Resonanzen

Es gibt Wörter, die sich wie Wasserzeichen durch Gespräche ziehen, auch durch Selbstgespräche, diese »Gespräche zwischen mir und mir selbst«, die Platon Denken nannte. Denken setzt voraus, mit sich nicht immer einer Meinung zu sein. So entstehen innere Räume, Resonanzräume. Eines meiner Wasserzeichenwörter ist schon länger genau dieses: Resonanzen.

Kürzlich nahm ich in Basel an einem Kongress über Musikunterricht teil. Musikunterricht ist ja so wichtig und selbstverständlich, dass man darüber kein weiteres Wort mehr verlieren möchte. Andererseits ist vielen die Begeisterung für Musik ausgerechnet in einem Unterricht verleidet worden, dem eines vor allem fehlte: Resonanzen. Warum, ging es mir dort durch den Kopf, warum beginnt Musik in der Schule mit Unterricht und nicht mit Musik? Idealerweise morgens schon mit Instrumenten und mit dem Instrument aller Instrumente, der Stimme! Nicht aus Lautsprechern, sondern aus den Körpern von Anwesenden. Mit Künstlern! Es können natürlich auch Künstler im Nebenberuf sein oder Amateure, Eltern, Lehrer, Schüler. Aber eben mit Leuten, die es gut können!

Wenn Musik in der Schule angeblich so wichtig ist, tatsächlich aber gar nicht da ist, was gilt? Müssen Kinder nicht erstmal den Klang erfahren? Sollte Musik sie nicht berührt und erwärmt haben, damit dann der unwiderstehliche mimetische Effekt einsetzt, die Nachahmung? Damit, hirntechnisch gesprochen, die Spiegelneuronen anspringen. Aber, da bin ich nun schon nicht mehr mit mir einverstanden, Spiegelneuronen müssen doch gar nicht eingeschaltet werden oder anspringen, so wie Menschen nicht motiviert werden müssen. Allerdings können Resonanzverhältnisse veröden.

Musik!

Also: In der Schule sollte Musik sein. Sein! Nicht nur vermittelt werden. Erst mal einfach nur da und schön und absichtslos. Keine Überrumpelungsstratgie, die aus den Kältezonen der Didaktik kommt, wenn auch mit guten Absichten. Die Wirkung all der nicht an Resonanz glaubenden Einwirkungsversuche ist immer dieselbe: »Man ahnt die Absicht und ist verstimmt.« Verstimmung als Resultat von Musikunterricht ist besonders widersinnig, aber häufig. In seiner Immunabwehr ist dieses resonanzbedürftige Tier, das wir nun mal sind, gänzlich unbelehrbar.

Wer die Bücher des Biologen und Philosophen Andreas Weber (»Alles fühlt«) gelesen hat, oder die von Friedrich Cramer, dem verstorbenen Chemiker, Genforscher und Max-Planck-Direktor, der weiß, dass Resonanzverhältnisse kein humanes Privileg sind. Aber im Unterschied zu anderen Tieren und den Pflanzen bauen wir unsere Welt. Wir gestalten und kultivieren sie als Resonanzräume. Wir steigern uns durch Übung. Ist Üben zugleich Wiederholen und Variieren, werden wir immer besser. Welt schaffen und uns kultivieren! Kommt beides zusammen, kann man von Bildung sprechen.

Harfenklänge

Zum Beispiel in der Erika-Mann-Grundschule mitten im Berliner Kiez. Harfensaiten wurden zwischen die Stangen im Treppenhausgeländer gespannt. Was ist das für eine Einladung! Daran zupfen Kinder, keine Künstler. Da konnte ich also schon wieder nicht mit mir ganz einverstanden sein. Auch Versuche können gut klingen.

Die größte Resonanz allerdings entsteht zwischen Menschen. Am Grabowsee* nördlich von Berlin treffe ich Bernhard Hanke. Ursprünglich Landschaftsgärtner, man könnte ihn auch Philosoph oder Künstler nennen oder Menschensammler und Projektentwickler. Aber wer braucht eigentlich Schubladen? Er hat doch einen Namen. Wir gehen über ein riesiges Grundstück am See. Um einen wunderbaren Innenraum angeordnet steht vielleicht ein halbes Dutzend prächtiger Häuser. Vor mehr als hundert Jahren ursprünglich als Lungenheilanstalt erbaut. Dann wurden sie ein russisches Militärkrankenhaus. Die letzten 20 Jahre standen sie leer, wurden geplündert und als Kulisse für Film und Fotoshooting genutzt. Demnächst dreht dort George Clooney, mit dem hat Hanke sich schon angefreundet. Hier bildet sich ein Resonanzraum ganz besonderer Art. Künstler und Handwerker, Kinder und Jugendliche werden die Häuser wieder instandsetzen und das Gelände kultivieren. Es werden Werkstätten und Ateliers, eine Jugendbauhütte, Ausstellungs- und Konzerträume entstehen: eine Kinder- und Jugendakademie.

Keine fertige Welt

Sie werden an dem Gelände, den Gärten und den Häusern immer weiter arbeiten, ganz so wie die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen an sich arbeiten. Sie werden damit nie fertig sein. In der Akademie soll kein Programm durchgeführt oder gar »umgesetzt« werden. Hier entsteht Welt. Hier wird gar nichts egal sein. Man muss mit Bernhard Hanke über das Gelände laufen und wird spüren, wie dort auch von den Dingen und der Natur geradezu ein Hunger auf Resonanz ausgeht. Und dann sagt er: Hier können alle mitmachen, nur nicht die Lehrer. Wie? Die jungen Leute sollen hier die Welt aus erster Hand erfahren. Keine Secondhand-Welt! Uff. Die Lehrer sollen sich auf Liegestühlen am See erholen. Das Gelände, das vor Jahrzehnten zum Heilen der geschundenen Körper geschaffen wurde, soll nun die entleerten oder überfüllten Seelen heilen. Die Seelen der Kinder, so Hanke, lechzen nach Arbeit – und nach Resonanz. Die Lehrer entleeren sich indessen, sie unterbrechen das Belehren und werden erstmal verwöhnt.

PS
Der Soziologe Hartmut Rosa schreibt in seinem neuen Buch,** »… dass menschliches Leben dort gelingt, wo Subjekte konstitutive Resonanzerfahrungen machen, dass es dagegen misslingt, wo Resonanzsphären systematisch durch stumme, das heißt rein kausale oder instrumentelle Beziehungsmuster verdrängt werden.« That´s it!

PPS
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*    http://www.kidsglobe.org


Aus: Pädagogik 12/2012