Üble Nachrede

Das Thema ist nicht erledigt. Überhaupt nicht. Der Missbrauch. In der Odenwaldschule. Und auch andernorts. Mag er in christlichen Internaten, Heimen, Sportvereinen und nicht zuletzt in vielen Familien schlimmer gewesen sein und noch andauern. Aber die Odenwaldschule ist nicht irgendeine Anstalt. Und Gerold Becker war nicht irgendwer. Und Hartmut von Hentig? Der schweigt und beschädigt damit nachhaltiger sein Werk, als es der Schatten seines Lebensgefährten Gerold Becker allein vermocht hätte. Aber schon beim Gedanken daran, Hentigs Werk vor Hentigs Schweigen retten zu wollen, zucke ich zurück, weil ich da schon wieder den Schmähruf »Täterlobby« höre. Nun kommt zum Missbrauch auch noch der Missbrauch des Missbrauchs hinzu.

Reformpädagogik

Jedenfalls ist für mich dieses klar geworden. Eine Bedingung der Möglichkeit der sexuellen Gewalt speziell in der Odenwaldschule war auch das Idealisieren. Das Aufrechterhalten eines überhöhten Bildes dieser und auch anderer reformpädagogischen Schulen war vielen von uns, ich schließe mich ein, häufig wichtiger als der klare Blick auf ihren Alltag. Und wenn man liest, was Jürgen Oelkers über die Anfänge der Reformpädagogik in den Landschulheimen herausgefunden hat, diese idealistische Scheinheiligkeit und die Egozentrik in Liebesbeziehungen mit Abhängigen, dann muss einem übel werden. Gewiss, darauf lässt sich die Reformpädagogik nicht reduzieren. Gar nicht. Und gerade deshalb mein Vorschlag auf das Wort Reformpädagogik künftig zu verzichten. Nicht nur, weil es beschädigt ist, sondern vor allem, weil die großen Wörter davon entlasten, die Praxis genau zu beschreiben, all die Widersprüche, Mischungen, Ambivalenzen, die sie ausmachen und auch weiter treiben. Jede Praxis ist widersprüchlich und unrein, nur die großen Wörter suggerieren Eindeutigkeit. Sie perpetuieren die Priesterherrschaft.

Wenn es endlich darum, geht die Intelligenz der Praxis – und auch ihre Poesie – zu erkennen und zu stärken, dann müssen wir den großen Parolen nicht mehr huldigen. Dann wird die Praxis nicht mehr die Magd sein, die im Dienst von Programmen, Theorien oder Weltanschauungen steht. Das könnte ein Gewinn des Missbrauchsskandals sein: Entideologisierung und größere Genauigkeit. Aber diese Versuche haben es schwer.

Der Verdacht

Als Erste traf es Enja Riegel, die langjährige Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Als im Frühjahr 2010 die Odenwaldschule Schlagzeilen machte, bekam ich von der ZEIT-Redaktion die Anfrage, darüber zu schreiben. So schnell konnte ich nicht und wollte ich nicht, aber kurz zuvor hatte ich von Enja Riegel gehört, dass sie vor Jahren einen Missbrauchsfall hatte und wie sie damit umgegangen sei. Ich empfahl der ZEIT -Kollegin, mit ihr ein Interview zu machen. Sie berichtete davon, wie sie sofort die Schule informierte, mit den Schülern sprach und der fragliche Lehrer ab sofort in der Schule nicht mehr unterrichtete. Das Interview erschien und am Tag darauf titelte der »Wiesbadener Kurier«: Missbrauch auch in Wiesbaden. Dann trommelte es über Wochen und Monate. Allesamt Versuche, Enja Riegel als Komplizin des Missbrauchs hinzustellen. Nichts war dran, aber mächtig viel Rauch stieg auf. Es ging bis zur Entdeckung angeblich pornografischer Fotos im Nachlass des inzwischen verstorbenen Lehrers. Darüber brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zwei Seiten, aber keinen Satz, als sich nach einer Sichtung durch das Stadtarchiv herausstellte, dass nichts dran war.

Täterlobby

Mir ging es ähnlich. Wie manche wissen, denn ich habe darüber geschrieben*, haben uns antiautoritäre Schüler in Göttingen Ende der 60er Jahre Hartmut von Hentig und Gerold Becker unterstützt. Das war wertvoll. Aber wenn ich nun davon erzähle, dann gehen die Augenbrauen hoch: Hentig, Becker, der Schüler Kahl … Aha … Was war denn da wohl. Und wenn ich schon vorsorglich hinzufügte, dass da nichts war, bestärkte das manche nur im Verdacht. Oder es war ein gefundenes Fressen. Denn als wir (Netzwerk Archiv der Zukunft) auf unserem Kongress in Bregenz im vergangenen Herbst kein Tribunal über den Missbrauch machen wollten, sondern über die »Reformpädagogik nach ihrem Fall« reden, auch mit den Opfern, da schrieb der Erfinder des Wortes von der Täterlobby in der taz: »Hentig nahm Kahl schon mit auf Tour, da war der noch revolutionärer Schüler. Auch der Päderast Becker fuhr damals nämlich mit. Kahl kannte ihn, da war er, Kahl, keine zwanzig. Ich habe nichts gemerkt, sagt Kahl.« Und so ging die üble Rede in taz-Artikeln vor dem Kongress und nach dem Kongress weiter.

Schwarze Teufel und Weiße Ritter

Hannah Arendt hat in ihren Denktagebüchern über den Verdacht geschrieben, dass man ihm, ist er erst mal geäußert, nicht mehr entkommt. Schweigen gilt als Einverständnis. Widerspruch aktiviert die Erinnerungsspur. Der Erziehungswissenschaftler Heinz Brüggemann, der sich ähnlichen Verunglimpfungen in der taz ausgesetzt sah, weil er auf Differenzierungen zwischen »Reformpädagogik« und »Missbrauch« bestand, hat dazu unter der Überschrift »Schwarze Teufel und weiße Ritter« das Nötige geschrieben. Weiße Ritter brauchen halt schwarze Teufel.

PS
Während ich die Kolumne schreibe, wird bekannt, dass die Evangelische Schule Neuruppin den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises bekommt. Eine Schule mit einer starken Praxis, mit einer starken Inspiration und mit einer starken Haltung. Und dem Verzicht auf große Wörter

PPS
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*    Arko und Demo - Die Göttinger Schülerbewegung (2007): In: Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hg.): 1968
– Die Revolte. Frankfurt


Aus: Pädagogik 7-8/2012