Nichts ist egal

Vor einem Jahr veröffentlichte DIE ZEIT den Text einer Schülerin: »Mein Kopf ist voll«. »Ich gehe in die 9. Klasse eines Hamburger Gymnasiums«, schrieb Yakamoz Karakurt »und ich habe ein Problem: Ich habe kein Leben mehr.« Kürzlich hat sie in Göttingen eine aktualisierte Fassung vorgetragen: »Jetzt geht es mir besser, was aber vor allem daran liegt, dass ich die Schule nicht mehr so ernst nehme.«

Ist das nun das Resultat nach all den Jahren Schule? Fortschritte in Gleichgültigkeit? Es ist gewiss ein von niemandem proklamiertes, aber doch von den meisten geduldetes und mitproduziertes Ergebnis. Auch die kluge und sensible Yakamoz kann nicht anders als diesen fragwürdigen Lernprozess in den Diszi­plinen nachzuholen, in denen ihr die meisten Mitschüler um Jahre voraus sind: Betriebswirtschaftliches Selbstmanagement, Dienst nach Vorschrift, Schritt für Schritt Einschwenken in den Kreislauf von Input, Output, Putput. Das Wissen und die Welt werden dabei Mittel, um gut durchzukommen. Allmählich wird diese Taktik zur Strategie. Es bildet sich eine Haltung. Die ist »die Bildung«. Eben das, was bleibt. Was hingegen kaum bleibt, ist das durchgeschleuste Wissen.

Man kann da nur immer wieder Gerhard Roth, den Bremer Hirnforscher und Präsidenten der Studienstiftung des deutschen Volkes zitieren: »Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen, laufen darauf hinaus, dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt«.

Idiot sein?
Roths Diagnose bezieht sich auf das explizite Wissen. Was die Haltung betrifft, könnte man von Idiotisierung sprechen. Bei den alten Griechen war ja der Idiot jemand ohne Gemeinsinn und ohne Liebe zur Welt, ein in sein Privatleben verbarrikadierter Gefangener seines Ichs.

Die Geheimgrammatik der Gleichgültigkeit wurde mir in einem Gespräch mit Matthias Peeters deutlich. Er ist gelernter Landwirt und passionierter Pädagoge im Projekt Schlänitzsee der staatlichen Montessori-Schule in Potsdam. Die Schüler der 7. und 8. Klassen sind eine Woche im Monat am See und kultivieren das Grundstück, ein ehemaliges Ferienheim der Stasi. Ich fragte Matthias Peeters, was ihm an den Schülern auffällt. Seine Antwort: »Aufrichtiges Interesse.« Pause: »Und auch aufrichtiges Nichtinteresse.«

Niemand kann sich für alles gleichermaßen interessieren. Das ist trivial. Aber was daraus folgt, ist es offenbar nicht. Um sich für etwas zu interessieren und um sich zu entscheiden, etwas machen zu wollen, muss es die Möglichkeit geben, ja oder nein zu sagen. Aufrichtiges Interesse kann sich nur in diesem Möglichkeitsraum von Verneinung bilden. Fehlt dieser Raum oder ist er nur schwach, werden Jasager konditioniert. Am Jasager wird deutlich, dass ein Ja, ohne die Möglichkeit nein zu sagen, nichts wert ist. Gleichgültigkeit ist dann ein Schutz. Eine Abwehr aus Gründen der Kräfteökonomie und vor allem eine psychosoziale Immunabwehr aus Gründen der Würde.

Etwas wollen!
Nun hört man den Einwand. Wenn Kinder und Jugendliche sich ständig entscheiden können, ja oder nein zu sagen, dann lauern Chaos und Beliebigkeit. Am Schlänitzsee wird deutlich, dass diese Befürchtung unnötig ist. Nirgendwo habe ich Schülerinnen und Schüler gesehen, die so entschlossen etwas wollen. Sie kommen und rufen »Anfangen!« Sie werden Experten und erleben, wie folgenreich ihr Handeln ist. Und sie erleben und spüren sich selbst. Nichts ist hier egal. Sie wollen Aufgaben bekommen, aber keine Schulaufgaben und sie wollen Erwachsene, die Vorbilder sind, weil sie selbst etwas wollen und nicht sagen, das müssen wir durchnehmen, weil es im Lehrplan steht. Die am Schlänitzsee erworbene Haltung wirkt in die Schule zurück. Nun verlangen die Schüler auch in der Schule so wie in den Projekten am Schlänitzsee zu besprechen, was sie machen wollen. Damit überraschen sie ihre Lehrer, die häufig davon überzeugt sind, dass ihre Schüler eigentlich von sich aus nichts wollen. Aufwärtsspiralen kommen in Gang. »Etwas platzt auf und färbt nach innen«, nannte der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel solche Kettenreakionen. Aber was hindert nur an dieser Haltung? Die Angst vorm Scheitern und vor Fehlern.

Fehler machen!
Wie sähe eigentlich ein Fußballspiel aus, wenn es so laufen würde, wie das Lernen und die Schule nach der Meinung der meisten Menschen zu funktionieren hätten, nämlich fehlerlos? Anstoß an der Mittellinie. A gibt zu B, der weiter zu C und Tor. 1:0. Jetzt Anstoß der anderen Mannschaft. Z flankt zu U und dann schießt W das brave Gegentor. 1:1. Und so weiter. Aber das ist ganz hypothetisch. Denn kein Zuschauer wäre gekommen. Niemand hätte dieses tödlich langweilige Spiel freiwillig mitgemacht. Unter der Voraussetzung der Fehlerlosigkeit würde es gar keinen Fußball geben – und auch sonst nichts. Tatsächlich laufen beim Fußball elegante Kombination selten über mehr als zehn Stationen. Fußball heißt einfach, dass nach ein paar Spielzügen etwas dazwischen kommt. Ein gegnerischer Fuß oder ein eigener Fehler. So entstehen ständig unvorhersehbare Situationen, Probleme.

P. S.
Aber »problems are our friends«, sagt Michael Fullan, der kanadische Erziehungswissenschaftler und Change-Theoretiker. Probleme sind der Rohstoff. Er ist zu kultivieren. Es ist keineswegs so, wie es immer wieder in Sonntagsreden heißt, dass Bildung der Rohstoff in einem rohstoffarmen Land sei. Nein, Bildung ist kein Rohstoff, der zur Weiterverwertung bereitgestellt wird. Bildung bedeutet Kultivierung.

PPS
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Aus: Pädagogik 9/2012