Piraten entern das Geisterschiff

Die AG Bildung der Piraten hatte mich eingeladen. Neugierig bin ich nach Frankfurt gefahren und habe dort einige kluge Leute getroffen. Ein paar Neurotiker waren auch dabei. Die meisten allerdings sind frisch im Denken. Die allermeisten wirken irgendwie verletzt von der Schule. Für die Bildungs-Arbeitsgemeinschaft einer Partei sitzen da erstaunlich wenige Lehrer. Einige Studenten. Eine Wissenschaftlerin und Publizistin. Viele aus der Computer- und Internetwelt. Ein Handwerksmeister und Ausbilder sowie ein Familientherapeut. Auch einige aus der Homeschooling-Szene, mit denen ich mich etwas gestritten habe. Schließlich konnte ein gewisser Konsens hergestellt werden: Was immer man an den Schulen kritisiert und weshalb man vor ihnen vielleicht auch fliehen möchte, wir haben an jeder zweiten Straßenecke eine Schule. Da­raus könnte man doch was machen! Die Kinder nur in der Familie lernen zu lassen wäre eine Fessel. Schulen sollten Orte für das gesellige Menschentier sein!

Merkwürdig diese Vorstellung bei den radikalsten Schulkritikern von einer guten Familie und der kalten, hässlichen Welt. Nach einer anderen bei den Piraten verbreiteten Vorstellung sollten die Kinder raus aus den müden Schulen und rein ins Leben. Nur vergisst man leicht, dass da draußen weniger das Leben tobt als der Straßenverkehr. Aber die meisten einigten sich darauf, dass es die Schulen vor allem zu kultivieren gilt. Das Projekt Kultivierung zum Zentrum zu machen, das wäre allerdings etwas anderes als all das, was sich seit 50 Jahren auf das Wort Bildungsreform reimt. Nun gut, mag man sagen, solche Gedanken haben wir auch anderswo schon gedacht. Braucht es dazu die Piraten?

Leerstelle

Von den Piraten könnte man mit dem gleichen Recht sagen, dass sie ein Gerücht sind, wie, dass sie einen Neuanfang darstellen. Sind sie nur eine Verwirbelung am Rand des politischen Kraftfeldes, die sich schnell wieder legen wird, oder erleben wir eine Art Verpuppung, aus der etwas Überraschendes, vielleicht sogar etwas Schönes schlüpfen könnte? Jedenfalls besetzen die Piraten eine Leerstelle. Eine, die enorme Projektionen auf sich zieht. Da liegt etwas in der Luft. Da wird auf etwas gewartet. Aber auf was? In japanischer Tradition entspringt die Zukunft aus einer Leerstelle, die sich in der Gegenwart einnistet. Jedenfalls sind die Piraten etwas anderes als bloß ein Sammelbecken für Protestwähler. Niemand kann es wissen, aber ich wette, sie werden bald mitreden, auch und gerade in der Bildung. Diese Leerstelle könnte ein Anfang sein.

Leerstelle heißt auch, die Piraten haben kein Programm. Das ist ebenfalls ambivalent. Erstmals tritt eine Partei an, die nichts verspricht. Die nicht so tut, als wüsste sie Bescheid. Sie verlangen Transparenz. Sie verlangen Öffentlichkeit. Organisiert sich da vielleicht mit den Piraten eine andere Form von Öffentlichkeit? Eine Leerstelle kann auch Nichts sein. Es kommt schon mal vor, dass ein Pirat im Berliner Abgeordnetenhaus keine Ahnung von den Schulden der Stadt hat und irgendwas im Millionenbereich vermutet, wo es doch um viele Milliarden geht.

Autodidakten

Ich neige zu der These, dass da eine autodidaktische Bewegung auf den Plan tritt. Eine Organisation nicht mehr aus dem belehrenden und Erlösung, zumindest Lösungen versprechenden Zeitalter, sondern die Organisation einer lernenden Formation. Menschen, die nicht mehr dozieren, was richtig ist, sondern fragen, was machen wir daraus. Aber was wäre denn eine Partei als lernende Organisation? Vielleicht ein Wahlbündnis? Eine mobile Bürgerversammlung? Oder das ständige Kommunizieren und Kommentieren im Internet? Dass bei den Piraten nur Nerds sitzen, die statt in die Welt auf ihren Bildschirm blicken, ist ein Vorurteil. Sie sitzen nicht in ihren Höhlen. Sie wollen raus. Sie suchen Orte. Sie gehen allerdings lieber zum Barcamp als zum Vortrag. Das Barcamp selbst entsprang einem doppelten Widerspruch. Verneinung der Vortragsveranstaltungen und raus aus der Isolierung vor dem Bildschirm. Das Barcamp, bei dem ein jeder Themenvorschläge machen kann und dann eine knappe Stunde in wechselnden Gruppen gearbeitet wird, ist eine neue Form von Öffentlichkeit, ein Organ lernender Organisationen, so wie die Predigt und der Vortrag Aggregatzustände der Belehrungswelten waren und sind. Natürlich sollte man künftig keineswegs auf Vorträge und gut ausgearbeitete Präsentationen verzichten. Aber sie werden nicht mehr das Leitmedium sein.

Diskurse

Das Wissen selbst wird kontingent. Die Tradition säkularer Erlösungen, die immer noch die Hintergrundstrahlung der üblichen Politikerpolitik ausmacht, ist erschöpft. Dafür sind die Piraten zumindest ein Symptom. Ob sie in diesem Prozess auch ein Akteur sein werden, wird sich herausstellen. Ihre Mischung aus Pragmatismus und Vision ist sympathisch.

PS
Der Überdruss an Rechthaberei und diesem ganzen Gebluffe, an Antworten, die immer zur Hand sind und bei denen häufig nichts dahinter ist, dieser Überdruss ist nicht der geringste Grund für Wähler, zumal Jungwähler, für die Piraten zu stimmen. Und man kann sicher sein, das sind überwiegend keine Leute, die bei der Wahl ihre Stimme »abgeben«. Es zeigt sich, dass es sich bei vielen, die sich von Politik abgewandt haben, weniger um Politikverdrossenheit als vielmehr um Politikerverdrossenheit handelt.

PPS
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Aus: Pädagogik 5/2012