Das große Dunkel

Gefragt nach den Gründen für die Unterschiede in den Leistungen der Grundschüler, die die Kultusministerkonferenz jüngst hat testen lassen, sprach deren Vorsitzender Ties Rabe von »dem großen Dunkel«. Und der Leiter der Studie, Professor Anand Pant antwortete: »Wenn wir wüssten, woher die Unterschiede kommen, hätten wir schon ganz andere Posten.« Der Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos schließlich, der hierzulande die internationale Grundschülerstudie Iglu leitet: »Wenn ich das wüsste, hätte ich einen Nobelpreis verdient.« Soweit die Kompetenz der Wissenschaft.

Untersucht wurden Kompetenzen der Grundschüler im Lesen und Zuhören sowie im Rechnen. Unterschieden werden Mindest- und Regelstandards. Die Mindeststandards werden in allen drei Disziplinen von etwa 90 Prozent der Kinder erreicht. An die Regelstandards kommen um die 70 Prozent heran und circa 40 Prozent übertreffen sie. So weit, so gut. Das sind die natio­nalen Werte.¹

Aber gerade mal die Hälfte der Bremer Kinder erfüllt die Regelstandards in Mathematik. Desgleichen die Berliner. Die Mindeststandards in Mathe und im Lesen werden in Bremen und Berlin von jedem vierten Schüler verfehlt. Diese Kinder können nur Buchstaben entziffern, aber den Sinn nicht verstehen. In Hamburg gilt das für jeden fünften. Und was soll man dazu sagen, dass ausgerechnet in Bremen die Fähigkeit zum Lesen stärker von der sozialen Herkunft abhängt als in allen anderen Bundesländern? Und dass in Berlin auch die Akademikerkinder ein Jahr hinter der gleichen Gruppe in Bayern zurückliegen?

Weiche Stadtstaaten?

»Wenn ich Hamburger, Berliner oder Bremer wäre, würde ich langsam anfangen, mir richtig Sorgen zu machen«, sagt Bildungsforscher Wilfried Bos. Das sind eben die Großstädte, möchte man einwenden. In der Studie wurden allerdings erstmals 17 Städte über 300 000 Einwohner verglichen. Überall lagen die Ergebnisse unter dem Durchschnitt, aber nirgendwo sind sie so weit von ihm entfernt wie in den Stadtstaaten. Einen Hinweis gibt vielleicht der Befund, dass in NRW 36 Prozent der Migrantenfamilien zu Hause Deutsch sprechen. In Berlin sind es 18 Prozent. Aber als Erklärung reicht das nicht.

Erst mal müssen wir allerdings zugeben, dass unsereinem die gegenteilige Nachricht besser passen würde. »Bayern abgeschlagen – HH, HB und B vorn!« Das würde sich auf unsere Überzeugungen reimen. Und wir müssen auch zugeben, dann hätten wir keine weiteren Fragen mehr. Nun haben wir viele Fragen.

Doch zunächst bestimmen Reflexe die Tagesordnung: »Völlig anspruchslose Lehrpläne und lasche Unterrichtsdidaktik« donnert DL-Präsident Josef Kraus aus Vilsbiburg über die Stadtstaaten. Und in Hamburg wurde ausgerechnet, dass 48,1 Prozent der dortigen Grundschullehrer, die Mathe unterrichten, das Fach nicht studiert haben. In Bayern seien das nur 15,8 Prozent. Aha. Also, mehr Fachleute in die Grundschulen? Aber dann fällt auf, dass auch die 15-jährigen Hamburger vergleichsweise schwach in Mathe sind, obwohl sie ausschließlich von examinierten Mathelehrern unterrichtet werden.

Harte Bayern?

Vielleicht greifen die harten ingenieurpädagogischen Hebel gar nicht? Vielleicht muss man sich die weichen Faktoren genauer ansehen, die Mentalitäten, die damit zusammenhängende Arbeitshaltung der Kinder (und Lehrer) sowie die Bedeutung, die die Schule für sie hat? Schon der Augenschein überzeugt davon, dass in Bayern die Kinder braver und die meisten Erwachsenen etwas autoritätsgläubiger sind. Man nennt das auch Disziplin und Strenge. Die Formel von Hightech und Lederhosen trifft ganz gut diese spätindustrialisierte Region. Eine ähnliche Struktur hat übrigens Finnland, das in den 70er und 80er Jahren den Sprung von einer Agrargesellschaft in eine fast schon nachindustrielle Informationsgesellschaft geschafft hat. Nokia wurde vom Produzenten von Dichtungen und Gummistiefeln zum Vorreiter der Kleinstcomputer mit Telefon. Kommunikationsgesellschaft« wurde in Finnland sogar als Ziel in die Verfassung geschrieben. Eine ähnliche Kreuzung aus traditionellen Tugenden, industriellen Erfolgen und einen damit verbundenen starken Aufstiegssog zeichnet auch die in den Pisa-Studien alle anderen toppende Region Shanghai aus. Ganz anders die Mentalität in den immer noch vom Sterben der Werften gekennzeichneten Stadtteilen Bremens oder im fast schon entindustrialisierten Berlin, wo die Kinder und Enkelkinder der von Siemens angeworbenen Türken entweder den Aufstieg in Dienstleistungsberufe schaffen oder in den Abstieg geraten, weil Mittellagen fehlen.

Kultivierung!

Außensteuerung und eiserne Disziplin waren mentale Signaturen des Industriezeitalters. Wer heute in den Schulen eine nachindustrielle Wissens-, Kultur- oder gar Ideengesellschaft anpeilt (natürlich sind das grobe Schlagworte), setzt auf Selbstdisziplin, Initiative und Zusammenarbeit und sieht ein gutes Zeichen in der Freude und Begeisterung der Kinder – und nicht in deren Qual. Aber ebenso wahr ist, dass der Übergang von den Formationen des Drills, der Artigkeit und des braven Ausführens zu denen von Individualisierung und Zusammenarbeit nicht so einfach ist. Häufig folgt erst mal Laisser-faire. Manchmal sogar Verwahrlosung. Es geht also um die Kultivierung der Schulen!

PS
Ich musste die letzten Tage häufig an einen berühmten Erziehungswissenschaftler denken, führend in der empirischen Forschung, der noch im Norden lehrend den Ruf nach Bayern bekam. Solange seine Kinder schulpflichtig waren, lehnte er ab. Er hatte in Bayern den Pisa-Sieger gemessen. Aber an die bayrische Schulkultur glaubte er trotzdem nicht. Es gibt also noch einiges zu erforschen und vieles zu begreifen.

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de

¹  http://www.iqb.hu-berlin.de/laendervergleich/LV2011/Bericht


Aus: Pädagogik 11/2012