Pubertät

Pubertät
Herausforderung für Schüler und Schule

Pubertät bedeutet Unsicherheit und Überforderung auf allen Seiten. Welche Zugänge gibt es zu den Fragen dieser Entwicklungsphase? Was sind Entwicklungsaufgaben von Pubertät? Wie kann Schule und Unterricht die besonderen Anforderungen von Pubertät und die besonderen Anforderungen von Schule konstruktiv miteinander in Beziehung bringen? Die Einführung präzisiert die Fragen und beschreibt den Zugang dieses Schwerpunkts.

»Du musst heute in die 8a? Da ist derzeit kein Durchkommen … da bist du nicht zu beneiden.« So oder ähnlich werden sie häufig kommentiert – die Kinder und Jugendlichen in den Klassen sieben bis neun. Die Schülerinnen und Schüler geben sich mal cool, mal aggressiv, dann wieder vernünftig oder anhänglich und machen das Unterrichten anstrengend. Welchen Zugang gibt es zu diesen Schülerinnen und Schülern?

Die Einführung skizziert den Zugang dieses Heftes und zeigt, wo sich ergänzende Zugänge finden lassen.

Fallorientierter Zugang

Die Diskussion von Fragen der Pubertät könnte an Hand einer Reihe von Fallgeschichten diskutiert werden, in denen Lehrer(innen) von Ratlosigkeit, Verzweiflung und Scheitern berichten. Die Erwachsenen erfahren ihre Grenzen – oft drastisch und auch verletzend.
Über diese Erfahrungen zu sprechen ist entlastend. Dafür gibt es beispielsweise kollegiale Gespräche oder Supervisionsgruppen, in denen über solche Erfahrungen gesprochen wird.Wie dieser Zugang insbesondere in schwierigen Fällen genutzt werden kann, zeigt der Beitrag von Vera Affeln zum Fall Tina, bei dem die Kooperation mit externen Experten hilfreich war.

Entwicklungspsychologischer Zugang

Die Diskussion von Fragen der Pubertät kann auch durch Befunde der Entwicklungspsychologie angeregt werden. Dies hat vor genau zehn Jahren Herbert Gudjons in dieser Zeitschrift getan (vgl. PÄDAGOGIK H. 7 – 8/2001). Hier geht es um Auswirkungen einer Verlängerung der Jugendphase, um Veränderungen des Körpers, des Denkens, der Gefühle und um ein verändertes und schwankendes Interesse an Schule (Gudjons 2001). Diese Beiträge sind hochaktuell und können diesen Schwerpunkt gut ergänzen. Zur Entwicklungspsychologie des Jugendalters vgl. auch Baake 2009, Fend 2003 und Hurrelmann 2009.

Regeln, Grenzen, Konsequenzen

Ein dritter Zugang zu den Widersprüchen der Pubertät kann die Thematisierung von »Ordnung und Disziplin« sowie von »Regeln, Grenzen und Konsequenzen« sein. Dieser Zugang reagiert darauf, dass in der Pubertät Ordnungen in Frage gestellt und Auseinandersetzungen gesucht werden und dass der Umgang damit auch in der Schule gestaltet werden muss. Die PÄDAGOGIK-Schwerpunkte von Annemarie von der Groeben (1/2007) und von Peter Daschner (12/2008) diskutieren dies ausführlich und sind ebenfalls als Rahmung und Ergänzung dieses Schwerpunkts von Bedeutung.

Anders lernen: der Zugang dieses Schwerpunkts

In diesem Schwerpunkt konzentrieren wir uns auf die Frage, welche Formen und Inhalte des Lernens geeignet sein könnten, um die besonderen Anforderungen von Pubertät und die besonderen Anforderungen von Schule konstruktiv miteinander in Beziehung zu bringen.

Konkret ist das die Frage danach, wie Schule Raum geben kann für die besonderen Fragen und Interessen der Schüler(innen) in der Pubertät, also für Möglichkeiten der Sinnsuche, für sinnstiftendes Arbeiten und für die Übernahme von Verantwortung? Oder radikaler gefragt: Wie kann schulisches Lernen in der Sekundarstufe I mit ernsthafter Herausforderung und Bewährung verbunden werden und wie können solche Leistungen anerkannt werden?

In der folgenden Einführung des Schwerpunkts von Dawirs/Moll wird deshalb nicht von Problemen der Pubertät, sondern von ihrer Bedeutung für die individuelle Entwicklung und den sich daraus ergebenden Potentialen gesprochen – und zwar aus der Perspektive der Evolution und der Hirnforschung.

Warum Pubertät?

Ralph Dawirs und Gunther Moll rekonstruieren die Pubertät als Phase des Aufbruchs und der Befreiung. Ihr Blick auf die Bedeutung von Pubertät für die Entwicklung der Menschheit hilft den tieferen Sinn dieser psychogenetisch tief verankerten Verhaltensmuster zu verstehen. Was heute belastend ist, ist vor etwa zweihundertvierzig Generationen unverzichtbar für den Generationenwechsel gewesen. Leichtsinn, Mut und Angriffslust waren in der Evolution treibende Kräfte bei der Durchsetzung von Veränderungen.

Ihr Blick auf die Entwicklung des Gehirns zeigt, dass mit der Geschlechtsreife nicht irgendwelche Hormone verrückt spielen, sondern Umbauarbeiten im Gehirn eingeleitet werden; sie erklären den Beginn einer emotionalen Neuausrichtung, die mit emotionalen Verunsicherungen einhergeht.

Diese bislang noch wenig bekannten Perspektiven von Evolution und Hirnforschung machen auch verständlich, wieso die einstigen Erfolgsmerkmale der Pubertierenden heute nicht mehr gefragt sind. Generationen werden nicht mehr abgelöst, sondern bestehen nebeneinander. Die Älteren diagnostizieren »Störungen des Sozialverhaltens«, während die nachwachsende Generation Möglichkeiten der Neuorientierung und der Mitgestaltung suchen.

Die einführende Analyse von Dawirs und Moll zieht keine Konsequenzen für schulische Bildungsarbeit – aber sie wirft die entscheidenden Fragen auf, die in den darauf folgenden schulpädagogischen Beiträgen diskutiert werden: Wie kann schulisches Lernen die Erfahrung von Bildung als Aufbruch, Beteiligung und Bewährung ermöglichen? Und wie kann schulisches Lernen einen Raum eröffnen für die Erprobung von emotionaler Neuorientierung? Diese Fragen ziehen sich als roter Faden durch die Erfahrungsberichte.

Konsequenzen für Schüler und Schule

Auch die anderen Autoren dieses Schwerpunkts diskutieren Pubertät als Potential und Herausforderung – zum Beispiel für eine Veränderung von Schule und Unterricht. Sie zeigen, wie Interessen formuliert, Aufgaben eigenständig bearbeitet und Ergebnisse präsentiert werden, wie Jugendliche bis an ihre Grenzen gefordert werden, wie Unterricht die Suche nach Identität unterstützt und wie das Bedürfnis nach Orientierung, Sinnsuche und Verantwortungsübernahme seinen Platz findet.

All das sind erprobte, wenn auch noch nicht sehr verbreitete Möglichkeiten einer Sekundarstufenpädagogik, die in Ansätzen mit dem zu tun haben, was auch »Entschulung« von Schule genannt wird und letztlich eine Verringerung von Fremdsteuerung zugunsten von Selbstverantwortung meint.

Dies ist aus der Perspektive der Evolution eine Reaktion darauf, dass die nachwachsende Generation in der Pubertät »eigentlich« nicht in der Schule, sondern in der »freien Wildbahn« zuhause ist, wo sie ihre Kräfte erproben kann, um gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten und die Machtübernahme vorzubereiten. Aus dieser Perspektive heißt die Frage: Wie können Schule und Lehrer(innen) Platz machen für die Beteiligungsinteressen der Schülerinnen und Schüler und gleichzeitig da sein, wenn sie gebraucht werden (mehr zum Thema »Selbstregulation lernen« vgl. PÄDAGOGIK 7 – 8/2008).

Dass eine solche Sicht auf Pubertät als besondere pädagogische Herausforderung keine Phantasterei ist, sondern gute Praxis einer Sekundarstufenpädagogik sein kann, konkretisieren die Erfahrungsberichte dieses Schwerpunkts. Zwei Beispiele:

Mike Zergiebel zeigt am Beispiel eines achtwöchigen Projekts im Gesellschaftslehre-Unterricht in der 8. Klasse, wie das Thema »Jugend« im Unterricht aufgegriffen werden kann. Hier wird Raum für Beteiligung, Erprobung und Bewährung eröffnet, weil die Thematisierung der eigenen Fragen und Erwartungen verbunden wird mit der Anforderung, selbst zu forschen, eigenständig zu arbeiten und die Ergebnisse gut zu präsentieren.Interessant ist, dass nicht nur die Schüler(innen) diese Form des Lernens als Herausforderung annehmen, sondern auch der Lehrer anschließend ein entspannteres und auch vertrauensvolleres Verhältnis zu seinen Schüler(inne)n hat.

Christina Borgers und Esther Busse haben Schülerinnen und Schüler beobachtet, die sich gemeinsam mit ihrem Lehrer auf den Weg von Hamburg nach Lübeck machen und dabei durch Straßentheater Unterkunft und Verpflegung erspielen. Sie haben sich für diese Form der »Herausforderung« beworben und folgen damit ihrem Interesse, auf sich selbst gestellt zu sein, etwas Eigenes zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Sie erfahren Schwierigkeiten und gewinnen Selbstbewusstsein, sie erfahren Chaos und gewinnen die Fähigkeit zu Selbstorganisation und Durchhaltevermögen – und sie lernen schließlich, die Erfahrungen dieser besonderen Herausforderung auf Anforderungen der Schule an Disziplin und Selbstregulation zu übertragen.

Zwei Beispiele für insgesamt fünf Erfahrungsberichte, die zeigen, wie Schule Lernen als Herausforderung und Bewährung gestalten kann und wie die Suche nach Identität und das Bedürfnis nach Orientierung, Sinnsuche und Verantwortungsübernahme ihren Platz finden kann. Anregungen dazu, wie die Entwicklungsaufgaben der Pubertät und die Aufgaben von Schule in eine produktive Beziehung gebracht werden können.

Literatur

  • Baacke, Dieter (2009): Die 13 – 18-Jährigen. Weinheim, 10. Aufl.
  • Fend, Helmut (2003): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Opladen, 3.Aufl.
  • Gudjons, Herbert (2001): »Ich will halt anders sein wie die anderen«. Neue Befunde zur Pubertät. In: PÄ­DAGOGIK H. 7 – 8/2001, S. 6 f.
  • Hurrelmann, Klaus (2009): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim
  • PÄDAGOGIK H. 7 – 8/2001: Pubertät
  • PÄDAGOGIK H. 1/2007: Ordnung und Disziplin
  • PÄDAGOGIK H. 7 – 8/2007: Selbstregulation lernen
  • PÄDAGOGIK H. 12/2008: Regeln – Grenzen – Konsequenzen

Dr. Johannes Bastian, Jg. 1948, ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Rothenbaumchaussee 11, 20148 Hamburg
E-Mail: bastian(at)uni-hamburg.de


Aus: Pädagogik 6/2011