Das meiste geschieht ohne Worte

Über die Bedeutung der »stillen Seite« des Unterrichts

Unterricht ist nicht nur eine »Wortsache«. Erfolg hängt zu einem großen Teil davon ab, was nicht über Worte vermittelt wird: von Gesten, vom Auftreten, vom Verhalten, der Unterrichtschoreographie, dem Unterrichtsklima. Was geschieht eigentlich bei nonverbaler Kommunikation und durch Körpersprache? Wie wichtig ist sie? Wie kann man sie gestalten und beeinflussen? Wie gelingt sie in der Klasse?

Man kann es in einer halben Stunde evaluieren: Während des Schultages geht man über die Schulflure, bleibt vor jeder Tür zwei Minuten stehen – und horcht. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass dort, wo man weder Geräusche noch Stimmen hört, das Klassenzimmer leer ist oder eine Klassenarbeit geschrieben wird. Aus allen anderen Klassenräumen hört man fast immer Lehrkräfte sprechen, beauftragen, erklären, erzählen, in einigen Klassen auch Schüler (zum Teil: durcheinander) sprechen. Unterricht, durch die geschlossene Klassenzimmertür wahrgenommen, erscheint als Wörterwelt, in der die Sprache herrscht. Wäre die Tür gläsern, könnte man aber die Unterrichtswelt jenseits der Wörter erfahren und würde sehen, dass in der Schule viel mehr ohne Worte gesagt wird – als mit.

»Guten Morgen! – Bitte die Hefte heraus! – Wer fehlt? – Gibst du mir bitte das Klassenbuch, danke!« Hinter dieser Einleitung einer Unterrichtsstunde können sich unterschiedliche Nichtwörter-Welten verbergen:

  • Lehrer A. öffnet beim Klingeln zum Ende der Pause die Tür, geht zielstrebig zum Lehrerpult, stellt die Tasche darauf ab, öffnet sie, legt das Lehrbuch daneben, öffnet es, zieht seinen roten Sparkassen-Lehrerkalender aus der Jacketttasche, blättert die Klassenliste auf, schaut über die Köpfe der längsten Schüler hinweg und grüßt knapp, unterstreicht seine Anweisung, die Hefte herauszunehmen, mit einer auffordernden Handbewegung, und schaut dann in die Klasse, um nach fehlenden Schülern zu suchen, die er gleich, um es nur nicht zu vergessen, eintragen will. Dazu nimmt er ungeduldig seinen Kugelschreiber in die Hand.
  • Lehrer L. hat in der Pause den Klassenraum betreten, seine Materialien auf dem Pult ausgebreitet, die Triangel hervorgeholt und auf das Pult gelegt. Dann schaut er in die Klasse, besonders zu den Schülern, die miteinander reden, wartet auf das Klingeln, schaut unter die Decke, wieder in die Klasse, wippt auf den Zehenspitzen, wartet, schaut die Schüler wieder an. »Bitte steh auf!«, sagt er zu Jonas. Zu Sven sagt er: »Nimm deine Mütze ab. Respekt bitte!« Er wartet. Ruhe. Er schlägt die Triangel an, wartet, dass der Ton ausklingt. Dann begrüßt er die Klasse, die Schüler antworten im Chor. Gemurmel. Herr L. schlägt wieder auf die Triangel an. Die Schüler schweigen. Er gibt seine Anweisung. Während sie die Hefte hervorholen, fragt er Jakob in der ersten Reihe nach fehlenden Schülern und lässt sich das Klassenbuch reichen.

Die Szene bei Lehrer A. dauert 15 Sekunden, bei Lehrer L. nimmt sie zwei Minuten in Anspruch – die meiste Zeit davon sagt L. nichts und wartet. In den 15 und den 120 Sekunden ist für die kommende Unterrichtsstunde schon fast alles vorentschieden: Lehrer A. wie Lehrer L. geben durch ihr Verhalten, ihr Handeln, ihre Körpersprache und das Unterrichtssetting sehr viel wortlos vor (vgl. Abb. 1):

  • welches Unterrichtsklima sie in der Klasse haben wollen (wie viel Zeit und Raum sie schaffen, worauf sie aufmerksam sein wollen, wie Kommunikation sein soll);
  • wie sie die Stunde gestalten und steuern wollen (auf welche Punkte sie achten, wo sie kontrollieren oder Freiraum geben, wie sie warten und beschleunigen);
  • als welche (Lehr-)Person sie sich in der kommenden Stunde zeigen wollen (welche Eigenschaften sie präsentieren, welche Handlungsmuster sie wiederholen, was sie über ihre Person, ihre Einstellung zum Fach zeigen).

Non-verbale Kommunikation – mehr als nur Begleitumstand

Für A. ist es wichtig, zu Beginn der Stunde die Macht-Verhältnisse klargestellt zu haben: Er besitzt den roten Lehrerkalender und entscheidet, wer drangenommen wird. Sein Blick macht deutlich, dass er den Überblick behalten will und dass sein Interesse auf Abweichungen gerichtet ist (fehlende Schüler).

Auch L. will verdeutlichen, wer im Unterricht das Sagen hat: Bei ihm sollen es die Regeln sein. Jeden einzelnen Schüler schaut er an und signalisiert: Ich habe dich im Blick. Unterstützt wird das durch seine Korrektur von Abweichungen, mit Begründung (Respekt). L. betont, dass er einen bestimmten Ablauf in seinem Unterricht erwartet – und dass die Schüler sich daran halten sollen.

Von außen wahrgenommen, richten beide Lehrer ihre Botschaft ausschließlich an die Klassen. Ihre Fragesätze sind eigentlich Aufforderungen: »Wer fehlt?« ist die in eine Frage gepackte Anweisung. Neben dieser Außen-Wirkungsebene hat das Verhalten der Lehrer noch eine Innen-Wirkungsebene: Es ist, als sprächen sich beide Lehrkräfte Mut zu, diese Stunde in einem bestimmten Rahmen zu beginnen. Sie bestärken sich, dass sie Regie führen wollen, sich durchsetzen können.

Ob solch wortloses Agieren bei der Klasse und bei den Lehrern wirkt, wird durch drei Faktoren beeinflusst:

  • Fähigkeit, nichtsprachliches Verhalten wahrzunehmen und zu deuten
    Lehrer wie Schüler müssen wahrnehmen können, dass das, was ohne Worte gelehrt und gelernt wird, Bedeutung hat und dass damit Konsequenzen verbunden sind. Im Falle von Herrn A. wissen sie, was das Hervorholen des Lehrerkalenders zu bedeuten hat. Auch die Schüler von Herrn L. müssen verstehen können, was das Anschlagen der Triangel und das Warten bedeutet. Sie müssen spüren, dass er unruhig wird, und wissen, dass sie keine Klassenfahrt machen werden, wenn sie sich nicht ruhig verhalten. – Zu den besonders belastenden Unterrichtserfahrungen gehört, wenn nichtsprachliches Verhalten willkürlich erscheint oder nicht eingeordnet werden kann (»der hat irgendwie nur Theater gemacht, war sauer …«).
  • Vermögen und Bereitschaft, nichtsprachliche Kommunikation als gestaltbar und veränderbar zu sehen
    Eigenes Verhalten und Handeln in der Klasse als Naturereignis oder als bloße Reaktion auf das Verhalten anderer zu sehen, verhindert Kommunikation ohne Worte. Die Bereitschaft, eigenes und fremdes Verhalten zu beobachten und in Beziehung zueinander zu setzen, ist Voraussetzung, ohne Worte agieren zu können. Im Falle von Herrn A. würde das z. B. bedeuten, dass er selbst wahrnimmt, wie er abwehrend und verschlossen hinter dem Pult steht und dass er auch erkennt, dass sein Handeln verändert werden muss. Im Falle von Herrn L. wäre erforderlich, dass er nicht nur sein verbales Bemühen um gutes Klima sieht, sondern auch seine Körpersprache, die nur Leiden, Unzufriedenheit und Jammern ausdrückt.
  • Schlüssigkeit des nicht-sprachlichen Verhaltens zum Kontext
    Sind verbale Lehrer-Äußerungen unverständlich oder undurchschaubar, wird dies von Schülern meist hingenommen (»Der kann eben nicht erklären …, ich hab’s halt nicht verstanden …«). Von nicht-verbalen Äußerungen, vom Handeln der Lehrer dagegen wird ein hohes Maß an Kontext-Schlüssigkeit verlangt: Solche Äußerungen wollen verstanden werden, sie werden in Bezug gesetzt zur Lerngeschichte, zu Erlebnissen und aktuellen Situation (»Warum ist Herr X. heute plötzlich so nett …?«). So weiß die Klasse im Falle von Herrn A. beispielsweise, dass er gestern auf dem Eltern­abend heftig kritisiert wurde und nun in der ersten Stunde besonders korrekt handeln muss. Dieser Kontext bildet die Folie, auf der sie die nicht-sprachlichen Äußerungen A.’s interpretieren. – Lehren ohne Worte verlangt viel mehr Kontext-Schlüssigkeit als verbale Lehrerbeiträge.

Diese Faktoren gelten besonders für Lehrer, aber auch für Schüler. In unseren beiden Fällen reagieren sie symmetrisch auf das Verhalten ihrer Lehrer, wenn sie bei Herrn A. ängstlich zur Seite schauen und ihm signalisieren, dass er sie einschüchtern kann, oder wenn sie Herrn L. anfangs ignorieren und ihn zwingen zu warten. Sie handeln nichtsprachlich auf der gleichen Ebene. Wie sprachliche Kommunikation ist auch die nichtsprachliche wechselseitig.

Handeln wird mehr geglaubt als Worten

Unterricht erscheint zuallererst als »Wortsache«: Mit Worten wird gelehrt, vermittelt, gesteuert, gestaltet. Deshalb bemühen sich Lehrkräfte, zu planen, was sie im Unterricht sagen, wie sie es sagen, zu wem sie es und wann sie es sagen. Aber: Zu glauben, gute verbale Kommunikation sei der Schlüssel zu gutem Unterricht, erweist sich als Illusion. Denn ob Lehren und Lernen gelingt, hängt für Lehrer wie Schüler entscheidend ab von außersprachlichen Faktoren:

  • Die – verbale – Kommunikation der Lehrkräfte steuert den Unterricht weit weniger, als sie das annehmen. Selbst wenn Lehrkräfte extrem viel im Unterricht sprechen, kommen sie mit ihrem reinen Sprechanteil selten über ein Drittel bis zur Hälfte der Unterrichtszeit, der Rest sind Schülerbeiträge, Leerlauf, Abbrüche, Zettelverteilen etc. Ihr Sprechen begleiten sie durchweg mit nichtsprachlichen Äußerungen. Und den anderen Teil der Unterrichtszeit agieren sie ausschließlich nonverbal. Ohne Worte etwas zu lehren ist also – zumindest rein quantitativ – die vorherrschende Kommunikationsform auch bei Lehrkräften. Unterricht wird wesentlich bestimmt durch das, was nicht gesagt wird, und durch das, was getan wird.
  • Verbale Kommunikation von Lehrkräften, auf deren Planung häufig so viel Mühe verwendet wird, nimmt für Schüler und Eltern oft nicht den Stellenwert ein wie bei Lehrkräften. Schüler und auch Eltern sprechen vergleichsweise wenig (so gibt Hansen (2010) an, dass Amerikaner durchschnittlich zehn bis elf Minuten pro Tag reden, Eltern mit ihren Kinder im Durchschnitt 38 Minuten die Woche) – 90 Prozent dessen, was sie kommunizieren, erfolgt über Handlungen, nicht über Worte (Hansen 2010). Für Schüler und Eltern ist deshalb eine stimmige Kommunikation außerhalb der Worte entscheidend.
  • Verbale Kommunikation für Lehrkräfte steht unter einem hohen Glaubwürdigkeitsanspruch: Für Schüler ist aber besonders das glaubwürdig, was über Handlungen kommuniziert wird. Wenn Aussagen nicht kongruent sind zur Körpersprache oder gar im Gegensatz zu Handlungen stehen, wird den Aussagen weniger geglaubt als den Handlungen. Deshalb ist eine hohe Passung von verbaler Kommunikation und Handlungen so wichtig.

Gezielt daran arbeiten, ohne Worte zu lehren und zu lernen

Ohne Worte zu lehren oder zu lernen, bedeutet mehr als nur nonverbale Kommunikation. Es geht neben Körpersprache (Gestik, Mimik, Sprechweise, Bewegung) weiterhin um die Herstellung des Unterrichtssettings und -klimas und um die Art und Weise, wie die Lehrperson sich als Person und Kommunikationspartner »konstituiert«. Wie eine Lehrkraft in der Klasse auftritt, wird häufig als »Charaktersache« angesehen. Als geschehe es unbewusst und sei der Reflexion nicht zugänglich. So bezeichnet sich Lehrer A. beispielsweise schulterzuckend als einen »Fachfanatiker und gemäßigten Choleriker«. Dabei hat er z. B. das Ritual mit dem roten Lehrerkalender von seinem Mathematiklehrer übernommen und weiß, welche Furcht es auslösen kann.

Der erste Schritt für eine Verbesserung des Lehrens ohne Worte besteht darin, den eigenen Anteil und dessen Veränderbarkeit daran wahrzunehmen (und nicht sofort zu werten). Gerade hier ist die Selbstwahrnehmung von Lehrkräften oft blind – es gibt aber einfache Mittel, sich und das eigene Agieren in den Blick zu nehmen:

  • Sich von Schülern beschreiben/widerspiegeln lassen, wie man im Unterricht agiert (Beschreibe mit zehn Adjektiven/Nomen, wie Herr X. im Unterricht ist … Schreibe einen kurzen Steckbrief über Herrn X., seine Arbeit, seine Hobbys …). Dabei ist die Widerspiegelung immer nur der Ausgangspunkt für ein folgendes Gespräch: Was passiert, wenn das so ist? Wie reagieren die Schüler darauf?
  • Ehemalige Schüler über Auskunft zu bitten zu seinem Unterricht/Handeln, sich von ihnen vorspielen zu lassen, wie man im Unterricht agiert hat.
  • Eine sehr unterhaltsame – auch erschreckende – Methode, ist das »Körpersprache-Karaoke«: In einer Gruppe wird ein Ton-Mitschnitt einer fremden Unterrichtsstunde vorgespielt. Mehrere Teilnehmer versuchen hintereinander, zu diesem Mitschnitt eine aus ihrer Sicht passende Körpersprache zu entwickeln und zu variieren. Sehr gut für diese Übung eignet sich auch Lars Reichows »Schulstunde« (1995), ein Kabarett-Beitrag über eine Musikstunde.

Weniger geeignet ist dagegen die individuelle Analyse von Video-Aufnahmen aus dem eigenen Unterricht. Wesentlich ertragreicher sind Video-Analysen und Feedbacks in Gruppen (vgl. den Beitrag von Košinár in diesem Heft).

Der zweite Schritt besteht im Training von Methoden, Routinen und Verfahren zum Lernen und Lehren ohne Worte. Hier sind drei Aspekte vorrangig:

  • a)    für ein Unterrichtsklima sorgen, in dem ruhiges Arbeiten möglich ist, in dem es Raum gibt für Aufmerksamkeit, in dem Gesten bewusst wahrgenommen werden (vgl. die Beiträge von Schweizer, Meis/Rhode und Nitsche), so dass es zu einer Kommunikation ohne Worte in der Klasse kommen kann;
  • b)    stärkere Bewusstheit, wie sich die Lehrkraft ohne Worte »konstituieren« und Selbstkontrolle erhöhen kann (vgl. Beiträge von Nitsche und Kaiser);
  • c)    Erfahren und Üben der Vielfältigkeit und Differenziertheit nichtsprachlichen Ausdrucks.

Diese Aspekte sind auch für die Klasse wichtig, auch sie muss Lernen ohne Worte üben. Interessante Verfahren sind hier, für begrenzte Unterrichts- oder Arbeitsschritte neue Verhaltens- oder Handlungsweisen im Sinne eines Probehandelns einzuüben und sich deren Wirkung dann beschreiben zu lassen (z. B. einen Unterrichtseinstieg auf eine andere Weise durchzuführen) oder systematisch Mimik und Gestik zu üben – immerhin sind Menschen fähig, bis zu einer Viertelmillion unterschiedliche Gesichtsausdrücke zu zeigen …

Kritische Bereiche nichtsprachlichen Handelns im Unterricht

Der dritte Schritt für eine Verbesserung des Lehrens und Lernens ohne Worte ist die Auseinandersetzung und kollegiale Absprache über kritische Bereiche, z. B.:

Was sind angemessene Nähe und sinnvoller Abstand?
Abstand beziehungsweise Nähe der Lehrkraft zu Schülern werden empfunden als Ausdruck der persönlichen Einstellung zu ihnen. Dabei geht es z. B. um deutliche Signalisierung von Distanz (mehr als 3,5 Meter, vgl. Hansen 2010) oder sehr großer Nähe (wenn der Armlängen-Abstand unterschritten wird). Die Frage von Abstand/Nähe ist besonders in interkulturellen Zusammenhängen von Bedeutung, wenn hier unterschiedliche Wertvorstellungen bestehen.

Wann sind Berührungen erlaubt oder verboten?
Trost zu spenden, Ermunterung zu geben, Mitgefühl und Begeisterung zu zeigen, das geht oft am besten über Berührungen: ein Schulterklopfen, in den Arm nehmen. Auch im normalen Fachunterricht kommt es immer wieder dazu, dass Lehrkräfte Schüler berühren (müssen), bei der Anleitung im Sport- oder Kunstunterricht, bei Experimenten in den Naturwissenschaften. Berührungen sind immer auch Ausdruck von Beziehung und Nähe. Durch angemessenen Umgang mit Berührungen kann der Lehrer in der Klasse ein Klima der Verbundenheit schaffen. Voraussetzung dafür ist das Einverständnis der Schüler. Zugelassene Bereiche sind grundsätzlich nur Kopf, Schultern und Hände.

Wo soll ich als Lehrer meinen Platz in der Klasse haben?
Es ist kein Zufall, wo Lehrkräfte sich in der Klasse aufhalten: Sie verschanzen sich oder sind allgegenwärtig, zeigen Hinwendung oder Abwendung. Besonders beim Lehrerraumprinzip ist diese Frage wichtig: Ein Lehrer, der sein Pult an die Seite stellt und während der Übungsphasen der Klasse dann mit dem Rücken zu den Schülern an seinen Unterlagen arbeitet, gibt ein eindeutiges Sig­nal von Abwendung oder Abspaltung – ebenso wie ein Lehrer, der immer vorn auf dem Pult sitzt, die Beine baumeln lässt. Im einen Fall signalisiert es Desinteresse, im anderen Falle Inkongruenz: Ich darf mich entspannen, ihr nicht. – Ein wichtiges Kriterium für den Platz in der Klasse ist das der Gegenwärtigkeit: Gut sind Plätze oder Bewegungsmuster, die Schülern signalisieren: Ich bin aktiv anwesend, ansprechbar.

Wie ist mein eigenes persönliches Auftreten?
Selbst wenn man sich an keine Inhalte mehr aus dem Unterricht einer Lehrkraft erinnern kann, so bleiben doch Bilder von deren Auftreten: Hat sie (nach Knoblauch, Alkohol) gerochen? Beugte sie sich bei der Kontrolle der Hausaufgaben immer weit zu den Schülern herunter und flüsterte ihnen in die Ohren? Bekamen die Schüler der ersten Reihen immer die Spucke mit, wenn die Lehrervorträge besonders engagiert waren? War die Kleidung sauber, gepflegt? – Für Schüler sind solche scheinbaren Kleinigkeiten des Auftretens oft Auslöser für Abneigung und Abwehr. Wenn es in einer Schule Regeln für Schülerkleidung gibt (z. B. keine Mützen im Unterricht) – welche Regeln gelten dann für Lehrkräfte?

Bin ich eigentlich ironisch?
»Ella, nimm du die Aufgabe, die ist ja leicht!« – Ob die Schülerin diesen Satz als bloße Aufforderung oder auch als ironischen Kommentar über ihre Leistungen auffasst, hängt ab von dem wortlosen Kommentar, der diesen Satz begleitet. Ironie ist oft gar nicht beabsichtigt, entsteht ungewollt durch Körpersprache und Handeln. Wie kann man in der Klasse ein Klima schaffen, in dem Ironie möglich ist?

Was mache ich – ohne Worte – bei Gruppenarbeit?
Gruppenarbeitsphasen sind für das Lehren und Lernen ohne Worte eine Herausforderung: Ständiges Herumgehen durch die Gruppen wird schnell verstanden als Misstrauen und Kontrolle von außen. Ist der Lehrer abwesend oder erledigt er andere Aufgaben (Klassenbuch, Korrekturen), zeigt er Desinteresse und macht deutlich: So wichtig ist es auch nicht. Gruppenarbeit erfordert die Anwesenheit des Lehrers in der Klasse und in den Gruppen – meistens ohne Worte, aber aktiv an der Gruppenarbeit interessiert: durch Mitschreiben, Beobachtung, Feedback.

Immer Vorbild sein?
Gerade im nichtsprachlichen Bereich sind Lehrkräfte Vorbilder: Sie zeigen durch ihre Körperhaltung und Gestik, wie offen oder verschlossen sie sind. Was Schüler von Lehrern erwarten können, sehen sie an der Art und Weise, wie Lehrer die Arbeitsumgebung gestalten, wie sie sich für das Klima in der Klasse einsetzen. Vor allem achten Schüler (und Umwelt) auf Inkongruenz zwischen dem Gesagten und dem Handeln: Muss man in der Klasse einen Lehrer begrüßen, wenn der selber einen im Treppenhaus nicht grüßt? Muss man pünktlich kommen, wenn Lehrer zu spät kommen? Muss man leserlich schreiben, wenn man die Schrift des Lehrers nicht entziffern kann?

In allen kritischen Bereichen geht es immer um Gegenseitigkeit, um die Fähigkeit, über das Lehren und Lernen ohne Worte auch sprechen und reflektieren zu können. Oder um es anders zu sagen: Lehren und Lernen ohne Worte kann man erst richtig, wenn man auch darüber sprechen kann.

Die Beiträge dieses Heftes

Die Beiträge dieses Heftes greifen die Fragen des Lehrens und Lernens ohne Worte auf drei Ebenen auf: Zuerst gehen Schweizer und Nitsche darauf ein, wie in der Klasse ein Klima für solches Lehren und Lernen erreicht und wie Aufmerksamkeit für nichtsprachliches Lernen geschaffen werden kann. Hier geht es vorrangig um die Gestaltung von Räumen und Arrangements, Stille als etwas Positives herzustellen und nonverbale Kommunikation in diesem Sinne zu nutzen. Die folgenden Beiträge von Meis/Rhode und Košinár stellen die Reflexion und Veränderung des individuellen Lehrerverhaltens bei nichtsprachlicher Kommunikation in den Vordergrund, während der Beitrag von Kaiser die wechselseitige nichtsprachliche Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern genauer untersucht. Im abschließenden Beitrag von Reimann geht es darum, wie man Körpersprache auch zum – theoretischen – Gegenstand im Fremdsprachenunterricht machen und dabei über die Entdeckung von sprachlichen und interkulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden auch etwas über die eigene Körpersprache lernen kann.

Literatur

  • Hansen, Jacqueline (2010): Teaching without talking. In: Phi Delta Kappan H. 92/2010, S. 35 – 40
  • Reichow, Lars (1995): Die Schulstunde. Auf: Allerhöchste Tastenzeit. Roof. Auch: http://www.youtube.com/watch?v=Xega4pIp62E

Dr. Gerhard Eikenbusch ist Schulleiter und Mitglied der Redaktion von PÄDAGOGIK.
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E-Mail: gerhard.eikenbusch(at)telia.com


Aus: Pädagogik 10/2012