Binnendifferenzierung konkret

Pädagogischer Anspruch, didaktisches Handwerk, Realisierungschancen

Warum ist Binnendifferenzierung für viele Lehrerinnen und Lehrer ein Reizwort? Handelt es sich dabei um einen in der Praxis kaum einlösbaren Anspruch? Wie kann Unterricht sehr unterschiedlichen Begabungen, Lernbedürfnissen und Interessen auf Seiten der Schüler gerecht werden, ohne die Lehrenden hoffnungslos zu überfordern? Ein Versuch, begrifflich zu klären und Erwartungen realistisch zurechtzurücken.

Ein Blick 15 Jahre zurück: Was hat sich geändert?

Im Jahre 1995 habe ich eine Stichprobe praktizierender Lehrerinnen und Lehrer befragt, wie sie es in ihrem eigenen Unterricht mit Binnendifferenzierung halten. Dabei handelte es sich durchweg um engagierte Vertreter ihres Berufs, die sich freiwillig zur Teilnahme an dieser Befragung bereit erklärt hatten. Die Ergebnisse – wenn sie auch nicht als statistisch repräsentativ gelten können – erhellten blitzlichtartig überwiegend skeptische, im Einzelfall allerdings stark voneinander abweichende Einstellungen zur inneren Differenzierung; zudem spiegelten sie sehr unterschiedliche Praxen wider, sowohl zwischen als auch innerhalb der gängigen Schultypen.

»Innere Differenzierung gibt es nicht, außer in den Köpfen von Hochschullehrern« – so die Aussage eines Gesamtschullehrers, Inhaber einer Funktionsstelle als Didaktischer Leiter. Eine Klassenlehrerin von gymnasialen Fünftklässlern äußerte sich: »Für innere Differenzierung sehe ich keine Notwendigkeit. Ich will doch die Unterschiede zwischen den Kindern nicht noch vergrößern, die sollen am Gymnasium doch alle das Gleiche lernen!« Eine Realschullehrerin gab als Grund für ihre Ablehnung binnendifferenzierender Maßnahmen an: »Ich hoffe, ich sag das für viele: Die Angst des Lehrers, den großen Zügel zu verlieren, ist wahrscheinlich unendlich groß!«

Natürlich gab es auch andere Stimmen – vornehmlich von Grund- und HauptschullehrerInnen, teilweise auch von Lehrern an Schulen mit besonderem pädagogischem Anspruch, wie etwa der Bielefelder Laborschule. Mit aller Vorsicht habe ich die damals erhaltenen Informationen zu folgendem Gesamtbild verdichtet:

  • An vielen Grundschulen finden sich Unterrichtsphasen mit Binnendifferenzierung als gängige Praxis. Dabei wird häufig auf Formen »Freier Arbeit«, u. a. auf Tagesplan- oder Wochenplanarbeit zurückgegriffen. Die Lehrerinnen, die dies praktizieren, kennen diese Verfahren nur selten aus ihrer akademischen Ausbildung, eher aus praxisorientiert gestalteten Lehrerfortbildungsveranstaltungen und durch den Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen.
  • An Realschulen und Gymnasien ist Binnendifferenzierung die große Ausnahme; gegenüber freien Arbeitsformen gar herrscht tiefe Skepsis.
  • An Haupt- und Gesamtschulen ist das Bild uneinheitlich: Häufig wendet man sich erst unter äußerem Problemdruck, wenn alle herkömmlichen Mittel der Motivierung und Disziplinierung nicht mehr greifen, von einem durchgängig gleichschrittigen Unterricht ab und experimentiert mit binnendifferenzierenden Verfahren.
  • Die Lehrerinnen und Lehrer, die Binnendifferenzierung praktizieren, berichten einerseits zwar über erhöhte Arbeitsbelastung, andererseits aber auch mehrheitlich über größere Zufriedenheit – bei den Schülern und in der Folge bei sich selbst. Als hinderlich werden empfunden: zu große Klassen, Zeitnot, üblicher 45-Minuten-Takt, zu wenig Austausch und Unterstützung von außen. Außerdem werden fach- und themenspezifische Unterschiede gesehen.

Hat sich die schulische Praxis der Binnendifferenzierung seitdem grund­sätzlich gewandelt? Der Beitrag von Beate Wischer und Matthias Trautmann in diesem Heft zeigt: anscheinend kaum! Die Lehreräußerungen, die sie aus einer von ihnen durchgeführten aktuellen Umfrage zitieren, unterscheiden sich nur wenig von den oben wiedergegebenen. Die Gründe, weshalb es mit der Praxis der Inneren Differenzierung an Schulen vor allem des Sekundarbereichs nach wie vor im Argen liegt, quantitativ wie qualitativ, werden von Wischer/Trautmann differenziert dargelegt.

Zweierlei hat sich seit 1995 allerdings geändert, weniger die Praxis als die Rahmenbedingungen betref­fend:

  1. Es gibt – ausgelöst durch PISA – in unserer Gesellschaft eine neue bildungspolitische Debatte: einerseits generell über die Leistungen unserer Schulabgänger, andererseits speziell über soziale Benachteiligungen im deutschen Bildungssystem (mit besonderem Fokus auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund). Eine Folge ist, dass der »individuellen Förderung« ein hoher Stellenwert beigemessen wird – bis hin zur expliziten Verankerung in den Schulgesetzen der Länder und den Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz.
  2. Was die praktischen Möglichkeiten methodischer »Instrumentierung« von Binnendifferenzierung angeht, gibt es eine Reihe neuer Konzepte, die es erlauben, Einzelmethoden sinnvoll aufeinander zu beziehen und für Binnendifferenzierung und individuelle Förderung im Unterricht fruchtbar zu machen – ein Beispiel dafür ist etwa das Konzept des »Kooperativen Lernens«, ein anderes der Ansatz des Methodenlernens (Brüning/Saum bzw. Klippert in diesem Heft).

Vor allem auf Punkt zwei werde ich noch genauer eingehen. Um für die nachfolgenden Überlegungen eine tragfähige Basis zu schaffen, nehme ich zunächst eine begriffliche Klärung des oft diffus verwendeten Begriffs der Binnendifferenzierung vor.

Binnendifferenzierung: eine Arbeitsdefinition

Der Begriff »Binnendifferenzierung« (synonym: »Innere Differenzierung«) hat eine deskriptive und eine normative Komponente. Beide Bedeutungsebenen sind für die begriffliche Klärung zu berücksichtigen.

Deskriptiv fungiert »Binnendifferenzierung« als ein Sammelbegriff für alle didaktischen, methodischen und organisatorischen Maßnahmen, die im Unterricht innerhalb einer Schulklasse (allgemeiner: einer Lerngemeinschaft) getroffen werden können, um der Unterschiedlichkeit der Schüler – vor allem im Blick auf ihre optimale individuelle Förderung – gerecht zu werden. Genauer noch müsste man sagen: um ihrer Unterschiedlichkeit besser gerecht zu werden als in einem vorwiegend gleichschrittigen, tendenziell »uniformierenden« Unterricht. Uniformierend in diesem Sinne können übrigens nicht nur die üblichen frontalunterrichtlichen Phasen sein, sondern auch Einzel- oder Gruppenarbeitsphasen mit undifferenzierten, für alle Schüler gleichen bzw. wenig individuelle Spielräume eröffnenden Aufgabenstellungen.

Binnendifferenzierung ist damit weder eine Unterrichtsmethode (bzw. Sozialform) – wie etwa »Lehrervortrag«, »fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch« oder »Gruppenarbeit« – noch ein Unterrichtskonzept – wie etwa »handlungsorientierter Unterricht«, »forschend-entdeckender Unterricht« oder »kooperatives Lernen«.

Normativ ist Binnendifferenzierung als Unterrichtsprinzip zu verstehen, das fall- und situationsbezogen didaktisch und methodisch zu instrumentieren ist. Als Appell für Lehrer könnte man dieses Prinzip etwa so formulieren: Gestalte deinen Unterricht so, dass er möglichst vielen deiner unterschiedlichen Schüler für ihr Lernen geeignete Zugänge bietet!

Im Blick auf die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts wird durch die vorgeschlagene Arbeitsdefinition noch nichts vorab festgelegt. Binnendifferenzierung ist nicht zwangsläufig an bestimmte Methoden, Sozialformen und Unter­richtskonzepte gebunden; sogar ein Lehrervortrag kann Diffe­renzierungsquali­täten aufweisen, wenn nämlich die thematisierten Gegenstände so vielperspek­tivisch, facettenreich und bildhaft dargeboten werden, dass sich für unterschied­liche Schüler ganz unterschiedliche Zugänge anbieten. Umgekehrt tritt Binnendifferenzierung nicht automatisch ein, wenn Frontalunterricht durch Gruppen- oder Einzelarbeit ersetzt wird. Das in der obigen Arbeitsdefinition zum Ausdruck kommende Verständnis von Binnendifferenzierung öffnet den Weg dafür, die bei Lehrern so verbreiteten Überforderungskonnotationen durch eine realistischere Perspektive abzulösen: Wenn mir etwas an Binnendifferenzierung liegt, muss ich nicht von heute auf morgen alles anders machen, sondern ich kann mich ihr auch in kleinen Schritten nähern.

Das Spektrum der Unterschiede, die man als Lehrer mittels binnendifferenzierender Maßnahmen bedienen könnte, ist enorm breit. Im schlichtesten Fall reagiert man zunächst auf unübersehbare Leistungsunterschiede – in einem Fach oder einem konkreten Stoffgebiet: Ayla fällt das Lösen von linearen Gleichungen anscheinend leichter als Tobias, Rebecca hat einen viel größeren Englisch-Vokabelschatz als Maria … Eine naheliegende Frage wäre dann: Wie kann ich meinen Unterricht so gestalten, dass Tobias bzw. Maria nicht überfordert sind, sondern ihre (vergleichsweise geringen) Kompetenzen ausbauen können – und so, dass zugleich Ayla bzw. Rebecca ihre (vergleichsweise gut entwickelten) Kompetenzen einbringen können und sich nicht gelangweilt fühlen? Ein weitergehendes Ziel wäre, genauer herausfinden, wo die Schwächen von Tobias, Maria und anderen liegen – hier ist also von mir als Lehrer gefordert, was man seit einigen Jahren »Diagnosekompetenz« nennt. Und im Idealfall würde ich dann Angebote machen, die auf ganz unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten und Intelligenzen zugeschnitten sind, ich würde unterschiedliche Interessen berücksichtigen und entsprechende Wahlmöglichkeiten einräumen, ich würde für unterschiedliche Kinder und Jugendliche unterschiedliche Förderschwerpunkte festlegen und ihnen unterschiedliche Ziele setzen, die sie ganz individuell erreichen können …

Spätestens an diesem Punkt gerate ich als Lehrer in eine Überforderungsfalle (Wischer/Trautmann sprechen von der »Komplexitätsfalle«): Wenn ich mehrere Klassen mit 20 bis über 30 Schülern zu unterrichten habe, wird es mir nur in Ausnahmefällen gelingen, auf jeden Einzelnen derart intensiv individuell einzugehen und mit meinem Unterricht seinem ganz spezifischen Bedarf gerecht zu werden. Die skizzierte Falle ergibt sich u. a. aus einer verabsolutierten Übertragung des »Diagnose-Behandlungs-Modells«, das in medizinischen und psychologischen Zusammenhängen durchaus sinnvoll ist, auf pädagogisches Handeln: Wenn sich jemand krank fühlt oder Symptome zeigt, die auf eine Krankheit hinweisen, sollte sehr sorgfältig nach den Ursachen geforscht werden (Diagnose), bevor mit einer Behandlung (Therapie) begonnen wird. Auch in pädagogischen Beratungssituationen ist ein solches Vorgehen im Prinzip sinnvoll. Doch das Diagnose-Behandlungs-Modell versagt (bzw. führt zur heillosen Überforderung der Lehrpersonen), wenn es als Standard-Modell für Binnendifferenzierung, d. h. für individuelle Förderung im Unterricht zugrunde gelegt wird (vgl. Heymann 2009, S. 6 ff.).

Wie aber kann man dem aufgezeigten Dilemma entgehen, ohne den Anspruch auf individuelle Förderung durch Binnendifferenzierung preiszugeben?

Geschlossene und offene Formen von Binnendifferenzierung

Um den Möglichkeitsraum für binnendifferenzierendes ­Lehrerhandeln realistisch zu erweitern, ist es hilfreich, zwischen mehr »geschlossenen« und mehr »offenen« Formen der Binnendifferenzierung zu unterscheiden: Je­de konkrete Maßnahme, die der Binnendifferenzierung dient, lässt sich idealtypisch auf einer Skala mit den Polen Geschlossenheit und Offenheit einordnen.

Dass man individuellen Voraussetzungen, Begabungen, Kompetenzen, Eigenarten, Interessen, Stärken und Schwächen der Schüler gerecht zu werden versucht, ist beiden Formen gemeinsam.

Und was ist der Unterschied?

Im Falle »geschlossener« Differenzierungsformen wird das angestrebte Ziel dadurch zu erreichen gesucht, dass man den Schülern, auf der Basis eines vorgegebenen (»geschlossenen«) Curriculums, individuelle Lernwege zuweist. Die Zuweisung erfolgt möglichst auf der Grundlage einer individuellen Diagnose; Kriterium ist hier zumeist die kognitive Leistung des Schülers auf dem vorangehenden Lernwegabschnitt – weitere Kriterien können zusätzlich mit einbezogen werden.

Im Falle »offener« Differenzierungsformen strebt man an, die Schüler in einer adaptiven, anregungsreichen Lernumgebung, aber innerhalb eines klaren Rahmens – der etwa durch verabredete Regeln, Arbeitsaufträge und Aufgabenstellungen abgesteckt wird – ihre individuellen Lernwege selbst finden zu lassen. Der Lernweg des Einzelnen ergibt sich, unter aktiver Mitbestimmung des Lernenden und im Austausch mit anderen, im Prozess selbst.

Selbstverständlich wird man in der Praxis häufig Mischformen finden, die sich zwischen den beiden Idealtypen ansiedeln lassen. Das oben kritisierte Diagnose-Behandlungs-Modell ist auf unserer hypothetischen Skala am Pol Geschlossenheit anzusiedeln. Es setzt streng genommen Curricula voraus, in denen die zu erreichenden Lernziele für jeden Schülertyp und jede Begabungsausprägung ausformuliert sind. Die Grundvorstellung dabei ist, etwas vereinfachend formuliert, jedem Schüler das für ihn optimale Curriculum, den auf ihn passenden Lernweg von außen zuzuweisen. Die Verantwortung dafür, dass jeder Schüler seinen idealen Lernweg durchläuft, liegt beim Lehrer.

Im Falle offener Differenzierungsformen verzichtet der Lehrer ein Stück weit auf die Kontrolle der individuellen Lernwege. Stattdessen kümmert er sich um die Bereitstellung einer Lernumgebung, die so reichhaltig ist, dass jeder Schüler etwas in ihr findet, das zu ihm passt, an das er anknüpfen kann. Unter der Voraussetzung, dass der Schüler prinzipiell daran interessiert ist, etwas für ihn Wichtiges zu lernen (leider ist diese Voraussetzung keineswegs immer erfüllt – darauf gehe ich noch ein!), kann der Lehrer dann auch einen großen Teil der Verantwortung für das Gelingen des Lernens an die Schüler delegieren. Hinter der Konzeption der offenen Binnendifferenzierung steht nicht zuletzt die Idee, in das schulische Lernen wieder etwas von dem »natürlichen«, nichtinstitutionalisierten Lernen hineinzuholen, das von Kindern außerhalb der Schule ganz selbstverständlich, ohne viel Reflexion und meist sehr erfolgreich praktiziert wird.

In zweierlei Hinsicht sind offene Differenzierungsformen anspruchsvoller als geschlossene:

  1. Die geforderte Selbständigkeit des Arbeitens ist für die Schüler zunächst ungewohnt und steht zu ihren Erfahrungen mit herkömmlichen Unterrichtsformen im Widerspruch. Offene Differenzierungsformen bedürfen einer langfristig zu entwickelnden Lern- und Unterrichtskultur und einer Methodenkompetenz auf Schülerseite, die sich nicht von heute auf morgen einstellen kann (vgl. Klippert in diesem Heft).
  2. Von den Lehrern verlangen offene Differenzierungsformen ein anderes Rollenverständnis; die Rolle des Wissensvermittlers und Belehrers tritt in den Hintergrund gegenüber der Rolle des Beraters und Ermutigers sowie des Organisators und Strukturierers von anregungsreichen Lernumgebungen (vgl. Lau/Boller in diesem Heft). Diese Tätigkeiten verlangen außer pädagogischem Einfühlungsvermögen, didaktischer Sensibilität und methodischem Geschick auch persönliche Merkmale wie Offenheit und Mut, und sie lassen sich zweifellos besser im Team als im Alleingang bewältigen.

Leitlinien und Umsetzungsmöglichkeiten

Generell kommt es bei innerer Differenzierung darauf an, die unterschiedlichen Ausgangskompetenzen, das Lernvermögen, die Lernbereitschaft (Motivation) und die Verstehensprozesse der Schüler realistisch einzuschätzen (diagnostische Kompetenz im weitesten Sinne) sowie Aufgabenstellungen, Fragen und Unterrichtsmaßnahmen auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und ‑bedürfnisse der Schüler möglichst passend abzustimmen (didaktisch-methodische Kompetenzen). Diag­nosen in diesem Sinne sind dabei weniger als Feststellungen zu betrachten denn als prozessbegleitende, im Prozessverlauf durchaus korrigierbare Einschätzungen. Je mehr die Binnendifferenzierung dem »offenen« Typus entspricht, desto weniger notwendig sind Diagnosen im klassischen Sinne, und desto bedeutsamer wird die vom Lehrer einfühlsam begleitete Selbstregulation der Schüler. Eine wichtige Leitlinie für einen eher offen gestalteten binnendifferenzierenden Unterricht ist es, unterschiedliche Lernwege zuzulassen bzw. anzuregen. Dazu gehört im Einzelnen:

  • Aufgaben so gestalten, dass unterschiedliche Bearbeitungswege und Lösungsniveaus möglich sind;
  • Aufgaben so stellen, dass die Potenziale von Lerngruppen genutzt werden können – im Sinne wechselseitiger Unterstützung und Ergänzung;
  • Lernumgebungen durch eine Vielfalt (nicht: Überfülle) von Arbeitsmaterialien, Lernwerkzeugen und Hilfen anregend gestalten;
  • durch Methodenwechsel unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprechbarkeiten gerecht werden; insbesondere Methoden aus dem Fundus des »Kooperativen Lernens« bieten Spielräume, die sich differenzierungsfreundlich nutzen lassen (vgl. Brüning/Saum in diesem Heft).

Weitere beachtenswerte Gesichtspunkte sind die folgenden:

  • Der Orientierung an individuellen Bezugsnormen muss gegenüber der üblichen an sozialen und sachlichen Bezugsnormen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden; der Unterricht sollte möglichst so angelegt sein, dass jeder Schüler seine Lernfortschritte kontinuierlich erfahren kann. Vom Einzelnen wird dabei oft als sehr hilfreich erlebt, wenn die Mitschüler regelmäßig faires Feedback geben (was natürlich geübt werden muss).
  • Zusammen mit ihren Methodenkompetenzen sind die Selbsteinschätzungskompetenzen der Schüler zu entwickeln – eine Voraussetzung dafür, dass sie zumindest ansatzweise Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen können.
  • Ein individuell fördernder Unterricht setzt einen Wechsel der Blickrichtung voraus. Im Vordergrund steht nicht mehr die Frage: »Welcher Stoff ist laut Lehrplan dran?«, sondern in Anbetracht angestrebter und in den Lehrplänen ausgewiesener Kompetenzen: »Was braucht der/die Einzelne?«. Besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, beim Eindringen in neue Gebiete für jeden Einzelnen die Anfänge zu sichern und Lücken, wo sie erkennbar werden, rasch zu schließen.

Zwei Anregungen, wo sich mit Binnendifferenzierung beginnen lässt:

  • Alle projektartigen Aktivitäten bieten vorzügliche Möglichkeiten, in (vorwiegend offene) Binnendifferenzierung einzusteigen: von der Planung und Durchführung naturwissenschaftlicher Beobachtungsreihen über die Vorbereitung einer Theateraufführung im Deutschunterricht bis hin zu ökologischen oder kommunalpolitischen Initiativen.
  • Wenn im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch die Schüler nicht in erster Linie als zufällige Repräsentanten der gesamten Lerngruppe und als Informanten über einen unterstellten kollektiven Lernstand angesprochen werden, sondern als individuelle Schülerpersönlichkeiten mit Stärken und Schwächen, die dem Lehrer bewusst sind, kann auch einem solchen Unterrichtsgespräch Differenzierungsqualität zugesprochen werden.

Abschließend noch der Hinweis auf ein Faktum, das man nicht aus dem Blick verlieren sollte – und sei es nur, um sich gegen unumgängliche Enttäuschungen zu wappnen:

Kein Schüler kann durch Binnendifferenzierung gefördert werden, der nicht von sich aus bereit ist, sich auf ein entsprechendes Angebot einzulassen und aktiv mitzuarbeiten. Gewiss lässt sich von Lehrerseite einiges dafür tun: Schüler werden sich eher auf individuelle Unterstützungs­angebote einlassen, wenn sie eine persönliche Wertschätzung durch den Lehrer erkennen können, wenn die Beziehung zu ihm von wechselseitigem Vertrauen getragen ist, wenn es eine gute Passung zwischen Angebot, tatsächlichem Förderbedarf und den Möglichkeiten des Schülers gibt, und wenn der Schüler ehrlich daran interessiert ist, etwas zu lernen und Fortschritte zu machen. Doch eine Garantie bietet das alles nicht.

Anregungen, Beispiele, Stolpersteine

Die Beiträge zum Themenschwerpunkt geben Anregungen zu einem binnendifferenzierenden Unterricht auf verschiedenen Ebenen. Ludger Brüning und Tobias Saum verdeutlichen das Binnendifferenzierungspotential des Kooperativen Lernens, Heinz Klippert zeigt auf, wie wichtig es dafür ist, dass auch die Schüler methodisch geschult werden. Christian Vinzentius erläutert anhand von Beispielen, wie Gardners Theorie der »Multiplen Intelligenzen« für einen binnendifferenzierenden Unterricht fruchtbar zu machen ist. Einblicke in konkrete Binnendifferenzierung an einer Hauptschule bzw. in der gymnasialen Oberstufe gewähren die Erfahrungsberichte von Claudia Wolfram und Nina Krull bzw. von Ramona Lau und Sebastian Boller. Der Hintergrundbeitrag von Beate Wischer und Matthias Trautmann thematisiert eindringlich die Grenzen, die einer konsequenten Umsetzung von Binnendifferenzierung gesetzt sind – und ermutigt dazu, sich nicht durch möglicherweise überzogene Ansprüche an das eigene Lehrerhandeln beirren zu lassen. Weitere aktuelle und praxisbezogene Veröffentlichungen zum Thema finden sich im Literaturverzeichnis.

Was deutlich geworden sein sollte: Bei Binnendifferenzierung geht es nicht um »alles oder nichts«. Jede Lehrerin und jeder Lehrer kann, wenn an der grundsätzlichen Notwendigkeit der Binnendifferenzierung kein Zweifel besteht, mit kleinen Schritten beginnen.

Literatur

  • Bönsch, M. (2009): Methodik der Differenzierung. Ordnung und Umsetzungsmöglichkeiten von Differenzierungsformen. In: Pädagogik H. 9/2009, S. 36 – 40
  • Heymann, H. W. (2009): Lernen verstehen, anleiten und begleiten. Diagnostizieren und Fördern als schulische Handlungsfelder. In: Pädagogik H. 12/2009, S. 6 – 9
  • Klippert, H. (2010): Heterogenität im Klassenzimmer. Weinheim/Basel
  • Lindemer, G. (2009): Kompetenzorientierung ernst genommen. Individuelle Förderung im Englischunterricht. In: Pädagogik H. 12/2009, S. 20 – 23
  • Scholz, I. (2007) (Hg.): Der Spagat zwischen Fördern und Fordern: Unterricht in heterogenen Klassen. Göttingen

Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen, Vorsitzender des Siegener Zentrums für Lehrerbildung und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 11/2010