Alternativen zur 45-Minuten-Stunde

Alternativen zur 45-Minuten-Stunde
Erfahrungen und Anregungen für eine veränderte Praxis

Manche Dinge in der Schule sind so selbstverständlich, dass man sie bewusst kaum noch wahrnimmt: Wie sehr man im 45-Minuten-Raster des Schultages gefangen ist, merkt man oft erst, wenn die Routinen gebrochen werden. Schon der Ausfall der Schulglocke, die den Tag in der Schule aufteilt, kann eine ganze Schule aus dem Takt bringen. Gibt es überhaupt – realistische – Alternativen zum hergebrachten Stundenschema?

Kaum etwas ist so fest in der schulischen Tradition verankert und gleichzeitig auch immer schon so umstritten wie die (deutsche) 45-Minuten-Stunde. Schon über ihren Ursprung gibt es Spekulationen: Führen die einen sie zurück auf die mittelalterlichen Klosterschulen, in denen nach 45 Minuten eine Viertelstunde gebetet werden sollte, sehen andere ihren Beginn am 2. Oktober 1911, als in Preußen die 45-Minuten-Stunde offiziell eingeführt wurde und die 60-Minuten-Stunde ablöste. Die 45-Minuten-Stunde ist auf jeden Fall schon gut ein Jahrhundert für Schüler, Lehrer, Eltern und Bildungspolitik so etwas wie ein Skelett der (deutschen) Schule, das den ganzen Organismus zusammenhält – oder noch schlimmer: Sie ist die zentrale Verrechnungs- und Währungseinheit, auf die sich Handeln, Rechte und Pflichten beziehen.

Natürlich hat es, teilweise von Anfang an, Kritik an der 45-Minuten-Stunde gegeben (zu viel Hetze, Häppchenlernen, Überbelastung der
El­­tern …). Und es gab auch immer Versuche, andere Modelle oder Organisationsformen umzusetzen: So wurden in Schulen, die einen geringen Anteil an Fachunterricht haben oder in denen Lehrer in derselben Klasse eine Reihe von Fächern unterrichten sollen, die starren Grenzen der 45-Minuten-Stunde zumindest intern aufgelöst, Lehrkräfte und Schüler konnten ihren eigenen Rhythmus finden. Und auch in reformpädagogischen Schulprojekten stand die Frage einer alternativen zeitlichen Organisation des Schulunterrichts immer ganz oben auf der Tagesordnung.

45-Minuten-Stunde: Der Regelfall – und ein Erfolgsmodell
Aber auch Einwände und Alternativmodelle haben nichts daran ändern können, dass die 45-Minuten-Stunde der Regelfall der Zeitorganisation in der Schule wurde – und ein Erfolgsmodell. Das hängt nicht nur an der Gewöhnung oder Tradition. Sondern es liegt wesentlich daran, dass die 45-Minuten-Stunde im bestehenden Schulsystem und bei den geltenden Rahmenbedingungen sehr funktional und wirkungsvoll ist. So hilft es insbesondere, den Schultag für alle Beteiligten in passende und »unkritische« Zeitpakete einzuteilen, die einerseits lang genug sind, um Erfolgserlebnisse zu haben, andererseits aber kurz genug, um Unterricht noch auszuhalten, der schlecht ist oder nicht gelingt.
Die Zersplitterung des Schultages in eine begrenzte Zahl von Dreiviertelstunden (in der Regel vier bis sechs »Stunden«) hat neben dieser zeitlichen Gliederung der Schüler- und Lehrerarbeit in verdauliche Einheiten aber noch eine Reihe anderer Funktionen. Sie

  • schafft durch die schnelle Taktung ein Gefühl von Geschäftigkeit und Anstrengung: Es geschieht immer etwas, auch wenn gar nichts getan und erst recht nichts gelernt wird.
  • zwingt zur Unterordnung unter einen eng und klar strukturierten Rhythmus. Dass schafft Unterordnung, Disziplin, Gewöhnung an Warten, Erwarten und Aussitzen.
  • ermöglicht durch die zeitbegrenzten Einsatzmöglichkeiten den Einsatz sehr unterschiedlichen Personals: Je kürzer Stundeneinheiten sind, umso eher können auch schwache Lehrkräfte oder Schüler in Kauf genommen werden.
  • garantiert einen möglichst kurzen und ausschließlich durch Arbeit geprägten Aufenthalt der Schüler und der Lehrkräfte in der Schule. Dadurch können Probleme, die außerhalb der Arbeit liegen, persönliche und soziale Belange kostengünstig ausgeblendet werden. Je länger Lehrkräfte und Schüler in der Schule sind und je intensiver sie zusammen sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schule sich auch nichtunterrichtlichen Aufgaben widmen muss.
  • ist die Voraussetzung für einen optimierten und dichten Personaleinsatz, der sich im Wesentlichen nur auf die eigentlichen Unterrichtsstunden konzentrieren kann. Das bietet für Stundenplanung viele Möglichkeiten.
  • sorgt dafür, dass man sehr vielen Fächern einen – wenn auch oft nur kleinen – Zeitanteil zuweisen kann. Die Vielzahl von Kurzstunden macht es möglich, eine Breite des Bildungs­angebots vorzutäuschen, das in den einzelnen kurzen Einheiten aber gar nicht realisiert werden kann. Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Fach wie Biologie, Musik oder Kunst ein halbes Jahr wöchentlich 90 Minuten unterrichtet wird – und dann wieder ein oder zwei Jahre nicht (Epochenunterricht)?
  • gibt einen zuverlässigen Rahmen ab für die Konstruktion von Lehrmitteln (deren Elemente auf 45-Minuten-Raster angelegt sind) und Klassenarbeiten.
  • regelt den Rhythmus von Arbeit und Freizeit und sorgt so dafür, dass die Ansprüche an die zu erwartenden Leistungen klar definiert werden können (»Die Pause ist um. Jetzt wird gearbeitet!«).
  • hilft die Ressourcen in der Schule zu verteilen, weil nach Plan dann bestimmte Räume, Instrumente oder Freiräume genutzt werden können. Rigorose Zeitraster in der Schule machen die Ansprüche einzelner Gruppen berechenbar.

Mit den 45-Minuten-Einheiten ist mehr verbunden als nur die Tatsache, dass der Schultag in kurze Zeiteinheiten zerstückelt ist. Sie geben den Rahmen vor, wann etwas geschieht, in welcher Abfolge, Ordnung und Häufigkeit es vorkommt und wie lange es dauert. Das macht es schwer, die Arbeit und Arbeitszeit nach der anstehenden Aufgabe zu richten, die Aufgaben müssen sich vielmehr immer nach der Zeit richten. Es geht für Schüler und Lehrkräfte in einem so strukturierten Schultag nicht darum, einen passenden oder gar eigenen Arbeitsrhythmus zu finden, sondern sich auf den Rhythmus der Schule einzustellen.

Zersplitterung in Stundenhäppchen:
Endlich wieder in der Diskussion

In der jüngsten Zeit ist die 45-Minuten-Stunde endlich wieder in die Diskussion geraten, es wird nach Alternativen gesucht, und dies teilweise sogar mit den gleichen Argumenten und Modellen wie in der Diskussion vor fast 100 Jahren. In dem Augenblick, wo Ganztagsschule und -unterricht verstärkt Einzug ins Schulsystem halten (im Rahmen der Verkürzung der Schulzeit oder als bildungspolitische Reform), erscheint die Unterteilung des Schultages in 45-Minuten-Häppchen als nicht länger vertretbar und auch nicht machbar: Die Belastung der Schüler durch schnell aufeinanderfolgende und viele Unterrichtsfächer ist hinderlich für den Lernerfolg und vor allem das Lern- und Arbeitsverhalten der Schüler. Durch ständigen und häufigen Fächerwechsel im Laufe eines Schultages gehen Zusammenhalt und Konzentration verloren.

Der Anspruch an Individualisierung von Unterricht und das Verlangen nach Förderkonzepten erweisen sich als schwer vereinbar mit einem starren und eintönigen Unterrichtsrhythmus. Je stärker individuell gefördert werden soll, umso mehr gerät auch der vorgegebene Rahmen in die Kritik

Für eine möglichst wirkungsvolle und effektive Nutzung der Unterrichtszeit – wie sie in letzter Zeit immer wieder als ein zentrales Kriterium für guten Unterricht betont wurde – scheint die 45-Minuten-Stunde das am wenigsten geeignete Modell zu sein: Für auf Selbstständigkeit und Eigenarbeit angelegte Unterrichtsphasen wie für Vertiefungen erscheint sie zu kurz. Für kurze Lern- oder gar Übungs- bzw. Wiederholungsphasen erscheint sie zu lang. Außerdem entstehen durch häufige Übergänge/Pausen zwischen den 45-Minuten-Stunden Leerläufe, die durch größere Blockung vermindert werden könnten.

Je mehr der Schultag bzw. der Lerngang (über ein längeres Projekt hinweg) in den Blick geraten, umso deutlicher werden die begrenzten Möglichkeiten, mit kurzen Stundenzeiten eine Rhythmisierung des Stundenplans zu gestalten.

Die Suche nach Alternativen: Erfahrung und Experiment
Obwohl die 45-Minuten-Stunde ein zentrales Element der Schule ist, gibt es keine gründlichen (bzw. empirischen) Untersuchungen oder Vergleichsstudien über ihre Effekte und Wirkungen (z. B. auf den Lernerfolg). Dies gilt übrigens auch für die Alternativen zur 45-Minuten-Stunde. Solche Effekte und Wirkungen sind ja auch relativ schwer eindeutig festzustellen, da jede Form der zeitlichen Gliederung des Schultages Einfluss hat auf sehr unterschiedliche Bereiche der Schule, u. a. auf:

  • die inhaltliche Arbeit und die Lernprozesse der Schüler,
  • den Lernumfang und die Lerntiefe,
  • die physischen und psychischen Anforderungen an Lehrkräfte und Schüler,
  • die für den Unterricht effektiv zur Verfügung stehenden Zeitkontingente,
  • die Arbeits- und Sozialformen im Unterricht,
  • die Organisation der Schule, der sozialen Kontakte,
  • die Zufriedenheit und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Lehr­­kräfte und Schüler.

Wer sich mit der 45-Minuten-Stunde auseinandersetzen und nach Alternativen suchen will, muss beachten, dass es kein objektiv oder gar generell »bestes« Modell der zeitlichen Gliederung eines Schultages gibt. Es kann nur um die »Passung« der zeitlichen Gliederung des Schultages und auch der Schulwochen/-monate zu den Zielvorstellungen gehen. Entscheidungen für oder gegen eine 45-Minuten-Stunde werden oft pragmatisch getroffen, sie sind aber immer auch (oft unausgesprochener) Ausdruck einer pädagogischen Überzeugung oder politischen Willens.

Deshalb ist es wichtig, sie genau auf ihre Implikationen und Wirkungen zu überprüfen und zu untersuchen, welche Wirkungen sie auf die Arbeit und das Leben von Schülern und Lehrkräften haben.

Leitfrage: Nicht Minuten, sondern: Starke oder schwache zeitliche Strukturierung?
Entscheidend bei dieser Überprüfung ist dabei nicht das Zeitraster oder die Einteilung des Unterrichts an sich, sondern die Frage, wie durch die zeitliche Organisation die Strukturierung der Schularbeit erfolgt, welche Konsequenzen für das Lehren und Lernen zu erwarten sind. Dabei ist zeitliche Strukturierung deutlich mehr als nur die bloße Aufteilung eines Schultages in Schulstunden oder die Zuweisung von Zeitanteilen.

Zu unterscheiden ist nach Westlund (2007, vgl. Abb.1) grundsätzlich zwischen klar vorgegebener/starker und offener/schwacher Strukturierung, wobei offene Strukturierungsformen generell längere Unterrichtsstunden voraussetzen als klar vorgegebene Strukturierungen und unterschiedliche Zeitkontingente und Organisationsformen für einzelne Jahrgänge oder Fächer anzustreben sind.

Zur Überprüfung eines Zeitrasters für die Schule gehört aber nicht nur, welche Auswirkungen und Möglichkeiten es bietet für Schüler. Ebenso wichtig zu untersuchen ist auch, welche Konsequenzen starke oder schwache zeitliche Strukturierungen für die Arbeit von Lehrkräften haben. Eine offene(re) Strukturierung könnte vieles in Frage stellen (vgl. Westlund 2007, S. 133):

  • Warum muss Schule eigentlich immer um 8 Uhr beginnen und mittags aufhören?
  • Warum müssen alle Schüler zusammen den Schultag beginnen oder beenden?
  • Warum müssen alle Wochen den gleichen Stundenplan haben?
  • Warum muss am Anfang des Jahres schon festgelegt werden, wie viele Stunden ein Fach wann haben wird?
  • Warum müssen bestimmte Themen immer zu einem bestimmten Zeitpunkt im Schuljahr bearbeitet werden?
  • Warum können Schüler und Lehrer eigentlich nicht in den Ferien in der Schule arbeiten?
  • Warum gibt es bestimmte Fächer nur in bestimmten Jahrgängen und mit einer bestimmten Stundenzahl?
  • Warum muss jedes Fach in jeder Woche unterrichtet werden? Ist das wichtig, um die Lernziele zu erreichen?

Je mehr man die gewohnte Struktur in Frage stellt, umso deutlicher wird auch, wie viel Sicherheit sie oft bietet – als Rahmen, als Tradition, als Rhythmus. Deshalb sind Veränderungen der zeitlichen Organisation in der Schule immer ein bedeutender Eingriff, auch mit der Gefahr des Scheiterns oder der Überanstrengung. Sich nicht an Veränderung von etwas zu wagen, das als problematisch empfunden wird, wäre aber mindestens genauso gefährlich.

Erfahrungen für Veränderungen der 45-Minuten-Stunde
In diesem Heft sollen unterschiedliche Erfahrungen aus Schulen über die zeitliche Einteilung des Schultages – im Zusammenhang mit schulischen Entwicklungs- und Arbeitsprozessen – vorgestellt werden. Diese Erfahrungen können Anregung sein, die eigene Praxis auf den Prüfstand zu stellen. Die Bandbreite der Alternativen zur gängigen Stundenpraxis reicht dabei von einer durchgehenden Veränderung der Dauer der Schulstunden (auf 60, 80 oder 90 Minuten) über die Flexibilisierung der Dauer innerhalb eines Schultages oder Stundenplans bis hin zu weiterführenden Zeitkonzepten – häufig mit reformpädagogischem Anspruch – der Auflösung der traditionellen Stundenstruktur des Schultages.

Zuerst stellt Gerhard Fischer in seinem Beitrag den Veränderungsweg in seiner Schule von der klassischen Stundeneinteilung zu einem 60-Mi­nuten-Modell vor. Entscheidende Ausgangspunkte für die neue Konzeption des Zeitrasters waren dabei – und das ist in vielen Modellen so – nicht nur Druck (Wechsel von G9 zu G8), sondern auch die Initiative des Kollegiums und die Auseinandersetzung mit den Konzepten der Jenaplanschule in Jena. Deutlich wird insbesondere, wie organisatorische Veränderungen und pädagogische Entwicklungen zusammenspielen und wie so die inhaltliche Arbeit und die Lernprozesse der Schüler unterstützt und verbessert werden können.

Im Beitrag von Alexander Schnütgen ist der Ausgangspunkt für die Veränderungen eher die Unzufriedenheit mit der häufig unzureichenden »Lerntiefe« des Unterrichts, die die Schule dazu bringt, ein Experiment zu wagen, dessen Ausgang ungewiss ist. Durch Veränderung des Zeitrasters gelingt es, Schülern und Lehrkräften mehr Zeit für das Durchdringen der Inhalte und die Bearbeitung von Aufgabenstellungen zu geben. Dass eine umfangreiche Evaluation das Vorhaben kritisch begleitet, unterstützt dessen Absicherung und Weiterentwicklung.

Wie die für Unterricht zur Verfügung stehende Zeit gerade für Fachunterricht effektiv genutzt werden kann, dieser Frage geht Axel Jürgens in seinem Beitrag über das Aufbrechen der 45-Minuten-Struktur im Geschichtsunterricht nach. Hier sind es vor allem flexible zeitliche Organisationsformen, die helfen, die notwendige Zeit für das Lernen vor Ort zu schaffen und Zusammenhänge zu stiften.

Über die Grenze der einzelnen Fächer hinaus auf die Ebene der gesamten zeitlichen Organisation der Schule geht das Hansagymnasium in Stralsund. Ilona Vierkant geht in ihrem Beitrag auf die allmähliche Entwicklung eines Konzeptes der Rhythmisierung ein, das starre Lernzeiten und -formen auflöst und im Stundenplan 80-Minuten-Stunden plus flexible Lernzeiten organisiert, den Rahmen für soziale Kontakte und Zusammenarbeit verändert.

Borowski u. a. setzen sich dann in ihrem Beitrag auseinander mit der Frage, wie im Unterricht wirklich auf der Ebene »Tiefenstruktur« mit Schülern gearbeitet werden kann und welche zeitliche Rahmung dafür erforderlich ist. Sie können dabei zurückgreifen auf eine umfangreiche Studie über den Physikunterricht, die betont, dass im starren 45-Minuten-Raster kein guter Fachunterricht möglich sei.

Einen umfassenden Ansatz stellt Barbara Hanusa im abschließenden Beitrag des Thementeils vor. Hier geht es um die Auflösung des eng strukturierten Fächer- und Zeitkanons an der Ecole d’humanité und die Schaffung thematisch gebundener Abschnitte, in denen die »Einwurzelung« der Schüler möglich ist.
Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass es sich um Zwischenstände handelt, um Experimente auf dem Weg, Zeit und Lernen in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen.

Literatur

  • Westlund, Ingrid (2007): Elevernas tid och skolans tid. Malmö

Dr. Gerhard Eikenbusch, Jg. 1952, ist Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK und Leiter der Deutschen Schule Stockholm.
Adresse: Karlavägen 25, 11431 Stockholm/Schweden
E-Mail: mail(at)eikenbusch.info


Aus: Pädagogik 3/2010