Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit

Freiwilligendienste für junge Menschen - diesseits und jenseits des Zivildienstes

Zusammenfassung

Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen hat sich nicht nur in den letzten Jahren merklich gewandelt, sondern wird sich auch in den nächsten Jahrzehnten weiter verändern. Dieser Umstand, der für die Bedeutung und Stellung von Jugendfreiwilligendiensten von erheblichem Belang ist, lässt sich an zumindest drei Punkten festmachen. -- (1) So hat der Kampf um das goldene Kalb "Jugend" längst begonnen. Eher verdeckt, zum Teil indirekt, bisweilen auch hinter den Kulissen, aber mit einer nicht zu unterschätzenden Wirkung wird das drohende oder sich abzeichnende "Verschwinden der Jugend", also der demografisch bedingte zahlenmäßige Rückgang junger Menschen beklagt. Zumindest lassen sich manche Aktivitäten und Befunde der letzten Jahre so deuten. Der große Rahmen lässt sich dabei mit dem Stichwort des "demografischen Wandels" umschreiben, einem Schlüsselbegriff, der Deutschland erstmalig seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Tatsache konfrontiert, dass nicht nur die Zahl der Kinder und Jugendlichen zurückgeht, sondern auch der prozentuale Anteil junger Menschen an den Pforten des Arbeitsmarktes sinkt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). In der Folge führt dies zu einer langsam, aber sicher wachsenden Anzahl an Schülern, Konsumenten, Auszubildenden, Studierenden und Beschäftigten, die in diesem und dem nächsten Jahrzehnt all jenen Instanzen, Akteuren und Branchen fehlen werden, die direkt oder indirekt von der Zahl junger Menschen und deren Präferenzen und Nachfrage abhängig sind. So kommen die jüngsten Klagen verstärkt aus dem Lager der Arbeitgeber, die ihre Lehrstellen nicht mehr so problemlos besetzen können und vorsorglich schon einmal über den drohenden Fachkräftemangel klagen. Diesen quantitativen Schwund werden die Schulen im nächsten Jahrzehnt ebenso zu spüren bekommen wie die berufliche Bildung, die Jugendfreizeitstätten genauso wie die Jugendorganisationen oder die kulturelle Jugendbildung. Und auch vor den Freiwilligendiensten, in welcher Form auch immer, wird diese Entwicklung nicht halt machen, zumal dann nicht, wenn Arbeitgeber händeringend nach jungen Arbeitskräften suchen. -- (2) Allerdings ist diese demografische Komponente nicht alles. Hinzu kommt ein fundamentaler Umbau der Bedingungen des Aufwachsens, eine Neuformatierung des Verhältnisses von privater Erziehung in den eigenen vier Wänden und der öffentlichen Verantwortung des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungswesens in staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Form. Fundamental zunehmen wird das, was man als "Institutionalisierung des Aufwachsens" oder als "betreute Kindheit" bezeichnen kann (Wittmann/Rauschenbach/Leu 2010): Man denke nur an den U3-Ausbau, also an das im Aufbau befindliche Angebot für unter Dreijährige, die fast 100-prozentige Inanspruchnahme des Kindergartens oder an die stetig wachsenden Anteile an Ganztagsschulen in der bundesweiten Schullandschaft. Mit anderen Worten: In wenigen Jahren wird sich zumindest das erste Lebensjahrzehnt des Aufwachsens regelhaft und in erheblichem Umfang in Ergänzung zur Familie in starkem Maße in öffentlichen Einrichtungen vollziehen. Auch diese Veränderung wird Rückwirkungen auf das Aufwachsen junger Menschen haben, sei es durch die wachsende Zahl an Menschen, die sich um diesen öffentlichen Teil des Aufwachsens von Berufs wegen und gegen Bezahlung kümmern oder sei es in Anbetracht einer stärkeren institutionellen Normierung eines durchschnittlichen Lebenslaufs, der die Bildungsbiografien der Heranwachsenden vorzeichnet. Die interessante Frage wird sein, wie sich beide Entwicklungen auf das künftige Verhalten junger Menschen mit Blick auf ihre Entscheidung für einen Freiwilligendienst auswirken. -- (3) Schließlich lässt sich - möglicherweise mit den ersten beiden Punkten verwoben, aber alles in allem doch einer eigenen Logik folgend - so etwas wie eine Verdichtung des Kindes- und Jugendalters beobachten (manche nennen das auch eine Ökonomisierung des Kindes- und Jugendalters). Das beginnt mit einer partiellen Vorverlegung des Einschulungsalters, setzt sich fort mit einer Ausweitung der unterrichtsnahen Gestaltung der Ganztagsschule, wird am deutlichsten erkennbar in der fast flächendeckenden Umstellung der Gymnasialzeit von 9 auf 8 Jahre, also den G8-Gymnasien, zeigt sich des weiteren in den seit 20 Jahren sinkenden Dienstzeiten bei Wehrpflicht und Zivildienst sowie dem vermutlichen Wegfall dieser Dienste und endet schließlich in der Umstellung der Hochschulstudiengänge auf die kürzeren Bachelorstudiengänge. All dies führt in der Summe zu einer Verdichtung, zu einer Verkürzung der Ausbildungs- und Qualifizierungsphase sowie zu einer früheren Einmündung junger Menschen in den Arbeitsmarkt, was im Lichte einer schrumpfenden Zahl an Personen im Erwerbsalter ausgesprochen arbeitsmarktfunktional ist. Die Dramaturgie hinter diesem heimlichen Lehrplan geht von einer latenten Verschwendung von Kindheit und Jugend aus. Freiwilligendienste könnten im Fahrwasser dieser Logik rasch an den Rand gedrängt werden, sofern sie nicht selbst einen Mehrwert für die Gesellschaft und die jungen Menschen selbst in Aussicht stellen können. -- In der Summe heißt das, dass dies alles nicht ohne Rückwirkung auf das Engagement junger Menschen jenseits der vorgeprägten Qualifizierungs- und Bildungswege bleiben kann und wird. Die Optimierung, Verkürzung und Verdichtung der Wege ins Erwachsenenalter wird sich, so oder so, auch auf die Freiwilligendienste für junge Menschen auswirken - und zwar völlig jenseits der Frage, ob der Zivildienst wegfällt oder durch einen freiwilligen Zivildienst substituiert wird. Daher lohnt ein Blick auf die Verbreitung und die Erscheinungsformen der Freiwilligendienste. -- -- --

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Beitrag
Freiwilligendienste für junge Menschen - diesseits und jenseits des Zivildienstes
TUP - Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (ISSN 0342-2275), Ausgabe 6, Jahr 2010, Seite 404 - 414

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Titel

Freiwilligendienste für junge Menschen - diesseits und jenseits des Zivildienstes

Zeitschrift

TUP - Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (ISSN 0342-2275), Ausgabe 6, Jahr 2010, Seite 404 - 414

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Print ISSN

0342-2275

Verlag

Beltz Juventa

Autoren

Thomas Rauschenbach

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