Praxishilfen Schulentwicklung
Ist Schulentwicklung noch relevant und Erfolg versprechend, wenn es laut Hattie hauptsächlich auf den einzelnen Lehrer ankommt, ob Unterricht gelingt? Oder ist nicht gerade die Entfaltung von Lehrerkompetenzen höchst voraussetzungsvoll und kontextabhängig? Welche Prioritäten setzt die Schulentwicklungsforschung, wenn es um evidente Gelingensbedingungen bei der Entwicklung einzelner Schulen geht?
Am besten, wir fangen mit Hattie an. Da ist derzeit die Aufmerksamkeit besonders groß. Das hängt einmal an der schieren Auswertungs- und Systematisierungsleistung, die hinter dieser gewaltigen Meta-Meta-Studie steckt, zum anderen an der Faszination, im Detail ausgerechnet zu bekommen, welche Maßnahmen für das Lernen der Schüler wirksam sind und welche nicht, und zum dritten, dass es letztlich auf den Lehrer ankommt. Um wirksames Lehrerhandeln geht es in seinem zweiten Buch (Hattie 2012), zu dessen Relevanz für Schulen in Deutschland kürzlich in dieser Zeitschrift ein Beitrag erschienen ist (Höfer/Steffens 2013).
Schulentwicklung nach Hattie?
Haben demnach Begriffe wie Schulentwicklung und Schulstrukturen ausgedient? Spielen Rahmenbedingungen von Schule und deren innere Architektur keine Rolle mehr?
Als Lesehilfe mit Korrekturfunktion für jede Hattie-Lektüre sei in diesem Zusammenhang auf den Beitrag »Die Hattie-Studie: Ein Rorschach-Test« (Rolff 2013) in Heft 4/2013 dieser Zeitschrift hingewiesen. An Hand der Schlüsseltexte eines Bildungsforschers und eines Journalisten weist Rolff auf vier »Unschlüsse« hin – z. B. »Schulstruktur spielt keine Rolle« oder »Frontalunterricht ist am effektivsten – Reformpädagogik bringt nichts« – , die aus der Hattie-Studie herausgelesen werden, dort aber gar nicht belegt sind. Insofern Rorschach-Charakter, weil die Interpretation mehr vom Standpunkt des Rezipienten abhängt als von den Ergebnissen der Studie. Zudem weist Rolff auf Einseitigkeiten der Studie hin wie der »kognitiven Verengung« (Zielvariable ist der Wissenserwerb in wenigen Hauptfächern) und der Isolierung beziehungsweise Fragmentierung. »Aber man weiß, dass auch die stärksten Variablen ihre Wirkung nur mit anderen Variablen zusammen entfalten. So ist eine Unterrichtsentwicklung vor allem dann nachhaltig, wenn sie kooperativ betrieben wird« (Rolff 2013, S. 49).
Aber auch Haltungen und Kompetenzen von Lehrkräften, die sich nach Hattie als besonders lernförderlich erwiesen haben – insbesondere die Unterrichtsgestaltung mit den Augen der Lernenden, die evaluative Orientierung sowie die kognitive Aktivierung sind nicht einfach je individuell vorhanden (Glück für die Schüler) oder nicht vorhanden (Pech für die Schüler). Sie sind in hohem Maße voraussetzungsvoll. Ihre Entfaltung und ihre Wirkung können erschwert oder begünstigt werden (vgl. Eikenbusch 2013) und hängen insofern von den Rahmenbedingungen der einzelnen Schule ab, wozu auch »systematische, langfristig ausgerichtete Programme der Lehrerprofessionalisierung« gehören (Huber 2013, S. 63). Von Hattie lernen meint demnach nicht den Rückzug des einzelnen Lehrers auf seine professionelle Autonomie, sondern die gemeinsame Herstellung von Befähigungen und Bedingungen, die das Lernen der Schüler wirksam fördern. Denn: »Wer den Unterricht verändern will, muss mehr als den Unterricht verändern« (Rolff 2007, S. 15). Diese Erkenntnis führt zurück in die Frühzeit der Schulentwicklung in Deutschland, die gar nicht so lange her ist.
Die einzelne Schule im Blick
Schulentwicklung hat in Deutschland ein Datum und einen Namen. 1973 beschloss der Landtag von Nordrhein-Westfalen die Einrichtung einer Arbeitsstelle für Schulentwicklungsforschung, dem späteren »Institut für Schulentwicklungsforschung« (IFS) an der Universität Dortmund. Gründungsdirektor und langjähriger Leiter war Hans-Günter Rolff. Zunächst beschäftigte sich das Institut mit Studien zur Planung der äußeren Schulangelegenheiten und des Schulsystems insgesamt. Erst Ende der 1980er-Jahre schärfte sich das heutige Verständnis von Schulentwicklung: weg von der zentralistischen Schulplanung und Erlasssteuerung, hin zur Entdeckung der Schule als Organisation beziehungsweise der Einzelschule als pädagogisch relevante »Handlungs- und Gestaltungseinheit« (vgl. Fend 1986). Seit den 1990er-Jahren stehen dann nicht mehr nur Organisationsprozesse im Fokus der Schulentwicklung, sondern gleichzeitig der Unterricht und die Lehrkräfte. Schulentwicklung kann demnach als Trias von Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung verstanden werden. Seit 1980 präsentiert das vom IFS herausgegebene »Jahrbuch für Schulentwicklung« regelmäßig alle zwei Jahre – inzwischen ist Band 17 erschienen – wichtige Daten, Beispiele und Perspektiven der Schulentwicklung.
Spannungsfelder
Als administrative Reaktion auf das Paradigma von der Einzelschule als »Motor der Schulentwicklung« (Dalin/Rolff 1990) haben sich dann auch die Steuerungsmodelle der Schulbehörden geändert. Bis in die Schulgesetze der Bundesländer hinein wird stärker auf die Eigenständigkeit und Selbststeuerung der Schule gesetzt, die Stellung der Schulleitung gestärkt und die Akteure – Lehrer, Schüler, Eltern – am Entwicklungsprozess beteiligt. Inzwischen ergibt sich in der Nach-Pisa-Diskussion ein zunehmendes Spannungsfeld zwischen proklamierten Handlungsspielräumen der einzelnen Schulen und standardisierenden und kontrollierenden Verfahren der Zentralinstanzen: Überprüfung der Bildungsstandards, länderübergreifende Leistungsvergleiche, Schulinspektion, zentrale Prüfungen. »Das beherrschende Thema ist ganz offensichtlich nicht mehr: Wie kann die Entwicklung von einzelnen Schulen angeregt werden?, sondern die Steuerung einer bestimmten Entwicklung des Schulwesens in Richtung Leistungsfähigkeit, Effizienz und Ökonomie« (Altrichter 2006).
Gegen diese Zielrichtung, falls sie sich am umfassenden Bildungsauftrag der Schule orientiert, wie er in den Schulgesetzen aller Bundesländer kodifiziert ist, lässt sich nichts einwenden. Es muss aber bei allen steuernden Maßnahmen bedacht werden, dass ohne die Räder – d. h. die Akteure vor Ort – eine Steuerung nicht funktionieren kann.
Institutionelle Effekte
Wie die Qualität der Einzelschule verbessert werden kann, und zwar die des Unterrichts und des Schullebens, danach fragt die Schulentwicklungsforschung. Der seit TIMSS und PISA auch in Deutschland boomenden Schuleffektivitätsforschung dagegen geht es um Faktoren, die zu guter Schülerleistung führen. Hier haben Schule und prozessbezogene Aspekte wie die Organisation und die Kooperationskultur einer Schule »zwar nur vernachlässigbare bis geringe Wirkungen, es ist jedoch davon auszugehen, dass sie indirekte Auswirkungen haben, da sie die Basis einer gemeinsamen Unterrichtsentwicklung darstellen (Lindemann 2013, S. 64). Also wenn man z. B. den Faktor Schulleitung betrachtet: lediglich indirekte Wirkung auf die gemessene Schülerleistung, aber direkte Wirkungen auf die Lehrer und die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit und damit – eben indirekt – auch des Unterrichts. Baumert u. a. haben bereits bei der Analyse der ersten PISA-Ergebnisse auf die Bedeutung institutioneller Effekte hingewiesen:
»Der Schluss, den man aus den Ergebnissen ziehen muss, ist offenkundig. Sowohl Schulformen als auch Einzelschulen innerhalb derselben Schulform stellen institutionell vorgeformte differenzielle Entwicklungsmilieus dar. Schüler und Schülerinnen mit gleicher Begabung, gleicher Fachleistung und gleicher Sozialschicht erhalten je nach Schulformzugehörigkeit und je nach besuchter Einzelschule unterschiedliche Entwicklungschancen« (zitiert nach Bonsen u. a. 2008, S. 13).
Eine genauere Identifizierung solcher institutioneller Effekte beziehungsweise der Faktoren, die sie hervorrufen, ist für die Schulentwicklung von besonderem Interesse.
Anlässe und Notwendigkeiten, die eigene Schule auf ihre Entwicklungspotenziale hin zu betrachten und nach einer gemeinsamen Analyse entsprechende Entwicklungsschritte einzuleiten, gibt es reichlich. Dazu können Ereignisse gehören wie ein Wechsel in der Schulleitung, ein schlechtes Abschneiden bei der Schulinspektion oder größere bauliche Veränderungen, auch Strukturentscheidungen wie die Einführung des Ganztagsbetriebs, der Inklusion, die Fusion zweier Schulen oder die Entwicklung zur Gemeinschaftsschule.
Drei »Treiber« von Schulentwicklung
Inzwischen liegen – auch wenn die empirische Basis noch an vielen Stellen defizitär ist – eine Reihe in Deutschland ermittelter Untersuchungsergebnisse zu Gelingensbedingungen von Schulentwicklung vor (referiert u. a. bei Lindemann 2008, S. 67 – 81), die in den wesentlichen Merkmalen übereinstimmen. Auf der Basis von Meta-Analysen zu diesen Studien lassen sich drei zentrale Faktorengruppen identifizieren, die als »Treiber« von qualitätsvoller Schulentwicklung fungieren (zitiert nach Rolff 2013, S. 42 ff.):
Zielführendes Handeln
Worum geht es in diesem Heft?
Absicht dieses Schwerpunktes ist es, den genannten »Treibern« von Schulentwicklungsprozessen konkrete Gestalt zu geben. Dabei werden die Erfahrungen einzelner Schulen mit Maßnahmen berichtet, die auf Zielführung, Teamentwicklung und Feedback-Kultur fokussieren, und nach beobachteten Effekten für die weitere Entwicklung dieser Schulen gefragt.
Die Erfahrungsberichte der ausgewählten Schulen geben Antworten und Anregungen zu folgenden Fragen:
Die Fokussierung auf diese wenigen zentralen Felder von Schulentwicklung hat den Vorteil, dass mit Erfolgen bei der Umsetzung gerechnet werden darf. Außerdem ist ihre Bearbeitung nicht abhängig von behördlicher Sanktionierung, sondern kann selbstbewusst von der einzelnen Schule in Angriff genommen werden.
Literatur
Dr. h. c. Peter Daschner, Landesschulrat a. D., ist Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Am Pfeilshof 35, 22393 Hamburg
E-Mail: peter.daschner(at)hamburg.de
Aus: Pädagogik 12/13