Und

Salman Khan erzählt eine Geschichte aus Unzufriedenheit und Optimismus. Eine Geschichte des UND, keine des Entweder-oder. Es ist auch die eines kaum zu glaubenden Erfolges. Es ist vor allem eine Geschichte, die zu denken gibt. Also los!

Seine Eltern sind aus Bangladesh in die USA eingewandert. Sie legten viel Optimismus in den Tornister des 1976 in New Orleans geborenen Salman. Sein Kindertraum: Es sollte für alle Kinder auf der Welt Schulen geben, in denen sie sich nicht langweilen, wie er so oft. So eine Schule wollte er einmal gründen. Aber erst mal Geld verdienen. Er machte drei Abschlüsse am MIT in Boston und einen in Harvard. Dann wurde er Analyst bei einem Hedgefonds. Das ist die Vorgeschichte.

Die Geschichte selbst beginnt 2004 bei seiner Hochzeit. Seine zwölfjährige Cousine Nadia war niedergeschlagen. In einem »Eingruppierungstest« hatte sie das Ziel verfehlt. Sie wollte doch Informatikerin werden. In unteren Mathekursen würde daraus nichts. Es war um die Umrechnung von Unzen in Gramm gegangen. Eine einfache Sache, wenn man sie verstanden hat. Salman gab ihr Nachhilfe. Er wollte wohl auch beweisen, dass so was jeder lernen kann, zumal seine aufgeweckte Cousine. Dann zog er ins 2000 Kilometer entfernte Boston und konnte mit ihr bloß telefonieren.

Videos
Bald versuchte er es mit einem simplen Computer-Videoprogramm auf YouTube. Darauf sieht man auf einer Tafel nur, was er schreibt, und hört dazu seine erklärende Stimme. Diese Lektionen, immer so zwischen acht und fünfzehn Minuten, machten ihm Freude. Und offenbar auch vielen Kindern in der Verwandtschaft. Nach dem Analystenjob am Abend Probleme zu klären, in de- nen sich viele Schüler verheddern, das wurde sein Hobby.

Der Nutzen seines Tagesjobs war ihm eher unklar. Aber Mathematik und bald auch andere Fächer zu erklären, das wurde sein Ding. Machte er Fehler, löschte er sie nicht, sondern korrigierte sich. So wurden die Schüler Zeugen seines Denkens. Es sprach sich herum, dass bis- her Unverstandenes gar nicht so unverständlich sein muss. Die Videos wurden auf YouTube ein Renner.

Auch Bill Gates hatte mit den Hausaufgaben seiner Kinder zu kämpfen und die Kinder stießen auf die Khan Academy. Nun geschah das Unvermeidliche. Gates sprach in einem Vortrag vom »Beginn einer Revolution« und spendet aus seiner Stiftung zwei Million Dollar. Khan gab seinen nur halb geliebten Job auf und produzierte Lektionen und Lektionen – bis heute immer nur mit seiner Stimme und dieser Quasi Tafel. Kein virtueller Zauber. Kein Internet-Fetisch. Inzwischen macht es auf der Plattform der Khan Academy im Monat sechs Millionen Mal Klick. 3400 Videos stehen kostenlos bereit. Inzwischen auch einige Hundert auf Deutsch.

Ein Fünftel
Khan begann nun mit Schulen zusammen- zuarbeiten und entwickelte den »flipped classroom«, das verkehrte Klassenzim- mer. Die Grundidee: Die Funktion des Frontalunterrichts wird weitgehend von den Videolektionen übernommen. Diese »Belehrungen« sollten allerdings nicht mehr als ein Fünftel der Zeit in Anspruch nehmen. Vier Fünftel gewinnen Lehrer und Schüler fürs Lernen, also für das, was wir derzeit Individualisierung nennen, für Projekte, für eine neue Choreographie der Schule. Die Lehrerinnen und Lehrer werden dabei gewissermaßen Dirigenten eines Orchesters von lauter verschiedenen Ins­trumenten.

Löcher im Kopf
Der Kern seiner Schulkritik ist ja durch- aus bekannt. In den Wänden der Schu- len sitzt viel Misstrauen. Im Zweifels- fall glauben Lehrer und auch Schüler eher an ihren Misserfolg als an den Er- folg. Als normal gelten eher Schwierig- keiten mit dem Lernen als Begeisterung, die beim Lernen entsteht. Das Ergebnis  nennt er Schweizer Käse. Das war schon die Spontandiagnose bei seiner Cousine. Löcher im Kopf. Weil ihre Mathematik voller Lücken war, hatte sie den Anschluss verloren. Lernen ist eben im- mer Anknüpfen und Verknüpfen. Inzwi- schen studiert die Cousine. Khan sagt: Das schulische Grundwissen kann jeder lernen, vorausgesetzt, er lernt auf seine Weise, in seinem Tempo und kann wie- derholen, üben und immer wieder zurück gehen, bis die jeweilige Wissens-, Fähigkeits- oder Verständnisstufe elegant genommen wird.

100 Prozent
Es klingt übermütig, wenn er kritisiert, dass man in den Schulen nach Tests mit 70 Prozent gelöster Aufgaben weiterkommt. Auch 95 Prozent reichen ihm nicht. 100 Prozent! Natürlich in Tests, die keine Fallen stellen. In der Khan-Academy muss ein Schüler bei einer Lektion 10 von 10 Aufgaben schaffen, dann erst kommt die nächste Stufe dran. Es funktioniert. Die Belehrungslogik der Schule wird von einer Lernlogik abgelöst. Die Schüler übernehmen den aktiven Part. Jeder geht seinen Weg. Und es gibt gemeinsame Ziele. Das UND ist es, Abschied vom Entweder-oder. Es erinnert mich an die Erfindung der Max-Brauer-Schule, den Tag mit dem »Lernbüro« zu beginnen, was die Bodenseeschule schon lange als Freiarbeit in Montessoritradition kultiviert. Oder an das Jacobs-Sommercamp, wo die Kinder mit wenig instruktivem Unterricht und viel Theater in drei Wochen den Kompetenzgewinn eines Schuljahres herausholten.

PS
Und jetzt gehen Sie bitte in den Buchladen, gehen Sie nicht zu Amazon, denn je mehr Chancen im Virtuellen, desto wichtiger werden die Orte. Buchläden wie Schulen. Das Buch von Salman Khan heißt »Die Khan Academy – Die Revolution für die Schule von morgen.« Es ist auf Deutsch gerade im Riemann Verlag erschienen, hat 253 Seiten und kostet 19,99 €.

PPS
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Aus: Pädagogik 5/2013