Wenn Schülern wichtige Voraussetzungen fehlen

Wenn Schülern wichtige Voraussetzungen fehlen
Umgang mit Lücken als didaktische Herausforderung

Oft haben Lehrerinnen und Lehrer den Eindruck, dass ihr Unterrichtsalltag zu einer Sisyphos-Arbeit im Kampf gegen Lücken ausartet. Wie soll Lernen gelingen, wenn sich bei Schülern immer wieder erschreckende Defizite im Vorwissen und in grundlegenden Kompetenzen auftun? Der vorliegende Beitrag eröffnet eine differenzierte Sicht auf Lücken und klärt, worin die didaktische Herausforderung im Umgang mit ihnen besteht.

»Lücke« – ein Wort der didaktischen Alltagssprache
Auf das Wort »Lücke« als Kennzeichnung für einen didaktischen Sachverhalt stößt man in wissenschaftlichen pädagogischen Texten nur selten; als Begriff in pädagogischen Fachlexika taucht es gar nicht erst auf. In anspruchsvolleren Texten findet sich das Wort allenfalls in den Verbindungen »Bildungslücke« und »Mut zur Lücke« – im erstgenannten Zusammenhang als Hinweis auf etwas, was man als gebildeter Mensch wissen sollte, aber (leider) nicht weiß, im letzteren meist als pragmatisches Plädoyer für exemplarisches Lehren, als Appell gegen einen enzyklopädischen Perfektionismus.

Neben der etablierten, auf Unterricht bezogenen erziehungswissenschaftlichen Fachsprache gibt es jedoch eine Sprachebene, die man als schulischen Alltagsjargon oder didaktische Alltags(fach)sprache bezeichnen könnte: Hier ist das Wort »Lücke« gang und gäbe: Lehrerinnen und Lehrer nutzen es im Alltag schulischen Lernens ebenso wie Schüler und Eltern, um – im Wesentlichen – auf Lern- und Wissensdefizite hinzuweisen. »Lücke« gehört damit als Begriff in die gleiche Kategorie wie »Stoff«, »Pensum«, »Strafarbeit«, »büffeln«, »aufbrummen«, »drannehmen« und vieles Andere. Derartige Begriffe, die in der Schule für die alltägliche Kommunikation zwischen den Beteiligten eine wichtige Rolle spielen, ausmerzen oder durch (oft nur vermeintlich) präzisere erziehungswissenschaftliche Begriffe ersetzen zu wollen, ist weder sachdienlich noch erfolgversprechend.

Für das Thema des vorliegenden Hefts – »Mit Lücken umgehen« – gehen wir, die Autorinnen und Autoren, vom didaktischen Alltagsbegriff der Lücke aus, um ein durchgängiges Problem schulischer Arbeit näher zu beleuchten – dass Schülern nämlich oft wichtige Voraussetzungen für ihr Lernen und für das fundierte Fortschreiten ihres Lernens fehlen. In konkreten Erfahrungsberichten, Unterrichtsvorschlägen und systematischen Erörterungen werden beispielhaft Lösungsansätze vorgestellt, wie man Lücken identifizieren kann, wie man (erkannte) Lücken schließen kann und wie man wahrgenommene Lücken oder vermeintliche Lücken produktiv für das weitere Lernen nutzen kann.

»Mit Lücken umgehen« lässt sich auf sehr unterschiedliche Weise: Man kann …

  • sie einfach beklagen – was gerade unter Lehrern sehr verbreitet, aber wenig hilfreich ist;
  • versuchen, sie überhaupt erst einmal genauer zu identifizieren – das setzt ein diagnostizierendes Vorgehen (im weitesten Sinne) voraus;
  • didaktische und pädagogische An­strengungen unternehmen, erkannte und als hinderlich identifizierte Lücken zu schließen oder zu beseitigen;
  • versuchen, Lücken produktiv zu nutzen – jenseits eines eher mechanischen Verständnisses schulischer Lernprozesse;
  • den Unterricht so anlegen, dass dem Entstehen von Lücken so weit wie möglich vorgebeugt wird;
  • schließlich sogar Lücken durch Bewusstmachen fehlenden Wissens und Könnens gezielt erzeugen – und damit Ausgangspunkte für ein motiviertes und selbstkritisches Weiterlernen schaffen.

Zur weiteren Klärung gehe ich nun auf die genannten Aspekte der Reihe nach ein.

Lücken beklagen
Klagen von Lehrern, aber auch von Eltern, Wirtschaftsvertretern, Politikern, Journalisten, über von ihnen wahrgenommene Defizite bei Schülerinnen und Schülern sind Gegenstand unzähliger Alltagsgespräche und Medienberichte – und im Prinzip so alt wie die Schule selbst. Neu in der Berichterstattung der letzten zehn Jahre ist – zumindest in Deutschland – der häufige Bezug auf wissenschaftliche Untersuchungen (TIMSS, PISA), was allerdings den Inhalt der Klagen nur wenig geändert hat. Während für Politik und Öffentlichkeit vor allem die Dimension eines (vermeintlichen) allgemeinen Wissensverfalls und eines befürchteten Verlusts internationaler Konkurrenzfähigkeit im Vordergrund steht, geht es Lehrern meist mehr um ganz konkret wahrgenommene Defizite und Könnenslücken, die aus ihrer Sicht die Durchführung des von ihnen intendierten schulischen (Fach-)Unterrichts erschweren oder partiell sogar unmöglich machen. Der Kern derartiger Klagen von Lehrern lässt sich meines Erachtens einigermaßen präzise wie folgt formulieren: Meinen Schülern fehlen Kenntnisse/Fertigkeiten/Fähigkeiten (kurz: Kompetenzen), über die sie regulär – nämlich explizit laut Lehrplan oder implizit laut den von uns Fachkollegen geteilten Erwartungen – eigentlich zum betrachteten Zeitpunkt (längst) verfügen müssten. Es handelt es sich also um Wissens- bzw. Könnenselemente, die – im schulischen Alltagsjargon gesprochen – bereits »dran waren« oder die »längst hätten dran sein müssen«.

Klagen allein behebt natürlich nicht die beklagten Missstände. Wird über Lücken geklagt, ist damit noch nicht einmal gesagt, ob die Klage zu Recht vorgebracht wird. Ein wichtiger nächster Schritt müsste nun sein, die jeweils beklagte Lücke genauer zu beschreiben, sie zu identifizieren – auch in ihrer Bedeutung für die angestrebten zukünftigen Lernprozesse.

Lücken identifizieren
Viele Lücken, die für einen erfolgreichen Verlauf schulischer Lernprozesse von Lehrern als hinderlich erlebt werden, betreffen einen der folgenden basalen Bereiche, wobei die Unterpunkte hauptsächlich der Illustration dienen und nicht für eine umfassende Systematik stehen:

Elementare (traditionelle) Kultur­techniken

  • Lesen (Sinnerfassung, Flüssigkeit, Wortschatz, …)
  • Schreiben (Handschrift, Rechtschreibung, Grammatik, Zeichensetzung, Ausdruck, Strukturierung von Texten, …)
  • Rechnen und elementare Mathematik (Grundrechenarten schriftlich und mündlich, Verständnis von und Umgang mit Sachaufgaben, geometrische Grundbegriffe, …)

»Erweiterte Kulturtechniken« (im Sinne von Heymann 2008, S. 47)

  • Grundlegende Lern- und Arbeitsmethoden (Stichwort »Lernen lernen«: Texte markieren, Informa­tionen zusammenfassen, mit Nachschlagewerken arbeiten, Methoden des Übens und Wiederholens beherrschen …)
  • Kompetenzen im kommunikativen und sozialen Bereich
  • »Demokratiekompetenz«
  • Computerbezogene (oder allgemeiner: auf den Umgang mit Neuen Medien bezogene) Kompetenzen (Textverarbeitung, »intelligente« Internetrecherchen …)

Fachbezogene Basiskompetenzen (Heymann 2001, S. 7 f.; 2008, S. 45):

  • Mathematik: Bruchrechnung, Term­­umformungen, Gleichungen, Funktionsverständnis, mathematisches (logisches) Argumentieren, elementares Modellieren (u. a. Alltagsprobleme mit Hilfe von Mathematik lösen), …
  • Deutsch: Wortschatz, schriftsprachliche Ausdrucksfähigkeit, literarische Gattungen, …
  • Fremdsprachen: Wortschatz, Aussprache, Alltagskommunikation, …
  • Geografie: elementare Orientierung auf der Erde: Erdteile, Meere, Länder, Städte, Gebirge, Flüsse, …

Diese Liste ließe sich für weitere Fächer fortsetzen.

Als »Lücke« kann sich selbstverständlich auch das Fehlen fortgeschrittener (d. h. »höherer«, nicht-basaler) Wissens- und Könnenselemente herausstellen, wenn neu zu erwerbende Kompetenzen curricular auf ihnen aufbauen. Wie soll man etwa im Mathematikunterricht der Oberstufe verstehen, was eine Stammfunktion ist, wenn man nicht weiß, was das Differenzieren von Funktionen bedeutet?

Lücken fallen Lehrern häufig dadurch auf, dass Schüler bei vermeintlichen Routineaufgaben versagen oder ins »Stolpern« geraten. Lücken können einzelne Schüler betreffen (im einfachsten Fall haben einzelne Schüler durch Fehlen Wichtiges versäumt), aber auch ganze Klassen oder signifikante Teile einer Klasse.

Wichtige Hinweise, wie sich Lücken und, soweit möglich, auch ihre Ursachen systematisch aufspüren lassen, gibt Philipp Rackwitz in seinem Hintergrundbeitrag. Er zeigt die Grenzen standardisierter Tests auf und plädiert für eine dialogisch angelegte Förderdiagnostik (»dialogische Lernbeobachtung«), die die Schüler ernst nimmt und ihren eigenen Blick auf ihre Stärken und Schwächen sys­tematisch mit einbezieht.

Lücken schließen
Weiß man, woran es den Schülern mangelt, die einem anvertraut sind, beginnt die eigentliche Arbeit. Gerade dann, wenn es nicht um fachliche Defizite einzelner Schüler geht, sondern um grundlegende soziale Kompetenzen, die das gemeinsame Arbeiten in der Klassengemeinschaft behindern, wenn nicht unmöglich machen, ist die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer als ganze Person gefordert; man braucht einen langen Atem, viel Geduld, Hartnäckigkeit, Vertrauen in sich selbst und in die Kinder sowie eine Menge pädagogischer Phantasie. Das zeigen eindrucksvoll die Erfahrungen von Steffi Becker mit ihrer Gymnasialklasse, die zu Beginn aus vielen kleinen »Prinzessinnen« und »Prinzen« besteht, und die von Peer Ball-Engelkes und Sigrid Esmaeili, die sich als Klassenlehrer-Tandem an einer Gesamtschule der mühevollen Aufgabe widmeten, eine 5. Klasse mit besonders schwierigen Startvoraussetzungen auf den Weg zu bringen. Gerade der zweite Bericht verdeutlicht, dass die in diesem Falle gravierenden Defizite in elementaren Kulturtechniken und fachlichen Basiskompetenzen erst erfolgversprechend angegangen werden können, wenn die sozialen Pro­bleme (Defizite in den »erweiterten Kulturtechniken«) gelöst werden können. Soziales und fachliches Lernen gehen Hand in Hand, lassen sich nicht voneinander trennen.

Sowohl um das Diagnostizieren als auch das Schließen von Lücken, und zwar im Fach Mathematik, geht es in dem Ansatz, den Susanne Prediger, Stephan Hußmann, Timo Leuders und Bärbel Barzel entwickelt haben. In 15 Rechenbausteinen werden die curricularen Anforderungen an arithmetisches Basiskönnen zu Beginn des 5. Schuljahrs gebündelt, die als Ausgangspunkt für eine diagnosegeleitete und individuelle Förderung der Kinder dienen. Der Selbsteinschätzung der Kinder im Blick auf ihr arithmetisches Können (Selbsttests) kommt für das weitere Vorgehen in den Klassen, die dieses Programm nutzen, eine besondere Bedeutung zu.

Lücken nutzen
Wenn im schulischen Alltag und in Elternhäusern über Lücken von Schülern geklagt wird, verbirgt sich dahinter häufig eine defizitorientierte Sichtweise: Es wird lediglich ein Mangel wahrgenommen, dem möglichst abzuhelfen ist. Wenn sich dieses Abhelfen dann, wie so oft, als schwierig und zeitraubend herausstellt, kann rasch Resignation die Folge sein. Die Wege, die die Autorinnen und Autoren der bereits erwähnten Beiträge beim Diagnostizieren und Schließen von Lücken einschlagen, lassen erkennen, dass sie keineswegs einer solchen defizitorientierten Sichtweise anhängen: Schüler nicht vorwiegend als Mängelwesen zu betrachten, ist ihnen ein Anliegen, das sie miteinander verbindet.

Noch einen Schritt weiter geht Josef Leisen in seinem Beitrag: Er betrachtet Lücken als selbstverständliche Elemente eines jeden Lernprozesses und sieht in ihnen Lernchancen, die es produktiv zu nutzen gelte. Aufbauend auf einem solchen konstruktiven Verständnis von Lücken stellt er ein Modell des Lehr-Lern-Prozesses für den Unterricht in Sachfächern und eine Reihe darauf bezogener Hilfen in Form von »Methoden-Werkzeugen« vor, die sich zum Arbeiten an und Schließen von Lücken eignen. Die Anwendung zweier dieser Werkzeuge wird anhand konkreter Beispiele erläutert.

Lücken vorbeugen
Wenn Lücken notwendig zum Lernen dazugehören, scheint es wenig aussichtsreich oder sogar didaktisch naiv, sie um jeden Preis vermeiden zu wollen. Umgekehrt wäre es natürlich höchst kontraproduktiv, Unterricht so anzulegen, dass möglichst viele Lücken entstehen. Ein Ergebnis guten Unterrichts sollte der Aufbau von Kompetenzen sein; schlechter Unterricht ist u. a. daran zu erkennen, dass keine oder nur ein Teil der anzustrebenden Kompetenzen aufgebaut werden, dass – mit anderen Worten – das Wissen und Können der Schüler eben lückenhaft bleibt. Nicht jede Lücke lässt sich produktiv nutzen, und vor allem dann, wenn sich die Lücken häufen, erweisen sie sich nicht als Triebkraft, sondern als Hindernisse für nachhaltige Lernprozesse.

Lutz Stäudel stellt in seinem Beitrag zwei Instrumente vor, mit deren Hilfe sich ein kompetenzorientierter Unterricht auf längere Sicht so planen lässt, dass die Entstehung lernbeeinträchtigender Lücken möglichst von vornherein vermieden wird. Er weist darauf hin, dass sich diese Instrumente, das ursprünglich auf U. Klinger zurückgehende Planungsraster und die »Analyse-Spinne«, mit besonderem Gewinn für die kooperative Planung und Reflexion von Unterricht in Fachkollegien einsetzen lassen. Insbesondere lässt sich seine Analyse-Spinne auch für das Überprüfen der Angemessenheit von Aufgabenstellungen einsetzen.

Lücken bewusst machen
Abschließend noch ein letzter Gedanke, der das Thema »Lücken« in einen etwas anderen Kontext stellt: Ein Kennzeichen von Bildung ist es, sich der Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit des eigenen Wissens und Könnens bewusst zu sein. Unser Verstehen der Welt, in der wir leben, und der Regeln und Zufälle, die die Abläufe in ihr bestimmen, kann immer nur ein vorläufiges sein. Unterricht kann auf die Begrenztheit des Wissens und Lücken im Verstehen gezielt aufmerksam machen und dadurch Anstöße zur Erweiterung des Horizonts geben. Er kann Schülerinnen und Schüler anregen, sich bewusst zu machen, an wie vielen Stellen ihr Wissen (und in wie vielen Fällen das heutige Wissen der Menschheit) noch nicht ausreicht, um bestimmte Sachverhalte wirklich zu verstehen und ihnen auf den Grund zu gehen. Auf diese Weise lässt sich intellektuelle Neugier wecken, lassen sich möglicherweise Keime für eine wissenschaftliche Fragehaltung einpflanzen – immerhin wird wissenschaftlicher Fortschritt ja wesentlich angestoßen und in Gang gehalten durch das Entdecken immer neuer Lücken in unseren Theorien und Erklärungsmodellen.

Literatur

  • Heymann, H. W. (2001): Basiskompetenzen – gibt es die? In: Pädagogik H. 4/2001, S. 6 – 9
  • Heymann, H. W. (2008): Kulturtechniken – neu betrachtet. In: Pädagogik H. 7 – 8/2008, S. 44 – 48
  • Heymann, H. W. (2009): Lernen verstehen, anleiten und begleiten. Diagnostizieren und Fördern als schulische Handlungsfelder. In: Pädagogik H. 12/2009, S. 6 – 9

Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 5/2011