anderen Schüler zu Hause, der Gastgeber des Abends ist. So läuft das seit mehr als 30 Jahren. Manche Lehrer haben im Jahr 20 solcher Abende. Ich hörte damals und auch heute keinen darüber klagen. Sie genießen ja den Ertrag, eine freundliche, kooperative Atmosphäre. In diesen Gruppen, sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther, liege das Geheimnis der Schule. Dort bilden sich Beziehungen und Haltungen. Die kann man nicht unterrichten. Man kann sie nur ermöglichen. Das sind Erfahrungen, die – das kann Hüther zeigen – im Frontalhirn gespeichert werden, wo sich die moralisch-ethische Reifung vollzieht. Und wenn Verantwortung, gegenseitige Hilfe und Lernfreude erfahren und zu einer Haltung werden, dann, so Hüther, ist das Bildung. Sie durchfärbt alles.

Die Göttinger Schule erhielt dieses Jahr mit sechs anderen den Deutschen Schulpreis. Der Bundespräsident überreichte ihr den mit 100 000 Euro ausgestatteten Hauptpreis. Das war pikant. Als Christian Wulff noch Ministerpräsident war, hatte die niedersächsische Landesregierung diese Schule kurzgehalten. Neugründungen von Gesamtschulen wurden sogar im Schulgesetz verboten. Aber Politiker können ihre Meinung ja in atemberaubenden Sprüngen ändern. Das müssen sie auch angesichts dieser Schule, die auf dem Weg von der Unterrichtsanstalt zum Lebens- und Lernort schon ganz weit ist und die mit Schülerleistungen brilliert. Das wird aufgeklärte Bürger nicht wundern. Es ist inzwischen eine Pfennigweisheit der Organisationspsychologen, dass eine gute Atmosphäre zu besseren Leistungen führt. Aber gegenüber Schulen gibt es in Deutschland immer noch den Verdacht, zu viel Wohlbefinden könne dem Ergebnis schaden.

Spitzenleistungen

Aus dieser Schule, die von Klasse fünf bis zum Abitur führt, kam im vergangenen Jahr die beste Abiturientin Niedersachsens.  Als im Jahr zuvor aus Versehen ein Abiturranking veröffentlicht wurde, stand die Reformschule auf Platz zwei im Bundesland, also vor allen Gymnasien, außer einem. Ist das nun »obwohl« oder »weil« sie auf Noten bis zum Ende der achten Klasse verzichtet und auch nicht nach Leistungsniveaus »differenziert«? Das dürfen in Deutschland nur fünf Schulen mit einer Ausnahmegenehmigung der Kultusministerkonferenz.

Als sich die Jury die Daten der Schule sah, rieben sich die Mitglieder die Augen. Von den 114 Abiturenten im vergangenen Jahr hatten nur 89 von der Grundschule eine sogenannte Gym-Empfehlung bekommen. Und von den 17 Kindern des Jahrgangs, die damals »Hauptschüler« in ihren Lernpass gestempelt bekamen, machten nur sechs den Hauptschulabschluss. Alle anderen waren besser und keiner blieb ohne Abschluss. Dabei erfolgt die Aufnahme der Schüler nach der Göttinger Normalverteilung. Dazu gehören auch zwei Prozent Kinder mit einer Empfehlung zur Förderschule.

Heimat

Mir ist keine Schule bekannt, an der so viele Lehrer beantragen über 65 hinaus zu bleiben. Manche Pensionäre haben Heimweh und übernehmen Aufgaben. Die Hilfe kann die Schule gut gebrauchen, denn 2,2 Lehrerstunden pro Schüler sind in den vergangenen Jahren auf 1,5 geschmolzen, rechnet Schulleiter Vogelsaenger beim Rundgang vor.

Im Gebäude findet man auf Schritt und Tritt Beispiele für Schulkultur. Kunst im Foyer. Ergonomische Stühle in den Klassen. Nur 1,5 Euro pro Schüler und Jahr werden für »Zerstörungsverschleiß« verbraucht. Oder die Mensa. Auch dort ist das Personal in »Teams selbstorganisiert« sagt der Schulleiter, wie auch die Sekretärinnen und Hausmeister. Was heißt das für die Mensa? Es wird nichts weggeschmissen. Jeden Freitag gibt es Reste. Gerald Hüther, der Königsberger Klopse wegen der Kapern gewählt hat und seit einiger Zeit die Schule berät, sagt, »das ist es«. Das sind die entscheidenden Haltungen im Alltag. Nicht über Ernährung quatschen und Fraß auftischen.

PS

Das ist nach mehr als 30 Jahren ein starker Eindruck: Aus einem faszinierenden Projekt ist eine im Alltag fundierte Haltung geworden.

PPS

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 7-8/2011