Wissen reicht nicht

Wir haben Musikunterricht an den Schulen. Und wir haben wohl zu wenig davon. Er sei von fraglicher Qualität, höre ich häufig. Es gibt Initiativen, diese Not zu lindern. Zum Beispiel persönlichen Unterricht für möglichst viele Kinder, etwa JEKI, »Jedem Kind ein Instrument«.
Aber eine Idee kommt nicht oder nur ganz selten auf. Wie es denn wäre, wenn es in den Schulen Musik gäbe? Wenn man morgens kommt und da spielt schon jemand. Jemand, der es gut kann, ein Meister auf seinem Instrument! Keine Konserven wie im Kaufhaus oder wie beim Friseur! Wie sieht es aus und wie hört es sich an, wenn Musik da ist, ja, wirklich da ist, und nicht nur vermittelt oder unterrichtet oder durchgenommen wird. Ich finde, man kann sich diesen Unterschied zwischen Sein und Vermittlung gar nicht groß genug vorstellen. Aber erst mal muss man ihn sich überhaupt vorstellen. Auf der einen Seite die Erfahrungen, die Handlungen und die Tätigkeiten und auf der anderen Seite das didaktische Extrakt, das häufig so sehr in die Länge gezogen wird, weil nichts anderes da ist.

Ich will Didaktik und Vermittlung nicht in Frage stellen. Oder doch, aber ich will sie nicht abschaffen und auch nicht in eine Entweder-oder-Opposition zum wirklichen Leben bringen. Die Schule ist nicht das »wirkliche Leben«. Sie sollte eine Steigerung davon sein. Unter die Haut gehende Übungen und eine hohe Lehrkunst. Die aber brauchen einen starken Alltag, oder sagen wir ein mannigfaltiges und durchwachsenes Sein. Oder in einem moderneren Vokabular: einen reichhaltigen Kontext.

Körper

Dieser Kontext für die Musik sind die Musiker, also begeisterte, auch leidende und nur deshalb zur Leidenschaft fähige Menschen. In ihren Körpern und Tönen ist etwas, das über die Sprache hinausgeht. Was bleibt davon, wenn die Musik in dünne kognitive Einheiten seziert wird, um sie in Häppchen zu vermitteln?

Oder nehmen wir die Kunst. Warum hängen in den Schulen kaum Bilder? Originale! Eines meiner stärksten Schulbesuchserlebnisse ist eines mit Kunst und Kultivierung in Dänemark. Ich habe es hier schon mal erwähnt. Man sollte die Geschichte einmal im Jahr erzählen, denn sie hält Selbsterkenntnis bereit.

Eine Gruppe deutscher Pädagogen also im dänischen Sonderborg. Schon der erste Eindruck verwirrt sie. So schöne Türklinken. Sind das Designerlampen an den Decken? Die Besucher blicken sich befremdet an. Kunst an den Wänden? Sogar lauter Originale. Und das in einer Berufsschule? Ist doch wohl ein bisschen übertrieben – oder?

Das sagen sie aber nicht. Sie fragen, was die Schule alles tun muss, damit die schönen Dinge nicht von Schülern zerstört werden. Morton Andersen, der dänische Lehrer, der die Delegation durch die Schule führt, kennt das schon, aber er wundert sich immer wieder. Warum fällt den Deutschen zu einer schönen Schule als Erstes Vandalismus ein? Warum passen gute Dinge und schöne Räume irgendwie nicht ins Bild?

Milieu

Andersen ist der Umweltbeauftragte seiner Schule. Auch darüber mosern die Deutschen. Sie sind doch gekommen, um etwas über skandinavische Pädagogik zu hören. Aber genau das ist sie. »Umwelt ist bei uns etwas anderes als bei ihnen.«, antwortet der Däne. »In Deutschland ist Umwelt, wenn irgendwo Öl ausläuft, bei uns bedeutet Umwelt, ein gutes Milieu zu schaffen.«

Langsam werden die verdutzten Deutschen neugierig. Wie kommt denn so viel Kunst an die Wände? Ganz einfach. Die Schule bekommt von der Kommune Geld, um Bilder von Künstlern aus der Region zu kaufen. Die Künstler werden auf diese Weise unterstützt und die Schulen werden kultiviert. Ach so. Als die Delegation Vorbereitungen für ein Schulfest mitkriegt, kommt aber prompt wieder diese Frage: »Aber dann hängen sie die Bilder doch sicher ab?« »Nein!« Andersen grinst. »Wenn wir die Kunst abhängen müssten, wenn wir festen,« antwortet er in seinem verschmitzen dänischen Idiom, »dann würden wir lieber nicht festen.«

Kehren wir noch mal zur Musik zurück. »Musik ist voller Gefühle. Ich muss diese Gefühle spüren, um sie dem Publikum mitteilen zu können«, sagt die großartige Cecilia Bartoli. Über ihre Entdeckung, den Komponisten und katholischen Theologen Agostino Steffani aus dem 17. Jahrhundert fährt sie fort: »Seine Musik versetzt mich in einen rauschhaften Zustand. Sie ist spirituell, aber sie hat auch etwas Dunkles. Singe ich seine Werke, ist es, als würde ich fliegen. Solche Musik braucht man zuweilen, um weiterleben zu können.«

Leib

Nun werden viele sagen, aber wir haben an unserer Schule leider keine Cecilia Bartoli. Aber habt ihr denn keine Gefühle? Wo bleibt bei euch die Erfahrung zu fliegen? Die Erfahrung von Schönheit, von Leiden und Leidenschaft? Diese Erfahrungen kann man nicht »vermitteln«, man kann sie nur ermöglichen. Das geht nur indirekt. Vermittlung aber will direkt sein und ist irgendwie körperlos. So aber kommt kein Hunger nach Wissen und Können auf. Und wenn zum Hunger auch noch Appetit und Geschmack kommen sollen, braucht es nicht den physikalischen Körper, sondern einen empfindenden Leib. Cecilia Bartoli vergleicht das alles mit der Minestrone ihrer Großmutter: »Gute Zutaten sind wichtig, einfache Zutaten, aber das Wichtigste ist die Leidenschaft. Du musst versuchen, den Tag mit Leidenschaft zu bestreiten: mit Leidenschaft singen, kochen, mit anderen Menschen verbunden sein.«

PS
Genau das versuchen wir vom 3. bis zum 6. Oktober in Bregenz bei der dritten Bildungsbiennale Bodensee des Archivs der Zukunft: »Orte und Horizonte – Bildung braucht Gesellschaft«. Informationen unter: www.adz-netzwerk.de

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de


Aus: Pädagogik 7-8/2013