Pädagogischer Anspruch, didaktisches Handwerk, Realisierungschancen
Warum ist Binnendifferenzierung für viele Lehrerinnen und Lehrer ein Reizwort? Handelt es sich dabei um einen in der Praxis kaum einlösbaren Anspruch? Wie kann Unterricht sehr unterschiedlichen Begabungen, Lernbedürfnissen und Interessen auf Seiten der Schüler gerecht werden, ohne die Lehrenden hoffnungslos zu überfordern? Ein Versuch, begrifflich zu klären und Erwartungen realistisch zurechtzurücken.
Ein Blick 15 Jahre zurück: Was hat sich geändert?
Im Jahre 1995 habe ich eine Stichprobe praktizierender Lehrerinnen und Lehrer befragt, wie sie es in ihrem eigenen Unterricht mit Binnendifferenzierung halten. Dabei handelte es sich durchweg um engagierte Vertreter ihres Berufs, die sich freiwillig zur Teilnahme an dieser Befragung bereit erklärt hatten. Die Ergebnisse – wenn sie auch nicht als statistisch repräsentativ gelten können – erhellten blitzlichtartig überwiegend skeptische, im Einzelfall allerdings stark voneinander abweichende Einstellungen zur inneren Differenzierung; zudem spiegelten sie sehr unterschiedliche Praxen wider, sowohl zwischen als auch innerhalb der gängigen Schultypen.
»Innere Differenzierung gibt es nicht, außer in den Köpfen von Hochschullehrern« – so die Aussage eines Gesamtschullehrers, Inhaber einer Funktionsstelle als Didaktischer Leiter. Eine Klassenlehrerin von gymnasialen Fünftklässlern äußerte sich: »Für innere Differenzierung sehe ich keine Notwendigkeit. Ich will doch die Unterschiede zwischen den Kindern nicht noch vergrößern, die sollen am Gymnasium doch alle das Gleiche lernen!« Eine Realschullehrerin gab als Grund für ihre Ablehnung binnendifferenzierender Maßnahmen an: »Ich hoffe, ich sag das für viele: Die Angst des Lehrers, den großen Zügel zu verlieren, ist wahrscheinlich unendlich groß!«
Natürlich gab es auch andere Stimmen – vornehmlich von Grund- und HauptschullehrerInnen, teilweise auch von Lehrern an Schulen mit besonderem pädagogischem Anspruch, wie etwa der Bielefelder Laborschule. Mit aller Vorsicht habe ich die damals erhaltenen Informationen zu folgendem Gesamtbild verdichtet:
Hat sich die schulische Praxis der Binnendifferenzierung seitdem grundsätzlich gewandelt? Der Beitrag von Beate Wischer und Matthias Trautmann in diesem Heft zeigt: anscheinend kaum! Die Lehreräußerungen, die sie aus einer von ihnen durchgeführten aktuellen Umfrage zitieren, unterscheiden sich nur wenig von den oben wiedergegebenen. Die Gründe, weshalb es mit der Praxis der Inneren Differenzierung an Schulen vor allem des Sekundarbereichs nach wie vor im Argen liegt, quantitativ wie qualitativ, werden von Wischer/Trautmann differenziert dargelegt.
Zweierlei hat sich seit 1995 allerdings geändert, weniger die Praxis als die Rahmenbedingungen betreffend:
Vor allem auf Punkt zwei werde ich noch genauer eingehen. Um für die nachfolgenden Überlegungen eine tragfähige Basis zu schaffen, nehme ich zunächst eine begriffliche Klärung des oft diffus verwendeten Begriffs der Binnendifferenzierung vor.
Binnendifferenzierung: eine Arbeitsdefinition
Der Begriff »Binnendifferenzierung« (synonym: »Innere Differenzierung«) hat eine deskriptive und eine normative Komponente. Beide Bedeutungsebenen sind für die begriffliche Klärung zu berücksichtigen.
Deskriptiv fungiert »Binnendifferenzierung« als ein Sammelbegriff für alle didaktischen, methodischen und organisatorischen Maßnahmen, die im Unterricht innerhalb einer Schulklasse (allgemeiner: einer Lerngemeinschaft) getroffen werden können, um der Unterschiedlichkeit der Schüler – vor allem im Blick auf ihre optimale individuelle Förderung – gerecht zu werden. Genauer noch müsste man sagen: um ihrer Unterschiedlichkeit besser gerecht zu werden als in einem vorwiegend gleichschrittigen, tendenziell »uniformierenden« Unterricht. Uniformierend in diesem Sinne können übrigens nicht nur die üblichen frontalunterrichtlichen Phasen sein, sondern auch Einzel- oder Gruppenarbeitsphasen mit undifferenzierten, für alle Schüler gleichen bzw. wenig individuelle Spielräume eröffnenden Aufgabenstellungen.
Binnendifferenzierung ist damit weder eine Unterrichtsmethode (bzw. Sozialform) – wie etwa »Lehrervortrag«, »fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch« oder »Gruppenarbeit« – noch ein Unterrichtskonzept – wie etwa »handlungsorientierter Unterricht«, »forschend-entdeckender Unterricht« oder »kooperatives Lernen«.
Normativ ist Binnendifferenzierung als Unterrichtsprinzip zu verstehen, das fall- und situationsbezogen didaktisch und methodisch zu instrumentieren ist. Als Appell für Lehrer könnte man dieses Prinzip etwa so formulieren: Gestalte deinen Unterricht so, dass er möglichst vielen deiner unterschiedlichen Schüler für ihr Lernen geeignete Zugänge bietet!
Im Blick auf die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts wird durch die vorgeschlagene Arbeitsdefinition noch nichts vorab festgelegt. Binnendifferenzierung ist nicht zwangsläufig an bestimmte Methoden, Sozialformen und Unterrichtskonzepte gebunden; sogar ein Lehrervortrag kann Differenzierungsqualitäten aufweisen, wenn nämlich die thematisierten Gegenstände so vielperspektivisch, facettenreich und bildhaft dargeboten werden, dass sich für unterschiedliche Schüler ganz unterschiedliche Zugänge anbieten. Umgekehrt tritt Binnendifferenzierung nicht automatisch ein, wenn Frontalunterricht durch Gruppen- oder Einzelarbeit ersetzt wird. Das in der obigen Arbeitsdefinition zum Ausdruck kommende Verständnis von Binnendifferenzierung öffnet den Weg dafür, die bei Lehrern so verbreiteten Überforderungskonnotationen durch eine realistischere Perspektive abzulösen: Wenn mir etwas an Binnendifferenzierung liegt, muss ich nicht von heute auf morgen alles anders machen, sondern ich kann mich ihr auch in kleinen Schritten nähern.
Das Spektrum der Unterschiede, die man als Lehrer mittels binnendifferenzierender Maßnahmen bedienen könnte, ist enorm breit. Im schlichtesten Fall reagiert man zunächst auf unübersehbare Leistungsunterschiede – in einem Fach oder einem konkreten Stoffgebiet: Ayla fällt das Lösen von linearen Gleichungen anscheinend leichter als Tobias, Rebecca hat einen viel größeren Englisch-Vokabelschatz als Maria … Eine naheliegende Frage wäre dann: Wie kann ich meinen Unterricht so gestalten, dass Tobias bzw. Maria nicht überfordert sind, sondern ihre (vergleichsweise geringen) Kompetenzen ausbauen können – und so, dass zugleich Ayla bzw. Rebecca ihre (vergleichsweise gut entwickelten) Kompetenzen einbringen können und sich nicht gelangweilt fühlen? Ein weitergehendes Ziel wäre, genauer herausfinden, wo die Schwächen von Tobias, Maria und anderen liegen – hier ist also von mir als Lehrer gefordert, was man seit einigen Jahren »Diagnosekompetenz« nennt. Und im Idealfall würde ich dann Angebote machen, die auf ganz unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten und Intelligenzen zugeschnitten sind, ich würde unterschiedliche Interessen berücksichtigen und entsprechende Wahlmöglichkeiten einräumen, ich würde für unterschiedliche Kinder und Jugendliche unterschiedliche Förderschwerpunkte festlegen und ihnen unterschiedliche Ziele setzen, die sie ganz individuell erreichen können …
Spätestens an diesem Punkt gerate ich als Lehrer in eine Überforderungsfalle (Wischer/Trautmann sprechen von der »Komplexitätsfalle«): Wenn ich mehrere Klassen mit 20 bis über 30 Schülern zu unterrichten habe, wird es mir nur in Ausnahmefällen gelingen, auf jeden Einzelnen derart intensiv individuell einzugehen und mit meinem Unterricht seinem ganz spezifischen Bedarf gerecht zu werden. Die skizzierte Falle ergibt sich u. a. aus einer verabsolutierten Übertragung des »Diagnose-Behandlungs-Modells«, das in medizinischen und psychologischen Zusammenhängen durchaus sinnvoll ist, auf pädagogisches Handeln: Wenn sich jemand krank fühlt oder Symptome zeigt, die auf eine Krankheit hinweisen, sollte sehr sorgfältig nach den Ursachen geforscht werden (Diagnose), bevor mit einer Behandlung (Therapie) begonnen wird. Auch in pädagogischen Beratungssituationen ist ein solches Vorgehen im Prinzip sinnvoll. Doch das Diagnose-Behandlungs-Modell versagt (bzw. führt zur heillosen Überforderung der Lehrpersonen), wenn es als Standard-Modell für Binnendifferenzierung, d. h. für individuelle Förderung im Unterricht zugrunde gelegt wird (vgl. Heymann 2009, S. 6 ff.).
Wie aber kann man dem aufgezeigten Dilemma entgehen, ohne den Anspruch auf individuelle Förderung durch Binnendifferenzierung preiszugeben?
Geschlossene und offene Formen von Binnendifferenzierung
Um den Möglichkeitsraum für binnendifferenzierendes Lehrerhandeln realistisch zu erweitern, ist es hilfreich, zwischen mehr »geschlossenen« und mehr »offenen« Formen der Binnendifferenzierung zu unterscheiden: Jede konkrete Maßnahme, die der Binnendifferenzierung dient, lässt sich idealtypisch auf einer Skala mit den Polen Geschlossenheit und Offenheit einordnen.
Dass man individuellen Voraussetzungen, Begabungen, Kompetenzen, Eigenarten, Interessen, Stärken und Schwächen der Schüler gerecht zu werden versucht, ist beiden Formen gemeinsam.
Und was ist der Unterschied?
Im Falle »geschlossener« Differenzierungsformen wird das angestrebte Ziel dadurch zu erreichen gesucht, dass man den Schülern, auf der Basis eines vorgegebenen (»geschlossenen«) Curriculums, individuelle Lernwege zuweist. Die Zuweisung erfolgt möglichst auf der Grundlage einer individuellen Diagnose; Kriterium ist hier zumeist die kognitive Leistung des Schülers auf dem vorangehenden Lernwegabschnitt – weitere Kriterien können zusätzlich mit einbezogen werden.
Im Falle »offener« Differenzierungsformen strebt man an, die Schüler in einer adaptiven, anregungsreichen Lernumgebung, aber innerhalb eines klaren Rahmens – der etwa durch verabredete Regeln, Arbeitsaufträge und Aufgabenstellungen abgesteckt wird – ihre individuellen Lernwege selbst finden zu lassen. Der Lernweg des Einzelnen ergibt sich, unter aktiver Mitbestimmung des Lernenden und im Austausch mit anderen, im Prozess selbst.
Selbstverständlich wird man in der Praxis häufig Mischformen finden, die sich zwischen den beiden Idealtypen ansiedeln lassen. Das oben kritisierte Diagnose-Behandlungs-Modell ist auf unserer hypothetischen Skala am Pol Geschlossenheit anzusiedeln. Es setzt streng genommen Curricula voraus, in denen die zu erreichenden Lernziele für jeden Schülertyp und jede Begabungsausprägung ausformuliert sind. Die Grundvorstellung dabei ist, etwas vereinfachend formuliert, jedem Schüler das für ihn optimale Curriculum, den auf ihn passenden Lernweg von außen zuzuweisen. Die Verantwortung dafür, dass jeder Schüler seinen idealen Lernweg durchläuft, liegt beim Lehrer.
Im Falle offener Differenzierungsformen verzichtet der Lehrer ein Stück weit auf die Kontrolle der individuellen Lernwege. Stattdessen kümmert er sich um die Bereitstellung einer Lernumgebung, die so reichhaltig ist, dass jeder Schüler etwas in ihr findet, das zu ihm passt, an das er anknüpfen kann. Unter der Voraussetzung, dass der Schüler prinzipiell daran interessiert ist, etwas für ihn Wichtiges zu lernen (leider ist diese Voraussetzung keineswegs immer erfüllt – darauf gehe ich noch ein!), kann der Lehrer dann auch einen großen Teil der Verantwortung für das Gelingen des Lernens an die Schüler delegieren. Hinter der Konzeption der offenen Binnendifferenzierung steht nicht zuletzt die Idee, in das schulische Lernen wieder etwas von dem »natürlichen«, nichtinstitutionalisierten Lernen hineinzuholen, das von Kindern außerhalb der Schule ganz selbstverständlich, ohne viel Reflexion und meist sehr erfolgreich praktiziert wird.
In zweierlei Hinsicht sind offene Differenzierungsformen anspruchsvoller als geschlossene:
Leitlinien und Umsetzungsmöglichkeiten
Generell kommt es bei innerer Differenzierung darauf an, die unterschiedlichen Ausgangskompetenzen, das Lernvermögen, die Lernbereitschaft (Motivation) und die Verstehensprozesse der Schüler realistisch einzuschätzen (diagnostische Kompetenz im weitesten Sinne) sowie Aufgabenstellungen, Fragen und Unterrichtsmaßnahmen auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und ‑bedürfnisse der Schüler möglichst passend abzustimmen (didaktisch-methodische Kompetenzen). Diagnosen in diesem Sinne sind dabei weniger als Feststellungen zu betrachten denn als prozessbegleitende, im Prozessverlauf durchaus korrigierbare Einschätzungen. Je mehr die Binnendifferenzierung dem »offenen« Typus entspricht, desto weniger notwendig sind Diagnosen im klassischen Sinne, und desto bedeutsamer wird die vom Lehrer einfühlsam begleitete Selbstregulation der Schüler. Eine wichtige Leitlinie für einen eher offen gestalteten binnendifferenzierenden Unterricht ist es, unterschiedliche Lernwege zuzulassen bzw. anzuregen. Dazu gehört im Einzelnen:
Weitere beachtenswerte Gesichtspunkte sind die folgenden:
Zwei Anregungen, wo sich mit Binnendifferenzierung beginnen lässt:
Abschließend noch der Hinweis auf ein Faktum, das man nicht aus dem Blick verlieren sollte – und sei es nur, um sich gegen unumgängliche Enttäuschungen zu wappnen:
Kein Schüler kann durch Binnendifferenzierung gefördert werden, der nicht von sich aus bereit ist, sich auf ein entsprechendes Angebot einzulassen und aktiv mitzuarbeiten. Gewiss lässt sich von Lehrerseite einiges dafür tun: Schüler werden sich eher auf individuelle Unterstützungsangebote einlassen, wenn sie eine persönliche Wertschätzung durch den Lehrer erkennen können, wenn die Beziehung zu ihm von wechselseitigem Vertrauen getragen ist, wenn es eine gute Passung zwischen Angebot, tatsächlichem Förderbedarf und den Möglichkeiten des Schülers gibt, und wenn der Schüler ehrlich daran interessiert ist, etwas zu lernen und Fortschritte zu machen. Doch eine Garantie bietet das alles nicht.
Anregungen, Beispiele, Stolpersteine
Die Beiträge zum Themenschwerpunkt geben Anregungen zu einem binnendifferenzierenden Unterricht auf verschiedenen Ebenen. Ludger Brüning und Tobias Saum verdeutlichen das Binnendifferenzierungspotential des Kooperativen Lernens, Heinz Klippert zeigt auf, wie wichtig es dafür ist, dass auch die Schüler methodisch geschult werden. Christian Vinzentius erläutert anhand von Beispielen, wie Gardners Theorie der »Multiplen Intelligenzen« für einen binnendifferenzierenden Unterricht fruchtbar zu machen ist. Einblicke in konkrete Binnendifferenzierung an einer Hauptschule bzw. in der gymnasialen Oberstufe gewähren die Erfahrungsberichte von Claudia Wolfram und Nina Krull bzw. von Ramona Lau und Sebastian Boller. Der Hintergrundbeitrag von Beate Wischer und Matthias Trautmann thematisiert eindringlich die Grenzen, die einer konsequenten Umsetzung von Binnendifferenzierung gesetzt sind – und ermutigt dazu, sich nicht durch möglicherweise überzogene Ansprüche an das eigene Lehrerhandeln beirren zu lassen. Weitere aktuelle und praxisbezogene Veröffentlichungen zum Thema finden sich im Literaturverzeichnis.
Was deutlich geworden sein sollte: Bei Binnendifferenzierung geht es nicht um »alles oder nichts«. Jede Lehrerin und jeder Lehrer kann, wenn an der grundsätzlichen Notwendigkeit der Binnendifferenzierung kein Zweifel besteht, mit kleinen Schritten beginnen.
Literatur
Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen, Vorsitzender des Siegener Zentrums für Lehrerbildung und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de
Aus: Pädagogik 11/2010