Hans Eberwein

Konsequenzen der lernbehindertenpädagogischen Begriffsbildung für die Diagnostik, Didaktik und Schule für Lernbehinderte

"Wir wissen heute, welche Nachteile Sonderbeschulung mit ihren Separierungstendenzen hat: negative Selektion, Stigmatisierung, geringe Bildungsqualifikation und Verstoß gegen die Chancengleichheit im Bildungswesen."
Bleidick 1973

1. Das Intelligenzkriterium als Grundlage für Sonderschulbedürftigkeit

Nach wie vor kommt bei der Bestimmung von Lernbehinderung dem Intelligenzvermögen, also dem genetischen Potential des Schülers, die größte Bedeutung zu. Die Unterscheidung Bachs zwischen Lernstörung, die in den Kompetenzbereich der allgemeinen Schule fällt, und Lernbehinderung als langdauernder Beeinträchtigung, die der pädagogischen Aufmerksamkeit der Sonderschule bedarf, sowie Kanters Differenzierung in einerseits normalschulbezogene und andererseits sonderschulbedürftige Lernbehinderungen mit deutlichem Intelligenzrückstand und das Festhalten Bleidicks an der Intelligenzschädigung als zentraler Störung der geistigen Bildungsentwicklung wie auch die darauf fußende Definiton der KMK und die vom Bildungsrat angegebene Zahl von 2,5% sonderschulbedürftiger Lernbehinderter legen auch heute noch den Schluß nahe, daß die Schule für Lernbehinderte der 50er und 60er Jahre als Sammelbecken für Schulversager unterschiedlicher Genese einem erneuten sogenannten "Strukturwandel", gleichsam einer Rückentwicklung, unterworfen werden soll, mit dem Ziel der Erhaltung einer Restsonderschule, wodurch die Konzeption der historischen Hilfsschule als Schule für Schwachbegabte aufs neue konstituiert würde.
Ehe ein Schüler der Schule für Lernbehinderte zugewiesen wird, muß festgestellt werden, ob "Lernbehinderung" tatsächlich vorliegt. Dazu wird ein Überprüfungsverfahren eingeleitet, das von der Voraussetzung ausgeht, daß dieses Diagnosemerkmal von der Schulverwaltung eindeutig definiert bzw. operationalisiert ist. Kautter/Munz (1974, 245) haben jedoch nachgewiesen, daß in den entsprechenden Verordnungen der einzelnen Bundesländer keine exakten Merkmale "lernbehinderter" Schüler angegeben sind, d.h., es bestehen keine klaren Vorstellungen und Festlegungen darüber, weiche Kriterien erfüllt sein müssen, um einem Urteil die Kategorie "Lernbehinderung" zugrunde zu legen. Trotzdem wird diese Diagnose jährlich auf etwa 3% der Schüler eines Jahrgangs angewandt.
Eine Arbeitsgruppe des Verbandes Deutscher Sonderschulen hat 1974 versucht, Kriterien für die Sonderschulbedürftigkeit Lernbehinderter zu erstellen. Sie kam zu dem Ergebnis, Lernbehinderung sei "letztlich ein Relativum"; man müsse die Bedürfnisse der Schüler und die Möglichkeiten der Schule ebenso mitbedenken wie die gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Z. f. Heilpäd., 25. Jg., 1974,44).
Noch immer gilt das Intelligenzkriterium als "zuverlässiges" Merkmal für Lernbehinderung, auch wenn es aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse der Lern- und Sozialisationsforschung heute nicht mehr vertretbar ist, "die im Intelligenztest ermittelte augenblickliche intellektuelle Leistungsfähigkeit als sicheres Kriterium für eine irreversible Schullaufbahnentscheidung anzusehen" (Kautter/Munz ebd., 259). Eine "sichere langfristige Prognose des Schulerfolgs" kann nach Kautter und Munz (ebd., 260) nicht erstellt werden. Sie wenden sich deshalb mit Nachdruck gegen eine "statische Sicht der Lernbehinderung". Die "Dauerhaftigkeit" der Lernbehinderung lasse sich als Auslesekriterium nicht halten (ebd., 258). Der vorherrschenden genetischen Sichtweise setzen sie die "Umweltabhängigkeit der Variabilität intellektueller Leistungen", starre schulorganisatorische Strukturen, unzulängliche Differenzierungen und inadäquate Lerngewohnheiten entgegen (ebd., 260). Außerdem zeigten sich in den Schulleistungsbeurteilungen der Lehrer erhebliche inter- und intraindividuelle Differenzen (ebd.,287). Im übrigen habe sich in verschiedenen Untersuchungen die Schulleistung signifikant höher vom Sozialstatus abhängig erwiesen als die Intelligenzleistung (ebd., 299).
Bleidick wies schon 1968 (452) darauf hin, die empirische Forschung über die Beziehung zwischen Lernen und Intelligenz beweise, "daß eine strenge Definition von Lernbehinderung im psychologischen Sinne gar nicht durchzuhalten (sei)". Auch die formale Definition des Deutschen Bildungsrates, die die Merkmale "Intelligenzminderung" und "Schulversagen" zusammenfaßt, ist "aus testtheoretischer Sicht unzulänglich" (Barkey u.a. 1976, 71).
Für Langfeldt (1975,60) ist die Umschulungsdiagnostik auch inhaltlich nicht valide und in zweifacher Hinsicht unglaubwürdig: "Entweder sie diagnostiziert allgemein 'eine Lernbehinderung' des Schülers, dann diagnostiziert sie ein erwiesenermaßen undefinierbares, mithin undiagnostizierbares Phänomen, oder aber sie diagnostiziert einzelne Merkmale als Konstituenten einer möglichen Lernbehinderung, dann ist sie jedoch nicht in der Lage, die Bedeutsamkeit dieser Merkmale anzugeben".
Wenn aber "Lernbehinderung" sich nicht befriedigend diagnostizieren. sondern nur vage umschreiben läßt. wird das sonderpädagogische Überprüfungsverfahren im Sinne einer selektiven Diagnostik zur Farce und damit nicht mehr verantwortbar. Außerdem legt Langfeld dar, daß eine Umschulungsentscheidung, schulorganisatorisch-formal gesehen, sich nie als falsch herausstellen kann. Somit ist eine "prognostische Validität" der Diagnose prinzipiell nicht belegbar (ebd., 61). Er nennt dazu drei Verläufe der Sonderschulkarriere: "l. Der Schüler versagt auch in der Sonderschule L. Er kann dann möglicherweise in die Sonderschule für Geistighehinderte umgeschult werden. Die Entscheidung, ihn aus der Volksschule herauszunehmen, erwies sich damit als richtig.
2. Der Schüler besucht die Sonderschule L mit durchschnittlichem Erfolg. Es ist dann offensichtlich, daß (endlich) die ihm gemäße Form der Förderung gefunden wurde. Er besucht die Sonderschule also zu Recht.
3. Der Schüler ist in der Sonderschule L besonders erfolgreich und erbringt Leistungen, die denen eines Volksschülers nahezu gleich kommen. Dies kann als voller Erfolg der sonderpädagogischen Bemühungen gelten. Gerade in diesem Fall war die Umschulung berechtigt und zum Wohle des Schülers ... " (ebd., 60f.).

 

 

 

 

 

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Letzte Änderung: 25.5.98
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