Hängengeblieben oder: Wie sich Biographien bilden

Wieder mal so eine Geschichte, die sich ins Hirn dreht und dort weiterdenkt. Wie Lichtenberg schrieb: »Es denkt, wie es regnet.«

Markus Hengstschläger erzählte sie kürzlich bei einer Diskussion. Er hat das in Österreich viel beachtete Buch »Die Durchschnittsfalle«* geschrieben. Ein Plädoyer für das Wagnis, ein Individuum zu sein. Jeder ist eine andere Abweichung vom Durchschnitt und bringt damit andere Möglichkeiten in die Welt. Die Orientierung am Durchschnitt hingegen mache stumpf. Er selbst ist dafür ein Beispiel. Mit 16 war er ein in Wien stadtbekannter Punk. Mit 24 promovierte er in Medizin. Und mit 35 war er der jüngste Professor. Sein Fach ist die Genetik und seine These heißt: »Gene sind nur Bleistift und Papier, aber die Geschichte schreiben wir selbst.« Wie geht das?

Er erzählte vom Solocellisten der Wiener Philharmoniker. Als Kind wollten dessen Eltern, dass er Klavier spielt. Aber das Kind wollte bald nicht mehr. Dann ist häufig Schluss mit der Musik, zumindest mit der selbst gespielten. Seine Eltern aber machten nicht Schluss. Sie schickten den Sohn in eine Musikschule, in der er sich an verschiedenen Instrumenten versuchen konnte. Ich weiß jetzt nicht mehr, wie viele er verwarf, bis er am Cello hängenblieb. Hängenblieb. Das ist das Wort, das sich in mir eingedreht hat. Das Cello wurde sein Ding. Es war ein Flirt mit dem Klang, den Saiten, dem Körper des Cellos. Alles passte. Aus dem Flirt wurde eine Affäre. Eine fürs Leben. Aus dem Verliebtsein wurde Liebe.

Unvollkommen

Hätte er länger gesucht, so der Cellist, hätte er vielleicht ein Instrument gefunden, das noch besser gepasst hätte. Auch er kann nicht mit der coolen Souveränität des Konsumenten sagen, er hätte ausgewählt und sich entschieden. Genauso unvollkommen laufen doch die folgenreichen Entscheidungen. Man lernt etwas oder jemanden kennen und auf einmal macht es klick. Das ist es! So geht es bei den Interessen, bei den Tätigkeiten und in der Liebe. Bei allen Leidenschaften ist es so. Manch einer hatte in der Schule das Glück, auf diese Weise berührt zu werden, sei es von einen Thema oder durch eine Person. Aber sind das bisher nicht eher Nebeneffekte? Bei mir war es eine Person, mein Deutsch- und Geschichtslehrer Popplow am FKG in Göttingen. Durch ihn erwachte mein Interesse am Lesen, die Freude am Denken und die Lust, sich einen Gedanken anzuzünden. Das war ein schöner Zufall. Ein Zufall wird es immer sein, aber man sollte viele Gelegenheiten schaffen, um diese Zufälle wahrscheinlicher zu machen. Das öde Durchnehmen, Erledigen und Punktesammeln macht es unwahrscheinlicher, an etwas oder an jemanden hängenzubleiben. Ist das nicht der größte Skandal, dass nach 10, 12 oder 13 Jahren Schule die meisten nicht wissen, was sie wollen?

Dazwischen

Es muss also möglich sein, dass einem etwas dazwischenkommt. Dass die Kontingenz, dass das nicht Planbare, dass der Zufall, dass mein Ding, das ich noch gar nicht kenne, eine Chance bekommt. All das ist im System der Schule eher nicht vorgesehen. Dafür brauchte es dort auch Künstler und Meister, Labore, Werkstätten und Ateliers. Ein Basislager, von dem aus man in die Welt aufbricht, und Heimat, wenn man in sich geht. Wenn die Schule ein Lebensort werden soll, muss dort Leben sein, Gelegenheit zum Kontakt mit vielen Welten. Aber das Curriculum soll doch die ganze Welt abdecken? Das ist Irrsinn. Es deckt die Welt ab wie eine Plane, die man im Garten auslegt, um Unkraut zu ersticken. Und je größer die Fläche des Weltwissens, desto mehr wächst die Brache unter der Plane. Lasst uns Gärten anlegen!

Es muss Chancen für Intensität geben und auch die Freiheit, manches zu ignorieren und vieles zu übergehen. Der skeptische Philosoph Odo Marquard schreibt, dass alles, aus dem etwas geworden ist, eigentlich dazwischengekommen ist, dass es nicht geplant oder ausgesucht wurde. Seine Frau zum Beispiel sei ihm dazwischengekommen. Natürlich, solange er sie nicht kannte, hätte er die Begegnung ja gar nicht wollen können. »Weil die Menschen zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt … sind wir stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen … Es sind die Kontingenzen, die Zufälle, die sie zu Geschichten machen.« **

Erzählen

Und wie beginnen Geschichten? Mit einer Affäre. Mit dem Verliebtsein. Daraus kann Liebe werden. Verliebtsein ist Euphorie. Liebe kann begeistert bleiben – oder immer wieder werden –, sie ist aber außerdem Arbeit am Widerständigen, an der Widerfahrnis, wie Odo Marquard schreibt. So entstehen Biographien. So entsteht Welt: »Erst wenn einem geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorhergesehenes Widerfahrnis widerfährt, müssen sie – die Geschichten – erzählt werden; denn in der Regel weiß man erst hinterher, ob es eine Geschichte ist. Darum müssen Geschichten – Handlungs-Widerfahrnis-Gemische – erzählt werden. Wir Menschen sind unsere Geschichten; Geschichten muss man erzählen; darum müssen wir Menschen erzählt werden. Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichte. Wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber: narrare necesse est.« (Erzählen tut not.)

PS
Selbstverwirklichung braucht Weltverwirklichung. Man könnte auch sagen, immer wieder geht es um den Übergang vom Verliebtsein in Liebe. Dafür muss es erst mal Gelegenheiten geben. Ohne diesen Anfang wird alles nichts.

PPS
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** Odo Marquard (2007): Die Skepsis in der Moderne. Stuttgart, S. 63 f.


Aus: Pädagogik 3/2014