Was brauchen Kinder und Jugendliche für die Welt von morgen?

Bilden und Erziehen für eine ungewisse Zukunft

Wir kennen die Welt von morgen nicht. Wir wissen nicht, mit welchen konkreten Problemen sich unsere heutigen Schülerinnen und Schüler dereinst auseinandersetzen müssen. Wie können wir sie dennoch auf ihre ungewisse Zukunft vorbereiten? Kann uns unsere Lebenserfahrung bei der Beantwortung dieser Frage helfen? Ein Versuch klärenden Nachdenkens über die Zusammenhänge zwischen Lernen, Bildung und Zukunft.

Die als Titel gewählte Frage ist so leicht zu stellen wie schwer zu beantworten. Streng genommen ist sie, in dieser Allgemeinheit, natürlich überhaupt nicht zu beantworten – es sei denn, man würde sich mit wohlfeilen Allgemeinplätzen zufrieden geben: Erstens braucht jedes Kind, jeder Jugendliche etwas anderes. Zweitens ist die »Welt von morgen« nur eine wohlklingende, aber wenig aussagekräftige Metapher für eine Vielzahl zukünftiger Entwicklungen, über die wir nur vage Vermutungen anstellen können; außerdem müsste zumindest geklärt werden, auf welchen Zeithorizont und auf welche Weltregion bzw. Gesellschaft wir uns mit der Frage beziehen wollen: Um eine wie ferne Zukunft soll es denn gehen – stellen wir uns die Welt in (beispielsweise) fünf, zehn oder dreißig Jahren vor? Wollen wir lediglich unsere zunehmend multikulturell geprägte deutsche Gegenwartsgesellschaft in den Blick nehmen oder die ganze Menschheit – oder irgendetwas dazwischen? Und drittens: Selbst wenn wir die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen der kommenden Jahrzehnte – die wir im Übrigen, meist weniger gewollt als ungewollt, durch unser individuelles und kollektives Handeln mit beeinflussen – prognostizieren könnten, was hülfe es uns für die Beantwortung der Titelfrage? Aus der Kenntnis eines missliebigen Zustands folgt ja keineswegs, was zu tun wäre, um Abhilfe zu schaffen. Wir brauchen nur einen Blick auf einige aktuelle Kontroversen in Deutschland zu werfen, um ernüchtert festzustellen: Wir sind uns als erwachsene Bürgerinnen und Bürger – und unabhängig davon, ob wir uns für Laien oder »Experten« halten – noch nicht einmal einig, was wir selbst tun müssen, um die gegenwärtig erkennbaren Herausforderungen zu bewältigen: Mehr konsumieren (um das Wirtschaftswachstum zu fördern) oder weniger (um die Umwelt zu schonen)? Uns für Steuersenkungen oder -erhöhungen einsetzen? In den öffentlichen Haushalten mehr sparen oder durch gezielte Ausgaben Investitionen fördern und Arbeitsplätze schaffen? Mit immer gewaltigeren Schutzschirmen Euroländer »retten« oder sie pleite gehen lassen? Mit militärischen Interventionen gegen menschenverachtende diktatorische Regimes vorgehen oder uns »friedlich« heraushalten? – Die Reihe der zurzeit hochkontrovers diskutierten Probleme ließe sich erheblich verlängern.

Kurz: Wir wissen nicht einmal, was wir selbst brauchen. Ist es dann nicht vermessen, Aussagen darüber treffen zu wollen, was heutige Kinder und Jugendliche für eine ferne Zukunft brauchen werden?

Vier Leitfragen zur Präzisierung der Ausgangsfrage

Kritische Leser werden es wahrscheinlich bemerkt haben: Dass die Argumentation im vorangehenden Absatz in Ausweglosigkeiten führte, lag nicht zuletzt daran, dass nicht klar unterschieden wurde zwischen einer Betrachtung individuellen Handelns auf der einen und politisch-gesellschaftlichen Handelns auf der anderen Seite. Wenn wir diese Unschärfe vermeiden und uns darüber hinaus, etwas bescheidener, auf einige vornehmlich in pädagogischer Hinsicht interessante Aspekte der Ausgangsfrage beschränken, lassen sich durchaus Teilfragen generieren, auf die wir mit unserem heutigen Wissen vernünftige, zumindest aber diskussionswürdige Antworten geben können. Die folgenden vier Fragen scheinen mir in dieser Hinsicht sinnvoll und hinreichend konkret:

Was sollten heutige Schülerinnen und Schüler – schulisch (in allgemeinbildenden Schulen) und außerschulisch – lernen, welche Erfahrungen sollten sie machen können, damit sie – geurteilt nach bestem Wissen und Gewissen von uns heutigen Erwachsenen – eine begründbare Chance haben,

  • … sich zurechtzufinden und für sich einen Platz zu finden in der Welt, in der sie als Jugendliche bzw. junge Erwachsene nach ihrer Schulzeit leben werden?
  • … die Welt, in der sie als Erwachsene leben werden, aktiv und in politischer und sozialer Verantwortung mitgestalten zu können?
  • … ihren Interessen folgen zu können, ihre besonderen Fähigkeiten zu Entfaltung zu bringen und persönliches Glück zu erleben?
  • … Zukunftsängste bewältigen zu können und mit denkbaren Katastrophen, die möglicherweise durch ökologische, soziale, politische und/oder demografische Fehlentwicklungen ausgelöst werden, so umgehen zu können, dass sie – eigenes Überleben vorausgesetzt – nicht daran zerbrechen?

Ich gehe nun so vor: Zunächst erörtere ich, wie Lernen in der Gegenwart, das sich zu »Lebenserfahrung« verdichtet, zur Zukunftsbewältigung beiträgt – und inwiefern »Bildung« über Lebenserfahrung hinausgeht. Anschließend nutze ich eine Selbstbefragung als Anstoß zu einer Reflexion über die Zukunftsfähigkeit dessen, was wir heutigen Erwachsenen während unserer Schulzeit gelernt haben. Zum Abschluss stelle ich einige Ideen zur Diskussion, was Schulen dazu beitragen können, Schülern und Schülerinnen in den mit den obigen vier Leitfragen umrissenen Zukunftsfeldern Handlungsfähigkeit zuwachsen zu lassen und Lebenssinn zu ermöglichen.

Lernen im Alltag, Lebenserfahrung und Bildung

Lernen ist für uns Menschen etwas Alltägliches. Wir können gar nicht leben, ohne dauernd zu lernen: Ständig nehmen wir neue Informationen auf, machen wir Erfahrungen, die unser Gedächtnis speichert und die unser zukünftiges Verhalten beeinflussen. Mit besonderer Intensität, die sich mit zunehmendem Alter allmählich abschwächt, lernen Menschen als Kinder und Jugendliche: Man könnte sie geradezu als »lernende Wesen« charakterisieren.
In Auseinandersetzung mit unserer Umwelt eignen wir uns eine Fülle unterschiedlichster Kompetenzen an (Kompetenz  =  ein Bündel von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, das uns in die Lage versetzt, bestimmte Situationen erfolgreich zu bewältigen), Kompetenzen, die wir anschließend erweitern, verfeinern, modifizieren, miteinander vernetzen, die sich mitunter auch wieder – wenn wir keinen Gebrauch von ihnen machen – abschwächen oder gänzlich verlieren. Die meisten unserer Kompetenzen erwerben wir informell– in der Familie, im Zusammensein mit Peers, in der Öffentlichkeit –, andere in formellen Umgebungen, z. B. im schulischen Unterricht.

Lernen vollzieht sich in der Gegenwart und ist meist auf eine sehr nahe Zukunft gerichtet, in der das Gelernte »angewendet« wird: räumliche Orientierung in einer für uns neuen Stadt, konkrete Fertigkeiten in einer Sportart oder beim Spiel eines Musikinstruments; die Bedienung eines neu erworbenen technischen Geräts; ein eng umschriebenes schulfachbezogenes Wissen (Vokabeln, physikalische Gesetze) oder Können (ein Gedicht analysieren, einen mathematischen Beweis führen), welches das Bestehen eines Tests oder einer Klassenarbeit ermöglicht; argumentative Selbstbehauptung in einer Diskussion. Je älter wir werden, desto stärker löst sich vieles des bisher Gelernten von einzelnen begrenzten Situationen, von genau beschreibbaren Kompetenzen, geht in umfassendere Wissens- und Könnensnetze ein: Das Gelernte verdichtet sich einerseits zu beruflicher Könnerschaft (»Professionalität«) in einigen Spezialbereichen, andererseits – sehr viel allgemeiner – zu »Lebenserfahrung«. Lebenserfahrung gewinnen wir gleichsam naturwüchsig; sie hilft uns, dass wir uns in der im Einzelnen unbekannten, vielfach mit Überraschungen aufwartenden Zukunft orientieren können. Es spricht vieles dafür, dass uns die Disposition, aus unseren Erfahrungen für denkbares zukünftiges Verhalten Schlüsse zu ziehen, angeboren ist – ob uns unsere Lebenserfahrung allerdings eine hinreichende Orientierung gibt, ob sie uns »trägt« und dazu beiträgt, dass wir unser Leben als »gelungen« erleben können, lässt sich erst in der Rückschau erkennen. Unreflektierte Lebenserfahrung hat ihre Grenzen: Sie versagt häufig, wenn sich die Gesellschaft, die Umwelt, die Lebensbedingungen so schnell ändern, dass wir mit dem, was wir weitgehend unreflektiert gelernt haben, neu aufkommenden Problemlagen nicht mehr gerecht werden können. Die in unseren jüngeren Jahren – in einer früheren Umwelt – erworbene Lebenserfahrung kann dann sogar zu einem Hemmschuh werden, der uns hindert, gänzlich neuen Anforderungen angemessen entgegenzutreten.

Mitglieder moderner Gesellschaften brauchen daher mehr als schlichte (unreflektierte) Lebenserfahrung. Sie bedürfen einer Ausstattung, die wir im deutschen Sprachraum »Bildung« nennen. Bildung ist mehr als die Summe der messbaren Kompetenzen. Persönliche Bildung ist gewissermaßen reflektierte Lebenserfahrung, die in einen kulturellen Kontext gestellt wird, und damit reflektierte Aneignung von Kultur. Auf diese Weise kann Bildung zu einer Ausstattung für komplexe und unvorhersehbare Situationen werden, Ausstattung für eine sich dynamisch verändernde Welt, die wir noch nicht kennen … Gewiss, auch vermeintliche Bildung kann erstarren, kann sich von lebendig gelebtem Leben abspalten – aber dann verdient sie eigentlich die Bezeichnung »Bildung« nicht.

Nach diesen klärenden Zwischenüberlegungen wende ich mich wieder dem Ausgangsthema zu: Wie kann es gelingen, durch schulische Angebote und Aktivitäten dem Einzelnen eine Chance auf eine Bildung zu geben, die es ihm ermöglicht, sich im Sinne der vier Leitfragen aus dem vorangehenden Abschnitt in einer ungewissen Zukunft zu bewähren?

Eine Selbstbefragung und ihre Reflexion

Lehrer – und inzwischen auch Hochschullehrer – sind durch Lehrpläne verpflichtet, den ihnen anvertrauten Kindern, Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen eine Fülle sehr unterschiedlicher Themen und Stoffe nahezubringen, die sich möglichst in abprüf- und benotbarem Wissen und Können niederschlagen sollen. Als Lehrer und Hochschullehrer haben wir unsere Wissensdomänen und Spezialgebiete, in denen wir uns sehr gut auskennen – und die wir schon deshalb bisweilen für höchst bedeutsam, wenn nicht gar unverzichtbar halten. Das Los von Schülern und Studierende ist es, dass sie fortwährend von einem Stoffgebiet und Fach zum nächsten springen müssen, und im ungünstigsten Falle ist nichts davon für sie von wirklichem Interesse. Wie wichtig ist all dieses schulische (und hochschulische) Wissen für die Zukunft der Lernenden?

Diese Frage lädt zu einer Erkundung der eigenen Biografie ein: Heute stehen Sie als erwachsener Mensch an einer Stelle, die, von Ihrer Schulzeit aus gesehen, in einer sehr fernen und unvorhersehbaren Zukunft lag. Was von dem, was Sie – je nach Ihrem jetzigem Alter – vor zehn bis vierzig oder sogar fünfzig Jahren konkret gelernt haben, ist für Ihre heutige Alltagsbewältigung noch von Bedeutung? Lösen Sie – wenn Sie nicht gerade Mathematiklehrerin sind – quadratische Gleichungen? Interpretieren Sie – wenn Sie nicht gerade Deutschlehrer sind – klassische Dramen? Führen Sie – wenn Sie nicht gerade Chemielehrerin sind – chemische Experimente durch? … Vermutlich geht es Ihnen wie mir: Nichts dergleichen! Ein Großteil des seinerzeit an uns herangetragenen Schulstoffs – und zwar im Schnitt umso mehr, je höher die betreffende Jahrgangsstufe – ist für die reale Bewältigung unseres heutigen privaten, beruflichen und politischen Lebensalltags (von damals aus gesehen: unseres zukünftigen Lebensalltags) völlig irrelevant.

Sehr vieles von dem, was ich heute fast täglich tue, habe ich erst im Laufe meines Erwachsenenlebens gelernt, und ich lerne noch immer fast täglich dazu. Um nur ein Beispiel zu nennen: bis auf das Tippen auf einer Tastatur alles, was mit dem Gebrauch des Computers als Arbeitswerkzeug zu tun hat. (Dass ich so manches nicht missen möchte, was ich damals gelernt habe und später nicht mehr gebraucht habe, steht auf einem anderen Blatt – es fand seine Erfüllung in der damaligen Gegenwart …).

Was hingegen habe ich während meiner Schulzeit gelernt, was mir heute noch von Nutzen ist, vielleicht sogar von lebenswichtiger Bedeutung? Das sind einerseits, wie für jedes Mitglied unserer Gesellschaft, die elementaren und erweiterten Kulturtechniken (Heymann 2008, S. 45 ff.): Lesen, Schreiben, Rechnen, elementare gesellschaftliche Umgangsformen, aber auch personale und soziale Kompetenzen, Lernkompetenzen, Kompetenzen zur aktiven, verantwortungsvollen, um Verständigung bemühten und kritischen Mitgestaltung des Miteinanders in Gruppen und größeren Gemeinschaften. Für all das war die Schule ganz gewiss nicht die einzige Quelle, aber sie hatte ihren Stellenwert im Zusammenspiel mit dem, was ich durch mein (vom gesellschaftlichen Status eher einfaches) Elternhaus, von weiteren Erwachsenen in meiner Umgebung und – last not least – von Freunden und Gleichaltrigen mitbekam. Dankbar bin ich bis heute, das ich mir frühzeitig eine Reihe musikalischer Kompetenzen (u. a. Klavierspiel) aneignen konnte – das ging wiederum auf eine Initiative meiner Eltern zurück, und Lehrer meiner Schule sowie Instrumentallehrer gaben mir dann, als meine Leidenschaft erwacht war, weitere Impulse.

Welche Erfahrungen habe ich damals machen können, die ich auf keinen Fall missen möchte? Und zwar deshalb nicht, weil sie mir geholfen haben, mein Leben so zu gestalten, dass ich heute im Großen und Ganzen damit zufrieden sein kann? Weil sie mir geholfen haben, nicht zu scheitern, Rückschläge zu verkraften, nach Niederlagen neu zu beginnen, meine Kraft und meine Fähigkeiten für Ziele einzusetzen, die es mir (und wie ich hoffe, nicht nur mir allein) wert sind? Mindestens ebenso entscheidend wie die oben angeführten Kompetenzen waren für meine persönliche Entwicklung Ermutigungen und Kritik durch von mir geschätzte Personen, die mich ernst nahmen (sowohl Lehrer und erwachsene Nicht-Lehrer als auch Freunde). Sie bestätigten mir in kritischen Phasen meiner Selbstfindung, dass ich etwas gut konnte, halfen mir, Zweifel an meinen Fähigkeiten überwinden, wiesen aber auch unmissverständlich auf Misslungenes hin und konterkarierten Selbstüberschätzungen. Und fast ebenso wichtig waren für mich die Erfahrungen, die ich durch eigenmotivierte Erkundungen neuer Gebiete machen konnte, durch Selbstversuche mit eigenem Können. Es führte zu Glücksgefühlen, wenn mir etwas gelang, was ich mir zunächst gar nicht zugetraut hatte, aber mir leidenschaftlich wünschte.

Ein vorläufiges Fazit


Damals kannte ich natürlich noch nicht die »Selbstbestimmungstheorie der Motivation« von Deci und Ryan (1993; vgl. auch Lankes 2010, S. 26 f.), die nicht ohne Grund bei Pädagogen viel Resonanz gefunden hat. Die Autoren gehen davon aus, dass intrinsisch motiviertes Handeln auf der Erfüllung dreier menschlicher Grundbedürfnisse beruht:

  • Erfahrung von Autonomie und Selbstbestimmung,
  • Erleben eigener Kompetenz und Selbstwirksamkeit,
  • Erfahrung von sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit.

Erfahrungen in allen drei Dimensionen (am wenigsten übrigens in der ersten) konnte ich glücklicherweise immer wieder machen, wie meine Aufzeichnungen im vorangehenden Abschnitt belegen.

Doch was helfen die persönlichen Erfahrungen eines einzelnen, überdies recht privilegierten Individuums, wenn es darum geht, im Sinne der zu Beginn dieses Beitrags formulierten vier Leitfragen zu bestimmen, was heutige Kinder und Jugendliche für die Zukunft brauchen? Ich denke, dass manches übertragbar ist – insbesondere, wenn wir die geschilderten Erfahrungen auf der Folie der drei Grundbedürfnisse nach Deci und Ryan interpretieren. Die weiteren im Rahmen des Themenschwerpunkts »Lernen für morgen« veröffentlichten Beiträge bieten viele Belege für die folgenden Einschätzungen (die Nummerierungen beziehen sich auf die vier Leitfragen):

  • Damit Schülerinnen und Schüler ihren Weg finden können in der Welt, in die sie nach ihrer Schulzeit entlassen werden, müssen sie eine reale Chance bekommen, die in unserer Gesellschaft lebenswichtigen Kulturtechniken und Basiskompetenzen, zu denen auch Lernkompetenzen gehören, nachhaltig zu erwerben: Ein »Bildungsminimum« für alle (Tenorth 2008) muss nach besten Kräften und durch gesellschaftliche Anstrengungen gesichert werden. Durch die PISA-Studien ist als erschreckender Befund ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass bei uns über 20% der Fünfzehnjährigen – vor allem in den Bereichen »Lesen« und »Mathematik« – dieses Bildungsminimum nicht erreichen. Vor allem der Beitrag van Dijks macht deutlich, zu welchen Ausgrenzungen das Nichtverfügen über dieses Bildungsminimum führt – und zeigt zugleich, wie wichtig es ist, dass die Lernenden selbst dieser Ausgrenzung entgegenzutreten versuchen.
  • Die Beiträge von Baringhorst (auf einer eher theoretischen Ebene) und van Dijk (sehr praktisch auf globales Lernen bezogen), aber auch das Gespräch über Werte zwischen Schmidt-Salomon und Riegel, thematisieren die besonderen Leistungen, die schulischerseits zu erbringen wären, um Schülerinnen und Schüler zu einer aktiven politischen und sozialen Mitgestaltung zu befähigen: Einen hohen Stellenwert haben die Diskurs- und Kritikfähigkeit sowie eine den kleinen privaten Horizont überschreitende Weltorientierung. Wie sich die Kreativität und das kritische Mitdenken von Schülern wecken lassen, zeigt der Beitrag von Burow anhand von Beispielen, in denen Kinder und Jugendliche die eigene Schule aktiv mitgestalten.
  • Zentral ist die Einsicht – sie findet sich besonders pointiert in den Beiträgen von Burow, Butt und van Dijk –, dass die Schule jedem Kind, jedem Jugendlichen den Raum geben muss, seine eigenen Interessen und Besonderheiten zu entdecken und zu entwickeln, damit sie sich auf diese Weise für sich selbst und andere sichtbar machen können; und in diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass das unter (1) geforderte Bildungsminimum lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für ein gelingendes Leben ist: Jedem Schüler sind Anreize, Anregungen und Chancen auf »mehr« zu gewähren.
  • Zukunft darf keinesfalls als »Drohkulisse« aufgebaut werden; die Stärke, auch denkbaren (und nicht einmal unwahrscheinlichen) Katastrophen ins Auge zu sehen, ohne im Blick auf das eigene Leben zu verzweifeln, dürfte am ehesten denjenigen jungen Menschen gelingen, denen im Sinne der Punkte 1. bis 3. Gelegenheit gegeben wurde, Vertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln. Die Essays der Schülerinnen und Schüler des Walburgis-Gymnasiums zeigen sehr deutlich die Ambivalenz, wenn nicht Skepsis der jungen Autor(inn)en gegenüber der von ihnen erworbenen Schulbildung – und lassen zugleich die Hoffnung aufkommen, dass die von ihnen selbst als eher unzureichend eingeschätzte Ausrüstung sie befähigen wird, ihr Leben erfolgreich zu meistern.

Literatur

  • Deci, E. L./Ryan, R. M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik Jg. 39/1993, S. 223 – 238
  • Heymann, H. W. (2008): Kulturtechniken – neu betrachtet. In: PÄDAGOGIK H. 7 – 8/2008, S. 44 – 48
  • Lankes, E.-M. (2010): Interesse wecken. Was wissen wir über die Motivierung von Schülern? In: G. Eikenbusch/H. W. Heymann (Hg.): Was wissen wir über guten Unterricht? Hamburg, S. 23 – 31
  • Tenorth, H.-E. (2008): Grundbildung klären – Mindeststandards formulieren. In: PÄDAGOGIK H. 7 – 8/2008, S. 70 – 73

Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor (em.) für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 7-8/2012