Zeitschrift für Pädagogik - Inhaltsverzeichnis

Jahrgang 50 – Heft 4 – Juli/August 2004

Thementeil: Gehirnforschung und Pädagogik

Ulrich Herrmann
Gehirnforschung und die Pädagogik des Lehrens und Lernens: Auf dem Weg zu einer „Neurodidaktik“?

Norbert Sachser
Neugier, Spiel und Lernen: Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Kindheit

Alle Säugetiere sind in ihrer Kindheit und Jugend „Neugierwesen“, die aktiv neue Situationen und Objekte aufsuchen und erkunden. Neugierverhalten zeigt viele Übereinstimmungen mit Spielverhalten, und beide Bereiche sind untrennbar mit dem Lernen verbunden. So wird ein Experimentierfeld geschaffen, das zu Innovationen führen kann. Neugierverhalten und Spiel treten jedoch nicht von selber auf. Hierfür bedarf es eines „entspannten Feldes“, das sowohl Anregung als auch Sicherheit bietet. Wenn „entspannte Felder“ während der Entwicklung zur Verfügung stehen, erfolgen zahlreiche Lernprozesse aus eigenem Antrieb und bedürfen nicht der weiteren Motivierung durch externe Faktoren. Bezüglich der Ausprägung des Neugier-, Spiel- und Lernverhaltens existieren große Unterschiede zwischen den Individuen. Diese sind multifaktoriell bedingt und nicht auf einzelne Merkmale, wie z.B. die genetische Ausstattung, zurückzuführen. Generell hat jedoch das Vorhandensein von Bindungspartnern während der frühen Ontogenese positive Effekte für die weitere Entwicklung.

Gerald Hüther
Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns. Welche sozialen Beziehungen brauchen Schüler und Lehrer?

Die Herausformung der erst nach der Geburt endgültig geknüpften Nervenzellverbindungen im menschlichen Gehirn erfolgt erfahrungs- und nutzungsabhängig. Die entscheidenden Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche dazu bringen, ihr Gehirn auf eine bestimmte Weise zu nutzen und damit auch zu strukturieren, sind psychosozialer Natur, also Beziehungserfahrungen. Der Beitrag fasst die in den letzen Jahren von Neurobiologen gewonnenen Erkenntnisse über die „soziale Konstruktion“ des menschlichen Gehirns zusammen und leitet auf dieser Grundlage ab, welche Beziehungserfahrungen Kinder und Jugendliche mit ihrem Erziehern und Lehrern machen müssten, um die schulischen Lernangebote optimal nutzen zu können.

Gerhard Roth
Warum sind Lehren und Lernen so schwierig?

Der Kern einer neurobiologisch-konstruktivistischen Lehr- und Lerntheorie besteht in der Einsicht, dass Wissen nicht übertragen werden kann, sondern im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen werden muss. Lernen ist also ein aktiver Prozess der Bedeutungserzeugung. Dieser Prozess wird durch Faktoren gesteuert, die überwiegend unbewusst wirken und deshalb nur schwer beeinflussbar sind. Hierzu gehören die Motiviertheit und Glaubhaftigkeit des Lehrenden, die individuellen kognitiven und emotionalen Lernvoraussetzungen der Schüler, die allgemeine Motiviertheit und Lernbereitschaft der Schüler, die spezielle Motiviertheit der Schüler für einen bestimmten Stoff, Vorwissen und der aktuelle emotionale Zustand und der spezifische Lehr- und Lernkontext. Ein guter Lehrer kann den Lernerfolg nicht direkt erzwingen, sondern günstigenfalls die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen Lernen erfolgreich abläuft.

Anna Katharina Braun/Michaela Meier
Wie Gehirne laufen lernen oder: „Früh übt sich, wer ein Meister werden will!“. Überlegungen zu einer interdisziplinären Forschungsrichtung „Neuropädagogik“

Lernen in frühester Jugend unterscheidet sich vom Lernen bei Erwachsenen darin, dass Erfahrungen und Lernprozesse im kindlichen Gehirn viel massivere und auch dauerhaftere Spuren hinterlassen als im erwachsenen Gehirn, wo es nur noch zu vergleichsweise geringfügigen Veränderungen im Verlauf von Lernprozessen kommt. Tierexperimentelle Forschungsergebnisse aus der Hirnforschung weisen darauf hin, dass frühe Sinneseindrücke, Erfahrungen und Lernprozesse hirnbiologisch betrachtet dazu „benutzt“ werden, die Ausreifung der noch unreifen funktionellen Schaltkreise, insbesondere des limbischen „Belohnungs-“ Systems im Gehirn zu optimieren. Salopp ausgedrückt könnte man dies in der Computersprache mit der „Formatierung der Festplatte“ vergleichen. Somit werden in der „Hardware“ – dem Gehirn – schon relativ früh im Leben prinzipielle Konzepte für späteres Lernen, und auch für die mit jedem Lernprozess untrennbar verknüpfte emotionale Erlebniswelt angelegt.

Sabine Pauen
Zeitfenster der Gehirn- und Verhaltensentwicklung: Modethema oder Klassiker?

Die Kooperation zwischen Neurowissenschaftlern und Entwicklungspsychologen lässt ein altes Thema in neuem Lichte erscheinen: Konnte man bis vor wenigen Jahren nur spekulieren, zu welchen Zeiten im Gehirn eines Kindes Veränderungen stattfinden, die nachhaltige Konsequenzen für seine Lernfähigkeit in einem definierten Bereich haben, so ist es heute möglich, das enge Ineinandergreifen von Hirnreifungsprozessen und lernsensiblen Phasen besser zu verstehen. Der vorliegende Beitrag macht dies am Beispiel des visuellen Lernens deutlich und diskutiert zugleich Chancen und Grenzen neuropsychologischer Entwicklungsforschung.

Elsbeth Stern
Wie viel Hirn braucht die Schule? Chancen und Grenzen einer neuropsychologischen Lehr-Lern-Forschung

Auch wenn die Hirnforschung faszinierende Befunde über die menschliche Informationsverarbeitung liefert, lassen sich für die Gestaltung von vorschulischen und schulischen Lerngelegenheiten nur sehr allgemeine Folgerungen ableiten. Bildungseinrichtungen wurden etabliert, damit Schüler in wenigen Jahren Wissen erwerben und anwenden können, dessen Entwicklung die Menschheit Jahrhunderte oder Jahrtausende gekostet hat. Damit dies gelingt, müssen Lehrer fachspezifisches pädagogisches Inhaltswissen erwerben und zur Aufbereitung von Lerngelegenheiten heranziehen. Erkenntnisse aus der Wissenschaftsgeschichte sowie der kognitiven Psychologie können Lehrern beim Aufbau des fachspezifischen pädagogischen Inhaltswissens weiterhelfen.

 

Allgemeiner Teil

Axel Nath/Corinna M. Dartene/Carina Oelerich
Der historische Pygmalioneffekt der Lehrergenerationen im Bildungswachstum von 1848 bis 1933

Das Bildungssystem wuchs in den letzten 200 Jahren in regelmäßigen Schüben der relativen Bildungsbeteiligung, denen jeweils Stagnationsphasen folgten. Mithilfe einer systematischen Inhaltsanalyse von 2.370 Artikeln der Lehrerverbandspresse für den Zeitraum 1884 bis 1993 konnten wir feststellen, dass Lehrer an höheren Schulen und Volksschullehrer generationsspezifische Diskurse zur Bildungsselektion führen. Mit den langen Wellen des Bildungswachstums wandeln sich die pädagogischen Problemstellungen und damit mehrheitlich die (Vor-) Einstellungen der Lehrergenerationen über die Schülerauslese in spezifischer Art und Weise. Die Deutungsmuster der Generationen verändern sich in der ständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt in einem ähnlichen Modus wie bei Einzelpersonen.

Norbert Wenning
Heterogenität als neue Leitdidee der Erziehungswissenschaft. Zur Berücksichtigung von Gleichheit und Verschiedenheit

Seit den internationalen Schulleistungsstudien PISA und IGLU sollen Schulen und Lehrkräfte u.a. lernen, mit der „unterschiedlichen Verschiedenheit“ von Schülerinnen und Schülern anders umzugehen (Stichwort: Umgang mit Heterogenität). Dies allein greift aber zu kurz: Das moderne Bildungswesen muss von Gleichheit und Differenz ausgehen; es wirkt homogenisierend und heterogenisierend, es setzt stets einen Maßstab, an dem alle gemessen werden. Erst wenn die Verschränkung beider Prozesse und der damit jeweils gesetzte Maßstab (durch stillschweigende Voraussetzungen sowie daraus abgeleitete inhaltliche und didaktische Entscheidungen) beachtet werden, kann man die Einbindung des Bildungswesens in die moderne Gesellschaft mit ihren Homogenisierungen und Heterogenisierungen sichtbar machen. Dann lässt sich besser analysieren, welche Diskriminierungen individueller und/oder gruppenspezifischer Abweichungen vorliegen. Spezielle erziehungswissenschaftliche Fachrichtungen für interkulturelle, integrative und geschlechterbezogene Fragen geben den vom (impliziten) Maßstab als abweichend angesehenen Personen u.a. die Chance, dass ihre Belange gehört und spezifische Reaktionen im Bildungswesen entwickelt werden. Weiterführend wäre aber die Veränderung von Grundannahmen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, der impliziten und expliziten Maßstäbe.

Maya Kandler
Interessefördernde Aspekte beim Lernen mit Lernsoftware aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern

Ob und inwieweit Lernsoftware von den Lernenden selbst als interessefördernd und motivierend betrachtet wird, war Gegenstand einer Befragung von über 800 Schüler/innen und ihren Lehrkräften. Die Auswertungen zeigen, dass auch beim Lernen mit neuen Medien grundlegende Ergebnisse der neueren Interessenforschung aussagekräftig bleiben. Aspekte wie z.B. inhaltliche Relevanz, Instruktionsqualität, Autonomie- sowie Lern- und Kompetenz-Unterstützung standen für die Lernenden im Vordergrund. Von den medienspezifischen Aspekten wurde dem technischen Komfort die größte Bedeutung beigemessen, während multimediale Qualitäten als nicht ganz so wichtig bezeichnet wurden.

 

Diskussion

Klaus Prange
Über die Kunst des Rezensierens

 

Besprechungen

Rudolf Tippelt
Peter Faulstich: Weiterbildung – Begründungen Lebensentfaltender Bildung

Heidemarie Kemnitz
Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg: Briefe, amtliche Schreiben und Lebensdokumente aus den Jahren 1810 bis 1832

Rainer Kokemohr
Christian Niemeyer: Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik. Eine Einführung

 

Dokumentation

Pädagogische Neuerscheinungen