Keine Katastrophe – kein notwendiges Übel

Wie man mit Schülerkrisen in der Schule umgehen kann

Aus ganz unterschiedlichen Anlässen können Schüler in Krisen geraten: familiäre Probleme, anstehende Schulübergänge oder -abschlüsse, unerfüllbare Leistungsanforderungen, Scheitern von Freundschaften … Oft werden diese Krisen erst deutlich, wenn sie heftig aufbrechen. Wie kann man als Lehrer Schülerkrisen rechtzeitig erkennen? Wie geht man mit Krisenprozessen um? Kann man auch das Potential von Krisen nutzen?

»Welcher Schüler in Ihrer Klasse hat aktuell eine Krise?« – Diese Frage wird von Lehrkräften meist ohne Zögern beantwortet: Natürlich kennen sie die auffälligen Schüler in der Klasse, natürlich wissen sie, welche Schüler eine schwere Krankheit oder eine auffällige Störung haben. Besonders intensiv gehen sie meist ein auf die »Problemfälle«, bei denen sie massiven Entscheidungs- und Handlungsdruck spüren. Im Schulalltag nehmen Lehrkräfte vor allem wahr, was für sie und die Schule zu einem Problem werden kann. Besonders aufmerksam sind sie bei Problemen mit Tendenz zur Ausweitung in die Klasse (z. B. Sucht), bei der Gefahr der Destabilisierung der Klasse (vor allem bei ADS, Asperger-Syndrom) oder bei der Gefährdung der Schullaufbahn von Schülern (familiäre Krisensituationen, Absenz). Hier greifen sie auch ein, oft in Zusammenarbeit mit anderen Kollegen oder Einrichtungen.

Setzt man weiter nach, dass es eigentlich nicht um die »Problemfälle« gehe, sondern um die Schüler, die in Krisen steckten, z. B. in persönlichen oder familiären Krisen, werden die Antworten unsicherer. Worin denn überhaupt der Unterschied zwischen Krisen und Problemfällen bestehe? Ob man in Schüler hineinschauen und wissen könne, ob sie Krisen haben, ob das nicht ihre Privatsache sei.

Was eine Krise ist, entscheiden die Betroffenen – nicht die anderen

Dass Lehrkräfte eher »Probleme« oder »schwierige Situationen« wahrnehmen als von »Schülerkrisen« oder »Krisensituationen« zu sprechen, hat vor allem zwei Ursachen:

  • Etwas, das man als Problem ansieht, lässt sich eingrenzen und einordnen – es beruht auf einem Fehler oder einer fehlerhaften Wahrnehmung, die man verändern kann. Hier scheint die Aufgabe der Lehrkraft ganz klar: Sie kann und muss versuchen, die Probleme zu lösen (beziehungsweise dabei zu helfen), weil sie eine Verantwortung dafür hat, dass die Schulziele erreicht werden.
  • Was eine Krise ist, lässt sich schwieriger erkennen und bestimmen. Manche Krisen erscheinen zur normalen Entwicklung zu gehören (»Pubertätskrise«), während andere die Entwicklung heftig stören können. Was in solchen Schülerkrisen – wenn man sie überhaupt wahrnimmt – die Aufgaben der Lehrkraft sein könne, ist unsicher: Darf sie eingreifen und helfen, wenn sie es denn könnte? Hat sie eine Verantwortung, dem Schüler in seiner persönlichen Krise zu helfen?

Beobachtet ein Lehrer, dass ein Schüler sich in der Klasse merkwürdig verhält, stört oder unentschuldigt fehlt, und definiert er dies dann als »Problem« oder als »Schülerkrise«, dann ist mit der jeweiligen Definition auch festgelegt, ob und wie er eingreifen kann, wie er sich verhalten soll.

Dass Lehrkräfte vorzugsweise etwas als »Problem« und nicht als Krise sehen (möchten), wirkt entlastend: Sie bannen so die Unklarheit, sie schaffen sich Handlungsmöglichkeiten und agieren. Aber immer wieder müssen sie dann erfahren, dass es sich nicht um einfach lösbare Probleme handelt, da sich neue Aspekte auftun oder die Schüler für eine Lösung gar nicht zugänglich sind oder es gar keine Lösung gibt. Ob nämlich etwas (nur) ein hoffentlich lösbares Problem oder aber es eine Krise ist, das entscheiden nicht Außenstehende, sondern die Betroffenen selbst. Denn zentrales Kennzeichen von ›Krise‹ ist die Erfahrung der Betroffenen, dass etwas nicht mit ihrem Bild von sich selbst und mit ihren Lebensentwürfen übereinstimmt. Sie erkennen, dass ihr Selbstkonzept in Veränderung ist und in ihnen etwas umschlägt.

Wenn ein 16-jähriger Schüler sich durch Handy-Kosten überschuldet hat, kann das für ihn und andere nur ein Problem sein, für das eine praktische Lösung gefunden werden muss. Es kann für ihn aber auch eine Krise sein, wenn er z. B. realisiert, dass er die Kontrolle über sich verloren hat, wo er sich doch so stark fühlte. Und er kann auch dann noch in der Krise bleiben, wenn das Problem konkret gelöst ist.

Die Frage »Welcher Schüler in Ihrer Klasse hat aktuell eine Krise?« kann man als Lehrkraft deshalb nicht nach dem Augenschein beantworten. Man kann es vielleicht, wenn man mit den Schülern darüber spricht, sie fragt. Und es macht überhaupt keinen Sinn, einem Schüler definitorisch erklären zu wollen, er befände sich gar nicht in einer Krise, sondern er habe nur ein Problem, das lösbar sei …

Krisen als essentielle Elemente von Entwicklung, Veränderung und Bewältigung

Krisen sind notwendig, um eigene Zielsetzungen zu entwickeln, Erfahrungen zu integrieren und Perspektiven zu entwickeln. Deshalb sind sie kein notwendiges ›Übel‹, das es möglichst zu vermeiden oder schnell hinter sich zu bringen gilt. Vielmehr sind sie unabdingbares Element für die Entwicklung der Identität und für die Verarbeitung elementarer Veränderungen von außen (z. B. Tod von Angehörigen, Unfall). Erikson (1966) spricht in diesem Zusammenhang von ›Entwicklungskrisen‹. Krisen können einen schöpferischen Verarbeitungs-, Bearbeitungs- und Lösungsprozess antreiben. Sie können Übergangsraum vom Bestehenden zu etwas Neuem schaffen und helfen, Überlebens- und Gestaltungsmuster zu verstehen oder zu finden. Krisen nicht durchleben zu können, nicht durch sie hindurchzukommen, bedeutet die Gefahr des Steckenbleibens, der Stagnation und Resignation.

Für Lehrkräfte, für Eltern und auch für die Jugendlichen ist es selbst meist eine Selbstverständlichkeit, dass Krisen wichtig für die Entwicklung der Jugendlichen und die Bewältigung ihrer Erfahrungen sind. Gleichwohl fällt es ihnen schwer, Krisen wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen – es sei denn, es tauchen Probleme auf …

Dass Krisen in der Schule nicht gesehen werden (beziehungsweise erst, wenn sie aufbrechen oder Probleme bereiten) oder sie ganz schnell gelöst werden sollen, liegt vor allem an zwei Dingen:

  • Krisenwahrnehmung und -bewältigung von Seiten der Lehrkräfte,
  • Krisenprozess der Jugendlichen.

Lehrkräfte: Wenn Krisen blind machen

Krisen bei anderen wahrzunehmen setzt in der Regel auch die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Beschäftigung mit der eigenen Person, den eigenen Wünschen und Perspektiven voraus. Wer sich als Lehrkraft ausschließlich als unpersönliche Fachperson definiert (»Ich bin Fachlehrer und kein Erzieher!«), versucht sich darzustellen als jemand, für den Krisen keine Rolle spielen. Wenn das oberste Ziel der Selbstpräsentation einer Lehrkraft ist, »persönliche Dinge keine Rolle spielen zu lassen«, werden Krisen nicht wahrgenommen. Der Versuch, den eigenen Unterricht als krisenfreien Raum zu definieren, schafft Erleichterung, reduziert Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite beraubt er den Unterricht auch eines wesentlichen Entwicklungsmoments.

Das andere Extrem, sich stark auf die Wahrnehmung von Krisen zu konzentrieren und alle Krisen schon im Entstehen erkennen zu wollen, führt ebenfalls zu einem schwierigen Umgang mit Krisen. Sie dienen dann mehr zur Selbstverwirklichung und zum Aufbau eines übergroßen Lehrer-Ichs nach dem Motto: »Ich kann Krisen, ich kann helfen!«

Lehrkräfte, die so mit Krisen umgehen, haben vielfach keine Vorstellungen von deren prozesshaften Verlauf, weder bei ihnen selbst, noch bei den Schülern. Sie wissen nicht, dass in Krisen

  • Konfrontation mit den zu leistenden Veränderungen zentral ist;
  • Phasen der Angst und Wut durchlaufen werden;
  • durch Auseinandersetzung mit den Anforderungen neue Kräfte für Veränderung geweckt werden;
  • elementare Veränderungen ausgelöst werden, meist einzelne Verarbeitungsschritte (vom Schock über Bearbeitung bis zur Integration) durchlaufen werden.

Die zweite mögliche Ursache für ein Scheitern der Lehrkräfte im Umgang mit Schülerkrisen liegt in unangemessenen Reaktionen auf Schülerverhalten beziehungsweise Krisenanzeichen:

  • a)    Ignorieren – Lehrkräfte entscheiden sich, Krisen aus dem Unterricht auszublenden: Das sei nicht ihre Sache, sie seien keine Psychologen und dafür nicht ausgebildet, sie hätten keine Zeit … Wie immer auch das Ausblenden der Krise begründet wird, ist es für den Schüler ein Signal: Dieser Lehrer kann oder will nicht an meiner Entwicklung mitwirken.
  • b)    Feuerwehr spielen – Ist ein Krisenzeichen einmal erkannt, wird (panisch) das ganze Arsenal an Hilfe und Intervention aufgeboten: Krisen sollen schnell beendet werden (»damit du dich wieder konzentrieren kannst«), der Lehrer soll so bald wie möglich wieder die Kon­trolle in der Klasse erhalten.
  • c)    An sich binden – Zwar weiß die Lehrkraft nicht, wie sie in der Krise helfen kann, aber sie muss etwas tun, um sich keine Vorwürfe machen zu müssen. Deshalb baut sie intensive Kontakte zum Schüler in der Krise auf, gibt ihm die Privat-Telefonnummer, tauscht Mails aus. Dabei hilft die Lehrkraft vor allem sich selbst und verschleiert die eigene Unsicherheit.
  • d)    Krisensuche – Taucht irgendwo auch nur ein kleines Problem auf, wird dahinter sofort eine Krise vermutet. Die Lehrkraft ist besessene Krisensucherin, muss helfen und retten. Sie will spüren, dass sie zu etwas gut und wichtig ist. Schüler in Krisen sind für sie Möglichkeiten, ihr Retter-Ego abzusichern.
  • e)    Allwissend schweigen – Auch wenn die Lehrkraft die Krise sieht, spricht sie die Schüler nicht darauf an, sondern bleibt auf dem Beobachterposten, schweigt bedeutungsvoll. Sie will wirken, als wüsste sie alles. Erst wenn der Schüler die Krise bewältigt hat, lüften sie das Geheimnis, dass sie eigentlich immer alles wussten, z. B. in Kommentaren unter Arbeiten: »Man sieht, du hast jetzt zu dir gefunden …«. Allwissend zu schweigen schafft eine wohlige Aura der unnahbaren Überlegenheit.

Welche Form der Reaktion Lehrkräfte auch wählen, wie gut sie es auch meinen und selbst wenn sie sich eigentlich heraushalten wollen: Ihre Reaktion ist immer auch eine Intervention in der Schülerkrise. Wie immer auch der Lehrer sich verhält (gezielt oder unbewusst), wirkt dies darauf ein, wie der Jugendliche den Krisenprozess bewältigt: Werde ich ernst genommen? Wo und wie sieht der Lehrer mich? Wie komme ich (nicht) an mit meinen Fragen?

Schüler: die Krisen mit der Krise

Die Schwierigkeiten, die Lehrkräfte häufig im Umgang mit Krisen ihrer Schüler haben, finden sich – wenn auch in abgewandelter Form – in den Bewältigungsstrategien der Krisen bei den Schülern wieder. Man kann grob fünf Problembewältigungs-Typen unterscheiden (vgl. Lieb 2009a):

  • a)    Verkenner – streiten eigene Krisen ab, vermeiden jede Form von »Krisennähe« oder von Lektüre oder Gespräche über ähnliche Themen.
  • b)    Problemfixer – gehen sofort die Krise an, suchen nach Patentrezepten, wollen etwas gegen die Krise tun.
  • c)    Drumherumredner, Verrätseler – deuten gegenüber Kameraden und Lehrern an, eine Krise zu haben, wollen dies aber nicht erklären, fragen gleichzeitig aber immer wieder nach, problematisieren.
  • d)    Krisenjunkies – können nicht ohne Krisen leben. Deshalb wird immer nach jemandem gesucht, dem man Krisen erzählen kann oder der Krisen haben könnte.
  • e)    Alles-OK-ler – versuchen Krisen zu verbergen. Für sie ist immer alles in Ordnung. Und wenn sie die Krise bewältigt haben, können sie stolz darauf sein, es allein geschafft zu haben.

Erschweren schon die Formen der Krisenbewältigung und die Arten der Krisenintervention an sich die produktive Verarbeitung von Krisen, so kann erst recht das Zusammentreffen unterschiedlicher Bewältigungs- und Interventionsmechanismen krisenverstärkend sein. Treffen Lehrkraft und Schüler sich auf der gleichen Bewältigungs- beziehungsweise Interventionsebene, z. B. der Feuerwehr-Lehrer auf den »Pro­blemfixer«, der schnell alle Probleme beseitigen will, wird aus der Krise sofort eine schnelle Problemlösung, die den Entwicklungsprozess nicht fördert. Treffen Lehrer und Schüler auf unterschiedlicher Ebene aufeinander, kann ein Krisen-Zusammenstoß die Folge sein: Der Jugendliche, der seine Krise zu verbergen versucht (»alles ok«), macht es dem ignorierenden Lehrer leicht – mit der Folge, dass die Entwicklungskrise unbearbeitet ganz beim Jugendlichen bleibt.

Wie soll man mit Schülern in Krisen umgehen? Eingreifen?

Während auf den Ebenen b) – d) (vgl. Abb. 1) die Krisen thematisiert werden und damit für eine Intervention durch den Lehrer direkt zugänglich werden, so ist es besonders schwierig, auf den Ebenen a) und e) Zugang zur Bearbeitung der Krisen zu finden, wenn von Lehrerseite ignoriert oder allwissend geschwiegen wird oder wenn – noch schwieriger – von Seiten des Schülers die Krise verkannt oder verheimlicht wird.

Hier sind zwei Formen zu unterscheiden:

  • »stille Phasen« in einer Krise, wenn der Betroffene oder Helfer die Krise nicht thematisieren beziehungsweise offenlegen wollen;
  • »stille Krisen«, wenn vor allem der Betroffene die Krise mit sich allein ausmachen will, weil er keine Hilfe sieht oder haben möchte.

Diese Unterscheidung ist kritisch im Hinblick darauf, wie Lehrkräfte sich zur Krise verhalten sollten. Während »stille Phasen« in Krisen häufig ein wichtiges Stadium der Reflexion und des Abwartens sind, des Wartens auf einen Lösungsansatz oder Hilfe, so sind »stille Krisen« Ausdruck des Wunsches nach Alleinsein, nach Autonomie.

Wie sollen sich Lehrkräfte jetzt verhalten, wenn sie Schüler in Krisen sehen?

Eigentlich gilt: Am besten ist, wenn Lehrkräfte erst dann Schüler auf Krisen ansprechen oder direkt intervenieren, wenn sie vom Schüler einen Auftrag dazu bekommen haben. Direkte Ansprache und Auftrag sind aber gerade bei Schülerkrisen eher selten, stehen oft erst am Ende der Krise. Häufiger sind verdeckte Krisensignale:

  • Inaktivität, dauerndes Ratsuchen, sich nicht mehr entscheiden können
  • Müdigkeit, Unlust, Resignation, unsichere Aktivität
  • Hinweise auf eigene Verwirrung, Chaos (»ich blicke nicht mehr durch …«)
  • Wutausbrüche, Ausdruck von Hoffnungslosigkeit (»nichts läuft, was soll das?«)
  • Beschuldigungen, Katastrophismus (»Nur wegen Englisch werde ich fliegen …«)

Bei so indirekt deutlich werdenden Krisen kann man nicht darauf setzen oder warten, bis der Schüler die Lehrkraft anspricht und um Hilfe bittet. Kennzeichen der Krise ist ja gerade, dass in solchen Selbstfindungsprozessen die Ziele noch unsicher sind, Unklarheit über das eigene Verhalten besteht.

Es ist ein kleines Kunststück – und immer auch ein Risiko – Schüler auf indirekte Krisensignale anzusprechen beziehungsweise Hilfe so anzubieten, dass man sich einerseits nicht aufdrängt, andererseits nicht unverbindlich bleibt. Wichtig bei solchen Angeboten ist, dass die Lehrkraft sensibel

  • die Eigenständigkeit des Jugendlichen in der Krise anerkennt;
  • vermittelt, worin sie Krisensignale sieht;
  • die Unabgeschlossenheit des Krisenprozesses aushält;
  • keinen Zeitdruck/Lösungsdruck aufbaut;
  • das Unterstützungsangebot klar abgrenzt (Gespräch, Vermittlung von Kontakten);
  • die Ablehnung oder Zurückweisung des Angebotes akzeptiert und deutlich macht, ob/wie dieses Angebot bestehen bleibt.

Von Jugendlichen in »stillen Krisen« kann man weder einen expliziten Auftrag für ein Gespräch oder ein Eingreifen bekommen, noch kann man erwarten, dass sie ein Hilfsangebot einfach annehmen. Dass sie die Krise für sich haben oder behalten wollen, ist Teil ihrer Krise. Das heißt aber nicht, dass Lehrkräfte in diesen Situationen nicht eingreifen dürfen: Für solche Jugendliche ist es zwar besonders wichtig, dass man diese Haltung respektiert. Aber auf der anderen Seite ist es gerade für sie wichtig zu erfahren, dass jemand ihnen Hilfe, Anregungen und Unterstützung anbietet. Auch hier kann – und muss man auch – riskieren, den Kontakt oder ein Gespräch anzubieten. »Man muss … also das Risiko eingehen, das Falsche zu tun. Aber ohne Risiko läuft oft gar nichts.« (Liebl/Brink 2009b, S. 161) Dass in »stillen Krisen« ein Hilfsangebot bestand, kann für den Jugendlichen ein wichtiger Anstoß zur Krisenbewältigung sein, auch wenn er dieses Angebot brüsk abgelehnt hat.

Wichtig für alle Gesprächs- und Hilfsangebote in Krisensituationen ist, sich nicht mit der Krise zu »solidarisieren« (»so etwas hatte ich auch einmal, das geht vorbei …«), sondern zu ermöglichen, dass der Jugendliche eigene Wege zur Bearbeitung der Krise erfahren kann. Hierzu können ressourcenorientierte Interventionsformen gewählt werden (Abb. 2, vgl. auch Liebl/Brink 2009a/b).

Was Schulen und Lehrer für Krisen tun können …

Mit Krisen von Jugendlichen umzugehen ist immer Aufgabe und Möglichkeit der einzelnen Lehrkraft (vgl. Heftbeiträge von Weinhardt/Bauer/Berwanger/Zander). Krisen werden im Unterricht sicht- und spürbar, Lehrkräfte können wichtige Gesprächspartner und Unterstützer sein. Das können sie aber nur erfolgreich wagen, wenn die Schule ihnen Rückhalt dafür bietet. Nicht zuletzt deshalb ist der Umgang mit Krisen eine Aufgabe der Schule insgesamt.
Problematisch ist es dann, wenn Schulen befürchten, Krisen könnten zu Krisen führen, sich ausweiten, andere »Problemschüler« anziehen. Wenn solche Befürchtungen und die Sehnsucht nach Krisenfreiheit das Handeln der Schule bestimmen, lebt die Schule im Problemmodus: Sie denkt in Abgrenzungen und Interventionen, sie hilft den Schülern aber nicht, Krisen zu verstehen und zu nutzen.

Schulen, die ihre Schüler in Entwicklungsprozessen und Krisen begleiten und ihnen Raum geben für Verarbeiten und Erfahrungen, fördern die Entwicklung ihrer Schüler. Sie profitieren von einem sorgsamen Umgang mit Krisen als Entwicklungsmöglichkeiten und zeigen, dass sie Zeit und Raum für Entwicklungsprozesse geben können.

  • Wichtige Elemente der Begleitung und Unterstützung durch die Schule sind hier besonders:
    präventive und vorausschauende Arbeit von Unterstützungsteams (vgl. Berwanger);
  • Auszeiten und Besinnungszeiten für Sinnfindung und Krisenbearbeitung – auch außerhalb der Schule (vgl. Müller);
  • Angebote zur Erweiterung des Erfahrungsfeldes und zur Erfahrung von Selbstwirksamkeit in schwierigen Situationen (vgl. Zuffellato);
  • Begegnung und Zusammenarbeit mit krisenerfahrenen und krisen-offenen Menschen, z. B. in sozialen Einrichtungen, Unterstützungseinrichtungen (dabei auch gleichzeitig die Möglichkeit der Schaffung von Kontakten);
  • Sinnstiftende und Sinn-fragende Unterrichtsinhalte, die es ermöglichen, Krisen Ausdruck zu verleihen oder die eigene Entwicklung in Relation zu der anderer Menschen zu setzen (z. B. durch Lektüreangebote, Unterrichtsthemen, Fächerangebote);
  • Kooperation und gemeinsame Unterstützungsangebote mit Schulsozialarbeit, Schulpsychologen und Schulpastoralen bei der Arbeit in akuten Krisensituationen (vgl. Weinhardt/Bauer);
  • Motivation, soziale und pädagogische Förderung von Schülern in Krisensituationen, besonders bei drohendem Schulabbruch und bei Schulverweigerung (vgl. Schneider).

So arbeiten Lehrkräfte wie Schulen im Hinblick auf Schülerkrisen in die gleiche Richtung: Sie zeigen, dass sie Krisenprozesse als Entwicklungsmöglichkeit verstehen, sie geben Raum und Hilfen, mit Krisen umzugehen, und sie eröffnen die Möglichkeit, Krisenerfahrungen zu teilen und an ihnen zu wachsen.

Literatur

Dr. Gerhard Eikenbusch ist Schulleiter und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Karlavägen 25, 4tr, 11431 Stockholm, Schweden
E-Mail: gerhard.eikenbusch(at)telia.com


Aus: Pädagogik 4/13