Krieg und Frieden

Das Wort »Schulfrieden« kam vor dreieinhalb Jahren in Hamburg zur Welt. Schwarz-Grün versprach die Gräben aus dem mehr als 30-jährigen Bildungskrieg zu schließen. Aber am Ende stand kein Frieden, sondern Eskalation. Wo auch immer man versucht, diese alte deutsche Wunde zu schließen, sie bricht wieder auf. Selbst der jüngste Versuch von Frau Schavan, die CDU zum Abschied von der Hauptschule zu überreden, löst dort wieder diese uralte Untergang-des-Abendlands-Stimmung aus, mit der die Konservativen bisher immer aufheulten, wenn jemand das dreigeteilte Bildungsland in Frage gestellt hatte. Dabei ist die Hauptschule inzwischen mehr Stigma als Schule. Nun wird sie auf die künftige B-Fläche eines nur noch zweigeteilten Systems geschoben.

Es sind ja nicht nur ein paar Hardliner, bei denen jeder Versuch, die längst erodierte Bildungslandschaft neu zu ordnen, das diffuse Angstbild von der Einheitsschule auslöst. Einheitsschule? – Igitt. So ähnlich wie in den USA ein alle Bürger einbeziehendes Gesundheitssystem den Rechten nach Kommunismus riecht, ist auch hierzulande ein Schulsystem, das allen Kindern vorbehaltlos Zugehörigkeit verspricht, vielen verdächtig.
Einheit
Trotz des weiter glimmenden Krieges hat das Wort »Schulfrieden« Konjunktur. Oder gerade deswegen? Aber wie hässlich es geworden ist! Zumeist bedeutet es nur noch Waffenstillstand. Was auch sonst, wenn der Schulfrieden, wie jüngst in NRW auf zwölf Jahre und zuvor in Hamburg und Bremen per Gesetz auf zehn Jahre geschlossen wird? Ein Abkommen auf Zeit mag alles Mögliche bedeuten, nur nicht Frieden.

Die deutsche Wunde sitzt tief. Irgendwie ist Einheit bei uns kein wirklich positives Wort. Es erinnert viele Menschen weniger an »Deutsche Einheit« als an »Sozialistische Einheitspartei«. Oder an Einheitsschnitt, Einheitskluft, Einheitskost. Einheit löst Assoziationen an Zwang und Uniformität aus. Warum wird Einheit nicht als Rahmen für Vielfalt erlebt? Als Sicherheit, um Unsicheres zu wagen? Das sind Fragen an unser kollektives Gedächtnis. Es ist immer noch von Religionskriegen geprägt. Der 30-Jährige Krieg hatte das Land zu einem Hackbrett gemacht und eine Scheide zwischen den beiden Konfessionen gezogen. Und noch immer wirkt diese Formatierung, nach der die richtigen und von den nicht ganz so richtigen Menschen getrennt werden.

Evangelisch – katholisch

Mein bestes Beispiel dafür ist mein eigenes: 1948 in Göttingen geboren. Die Eltern Flüchtlinge aus Schlesien. Katholisch. Göttingen war evangelisch. Dass die Evangelischen nicht dazu gehören, erfuhr ich als Kind schon beim Einkaufen. »Wir kaufen nicht in evangelischen Geschäften!« Oh Gott, muss ich gedacht haben, evangelische Geschäfte, was ist denn das für eine Sünde! Ich war wohl vier oder fünf, da kam eine Tante, die evangelisch war, ins Krankenhaus. Daraufhin bin ich zum Beten für sie in die evangelische Johanniskirche gleich um die Ecke gegangen. Dort vermutete ich wohl den passenden Sender zum evangelischen Gott. So färbt das kollektive Gedächtnis das individuelle Hirn.

Weil eine Kolumne nicht viel Platz für Geschichten hat, die Kurzformel: In Deutschland wurde und wird Inklusion, also Zugehörigkeit, eher durch Exklusion, also per Ausschluss hergestellt. Man gehört dazu, weil viele andere nicht dazu gehören. Es mangelt an der unbedingten Zugehörigkeit, Inklusion durch Inklusion, mit Freundlichkeit, Vertrauen, ja Berührung. Deutsche Zugehörigkeit ist begleitet von vielen Wenn-dann-Sätzen und noch mehr Abers. Sie ist von Misstrauen verstimmt und sie hat einen starken Schuss Misanthropie. Der Misanthrop war ja in der Antike jemand, der andere nicht für würdig fand, mit ihm zusammen zu leben.

Garten?

Warum fällt es den Deutschen so schwer sich die Bildungslandschaft als Einheit, aber nicht einheitlich vorzustellen? Etwa wie Gärten mit verschiedenen Pflanzen und ganz unterschiedlichen Düften? Derzeit läuft alles eher auf forcierte Einfalt hinaus. Das Gymnasium A, auf das alle wollen, und ein Volksgymnasium B, auf dem man vielleicht auch Abitur machen kann. Gymnasium riecht einfach gut. Aber ist das ein Konzept? Die Alternative: Schulen werden endlich eigensinnig und verschieden, so wie die Kinder und Jugendlichen und auch die Lehrerinnen und Lehrer eigen und verschieden, also Individuen sein dürfen, ja sollen. Die allmähliche Entdeckung des Vorteils, verschieden zu sein, braucht allerdings das Versprechen von prinzipieller Zugehörigkeit und einen verlässlichen Rahmen, der Einheit stiftet. Nur so entgeht man der dumpfen Einheitlichkeit und der zu Recht gefürchteten Entropie.

Frieden

Die Befriedung des verwüsteten Schlachtfelds Bildung kann nicht nur eine Sache der Politiker sein. Vielleicht sind sie zu gar nicht mehr in der Lage als zu einem Waffenstillstand? Er wäre immerhin eine Voraussetzung dafür, tatsächlich Frieden zu schaffen. Was wäre also Frieden in den Schulen? Zunächst eine andere Debatte. Sie führt wieder zu den Prägungen und Traumatisierungen des kollektiven Gedächtnisses. Starke Formatierungen der Schule kamen vom Arbeitshaus und Krankenhaus, aus Kirche, Kloster und Kaserne. Wie wäre es denn mit Küche, Labor und Werkstatt? Mit Garten, Übungen und Meditationen, mit Tanzboden und Theaterbühne? Was wären das für Schulen mit dem Ziel, dass am Ende alle Verschiedenes wissen und anderes können, verbunden von Gemeinsamem und gestärkt mit Gemeinsinn?

PS

An diesem Thema übrigens arbeiten wir vom 14. bis 16. Oktober in Bregenz beim Kongress »Arche Nova – Die Bildung kultivieren« – www.adz-netzwerk.de

PPS

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 9/2011