PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Von der Hunde- zur Katzenschule
Viele können das Wort nicht mehr hören. Ein bestimmter selbstgerechter Sound tut weh: Pisa. Was die Studie nicht alles beweisen soll. Dabei hält sie uns Spiegel vor. Zunächst blickte es ja nur irritiert oder erschrocken aus ihm zurück. Inzwischen sieht man überwiegend selbstgerechte Gesichter. Sie plappern Antworten und Antworten und Antworten. Kaum neugierig , also etwas lernbehindert, outen sich viele als Teil des Problems. Nicht nur von Schülern kann man doch verlangen, dass sie Textpassagen verstehen, die »in starkem Widerspruch zu den eigenen Erwartungen stehen«. So definiert Pisa die höchste Lesekompetenz. Auf der schwächsten Stufe würden nur »offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt«. Der Gebetsmühlesatz, »Pisa lehrt,« stimmt selten. Wir lernen aus Pisa. Vielleicht. Und beim Lernen stellt sich immer auch die Frage, wer lernt? Was im Mund des einen Plattitüde ist, zeugt bei anderen von Erkenntnis.

Kultur

»Das Konzept ›Belehrung‹ darf nicht länger im Mittelpunkt stehen. Es ist das Unterrichtsprinzip des auslaufenden Industriezeitalters.« Schreibt der Handwerkstag Baden-Württemberg. Er verlangt eine neue Kultur in den Schulen und fängt selbst mit der Erneuerung seiner Position an. Bravo. Zunächst werden zehn Anforderungen an die Schule formuliert: Sie soll leistungsstark sein und fördern. Man soll Fehler machen dürfen. Und Lehrer sollen nicht als hochfrequente Sender ihre Schüler zu passiven Empfängern konditionieren. Kinder wollten lernen und würden doch in der Schule mehr und mehr lernmüde. »Das Kernproblem ist in Deutschland, dass der Lernprozess nicht individuell an den Entwicklungsstand der Schüler gekoppelt ist. Statt dessen wird nach einem Einheitskonzept unterrichtet.« Die Schlussfolgerungen aus ihren zehn Punkten waren den Handwerkern, wie die Autoren berichten, zunächst nicht klar. Sie wollten dem Geist der Schule auf die Spur kommen. Und der schwebt bekanntlich nicht über dem Ganzen, sondern der entsteht mitten drin, im Alltag und in der Organisation der Schule. Daraus folgt für sie nun, das zerklüftete, mehrgliedrige deutsche Schulsystem umzubauen. Ziel des Handwerkstags Baden Württemberg, der 120.000 Betriebe vertritt, ist eine Schule für alle bis zu Klasse 9. Sie wird »Grundstufe« genannt.

Invaliden

Natürlich wollen die Handwerker auch deshalb eine andere Schule, weil sich bei ihnen die Invaliden unserer Schulsystems sammeln. Nur der Hälfte der 15-Jährigen wird die Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsausbildung zugesprochen. Anders als in manchen früheren Verlautbarungen wird die Schuld nicht bei den Jugendlichen gesucht, sondern in der Art wie in D.land Schule gemacht wird. Der Vorschlag: statt des horizontalen, dreigliedrigen Systems, drei aufeinander aufbauende Stufen. Zuerst eine neue Vorschule. Dann folgt die neunjährige »Grundstufe«. In der dritten Stufe schließlich trennen sich die Wege in ein allgemeinbildendes Gymnasium, ein Berufsgymnasium und in die duale Berufsausbildung.Das Wort Gesamtschule wird vermieden. Es ist ja in Deutschland kontaminiert. Gesamtschulen werden von Finnland bis Japan, von Schweden bis in die USA von allen Kindern bis zum 14. oder 16. Lebensjahr gemeinsam besucht. Das will das Handwerk aus dem Südwesten nun auch.

Einen ähnlichen Denkweg nimmt auch die Bertelsmannstiftung in ihrem Memorandum »Wir brauchen eine andere Schule«. Eine »bildungspolitische Revolution« sei es, wenn in Deutschland endlich das Selbstverständliche entdeckt und praktiziert würde. Wie den süddeutschen Handwerkern, geht es dem globalisierten Think Tank aus Gütersloh um ein paar Grundsätze, hinter die man nicht mehr zurück darf: »Belehren im engeren Sinne ist gar nicht möglich.« Also muss die Schule Gelegenheiten und Anreize zum Lernen »als einem aktiven und höchst individuellen Prozess« schaffen. Und schließlich: in der »innovativen Schule« seien »alle Lerngruppen heterogen«. Dort sei es einfach »nicht mehr notwendig und auch nicht mehr möglich«, dass Schüler wegen ihrer Schwierigkeiten »in eine andere Schule wechseln«. Man kann sich vorstellen, wie viele Bleistifte abgekaut wurden, um das Wort Gesamtschule zu vermeiden. Aber auf das Wort kommt es nicht an. Tatsächlich sind die deutschen Gesamtschulen ja im internationalen Sinne gar keine.

In den nächsten Monaten wird es darauf ankommen, das Gesamtschultabu, auf das sich eine große Koalition aus Politik, Wissenschaft und selbst GEW verständigt hat, zu durchbrechen, ohne die alten Schlachten erneut zu inszenieren. Dass die niemand will, ist richtig. So geht es nun um zweierlei: Den Blick auf andere Länder richten und neue, ungewöhnliche Bündnisse arrangieren. Dass das Handwerk in Baden-Württemberg der Tabubrecher ist, gibt nicht nur zu denken, das lässt auch hoffen.

P.S

Ein unverfängliche Beschreibung des Unterschieds der Schule vor und nach Pisa gibt die Pädagogin, Unternehmensberaterin und Stifterin in Sachen Bildung, die Kaufhauserbin Helga Breuninger, übrigens aus Baden-Württemberg: Die alte Schule nennt sie Hundeschule. Dort lernte man, an der Leine zu gehen oder in Rudeln hinter dem Leitwolf her zu trotten. Die neue Schule soll eine Katzeschule sein. Katzen sind unverbesserliche Individuen. Man darf sie nicht beleidigen. Man muss sie mögen und dann finden sie ihren Weg, notfalls von Flensburg nach Passau.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers(at)gmx.de