Kapitel 10

Unterrichtsmethoden: Individueller Unterricht und humanistische Ansätze

10.1 Überblick

Wie stark sollten wir uns in die Lernprozesse unserer Schüler einbringen? Gibt es Situationen, in denen Schüler am besten lernen, wenn sie allein mit einem Lehrer zusammenarbeiten? Gibt es Situationen, in denen sie am besten lernen, wenn sie ganz auf sich allein gestellt sind? Wenn unser Bildungssystem als Richtziel das "Lernen zu lernen" proklamiert, d. h., daß Menschen auch nach ihrem Schulabschluß weiter lernen, müssen wir dann nicht beizeiten unseren Schülern die Gelegenheit geben, auf sich allein gestellt zu sein und selbständig zu lernen? Der individuelle Unterricht impliziert beides, Einzelbetreuung (One-on-One Teaching) und selbständiges Lernen. Der individuelle Unterricht kann auch ein individuallsierter Unterricht sein, muß es aber nicht. Individueller Unterricht – seine Ziele, Materialien, Inhaltsbereiche und Methoden – können methodisch dem einzelnen Schüler angepaßt sein, eine zwingende Notwendigkeit dazu besteht aber nicht. Ein individualisierter – vielleicht wäre es besser zu sagen adaptiver – Unterricht kann mit einem einzelnen Schüler oder mit einer kleinen Gruppe von Schülern durchgeführt werden (solange der Unterrichtsstoff für jeden einzelnen adaptiert ist). In diesem Kapitel befassen wir uns mit individuellem Unterricht, der unter bestimmten Voraussetzungen auch adaptiv sein kann.

Zunächst betrachten wir die verschiedenen Formen des individuellen Unterrichts, bei denen kaum zusätzliches Lerntmaterial oder eine spezielle Schulform nötig sind: Hausaufgaben, Lern- und Arbeitsgewohnheiten sowie selbständiges und selbstbestimmtes Lernen. Dann gehen wir auf solche Methoden ein, die eine gewisse Neuordnung der Schul- oder Klassenstruktur voraussetzen: Lernverhaltensverträge, Zielerreichendes Lernen (Mastery Learning) und Einzelbetreuungssysteme. Danach diskutieren wir die Komponenten der Tutorensysteme und ihre Effektivität. Abschließend gehen wir in diesemTeil auf das programmierte Lernen ein und behandeln dabei auch die Einsatzmöglichkeiten des Computers.

Dann kommen wir zu einem ganz anderen Typ von Unterricht, der sich in den sogenannten humanistischen Ansätzen festmachen läßt. Seit etwa 1960, als A. S. Neill sein Buch Summerhill veröffentlichte, gewann eine neue Bewegung immer mehr an Bedeutung. Ihr Ziel war es, die schulische Erziehung fundamental zu erneuern. Genau betrachtet war es eine Erneuerungsbewegung, deren Wurzeln im 18. Jahrhundert (Rousseau) und im frühen 20. Jahrhundert (John Dewey) zu finden sind. Die Bewegung fand bei Generationen von Studenten, die mit ihrer eigenen Ausbildung unzufrieden waren, großen Anklang. Diese Bewegung schien eine Antwort zu sein auf den Unmut mit dem bestehenden System und seinen Auswüchsen Reglementierung, Leistungsdruck, Wettbewerbsstreben, Sinnlosigkeit. Die Fürsprecher eines neuen Humanismus waren Neill, John Holt, Jonathan Kozol, Paul Goodman und andere. Die Bewegung ist dann unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt geworden: Neue Romantik, Alternative Erziehung usw. Wir verwenden im folgenden die Begriffe humanistische Erziehung und offener Unterricht.

Wir beginnen unsere Erörterung der humanistischen Ansätze im Unterricht mit der Darstellung ihrer Ziele. Im Anschluß daran behandeln wir die Frage, welche Prinzipien diesen Ansätzen zugrunde liegen. Dann stellen wir Methoden des offenen Unterrichts vor und beschließen das Kapitel mit einer kritischen Analyse der Praktikabilität offener Unterrichtsansätze.

10.2 Individueller Unterricht: Ziele und Begründungen

Unterrichtsvorträge, kürzere Erläuterungen und Kleingruppenunterricht sind Verfahren, die für bestimmte Bildungsziele geeignet sind, aber nicht generell zur Anwendung kommen können, denn es gibt Situationen, in denen Schüler auf sich allein gestellt arbeiten müssen. Warum? Weil individueller Unterricht uns die Möglichkeit gibt, auf die individuellen Unterschiede unserer Schüler genauer einzugehen und weil Schüler hier die Gelegenheit haben zu lernen, wie man selbständig wird.

Berücksichtigung individueller Unterschiede

Die Individualisierung des Unterrichts hat in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Die Pädagogen waren mit dem konventionellen Unterricht, mit seinen Grundannahmen und mit seiner Wirksamkeit, nicht mehr zufrieden. Diese Unzufriedenheit entstammt zum Teil den Bemühungen, individuelle Unterschiede im Unterricht zu berücksichtigen. Dieses Problem ist, insbesondere seit den zwanziger Jahren, ein wichtiger Forschungsgegenstand in der Pädagogik. Zu dieser Zeit war man aufgrund sich ausbreitender Testverfahren immer häufiger auf Intelligenzunterschiede zwischen einzelnen Schülern gestoßen. Aus entsprechenden Untersuchungen wurde deutlich, daß die besten Schüler in der üblichen Klassenzusammensetzung wesentlich mehr und wesentlich schneller lernen konnten als die leistungsschwächsten Schüler in dergleichen Klasse. Die Unterschiede machten die Aufgabe des Lehrers komplizierter. Aufgaben, die sich für einige Schüler als angemessen erwiesen, waren für andere nicht geeignet. Das Lernmaterial, die Erklärungen, die Unterrichtsgegenstände, die Diskussionen und viele andere Bestandteile des Unterrichts waren unweigerlich für manche Schüler in der Klasse unangemessen.

Die neuen Probleme führten unweigerlich zu einer Verteufelung des klassischem Unterrichtsvortrags. Aber auch bei der Unterrichtsdiskussion, an der sich die Schüler auf verschiedene Weise beteiligen konnten, war der Diskussionsgegenstand für alle Schüler, trotz der individuellen Unterschiede zwischen ihnen, immer derselbe. Trotz der Arbeit in kleinen Gruppen waren manche Schüler gelangweilt, frustriert und aufsässig. Es hatte den Anschein, als würde auch der Versuch, Schüler in kleinen Gruppen zu unterrichten, an bestimmten Schülern zwangsläufig vorbeiführen.

Die naheliegende Lösung war, Unterricht individuell auszurichten. Jeder Schüler sollte Aufgaben bearbeiten, die seinen speziellen Fähigkeiten und Interessen angemessen sind. Er sollte mit einer Lerntechnik und einem Lernstil arbeiten, die seinem Temperament entsprechen. Er sollte seine Lerngeschwindigkeit selbst bestimmen.

Eine Zwischenstufe auf dem Weg zum individuell ausgerichteten Unterricht war das Gruppieren nach Fähigkeiten. Dabei werden Schüler mit etwa der gleichen Fähigkeit in einer Gruppe zusammengefaßt. Die Gruppen können innerhalb einer Klasse gebildet worden oder sie können selbst getrennte Klassen für langsamere und schnellere Schüler darstellen. Damit verband sich die Vorstellung, daß Unterricht mit gleich leistungsfähigen Schülern effektiver sein würde. Überraschenderweise hat sich das aber nicht in allen Fällen als richtig herausgestellt. Die Untersuchungsergebnisse über homogene Lerngruppen sind sehr uneinheitlich, besonders was die Daten über Leistung, Selbstbild, Einstellungen zu anderen und individuelles Verhalten in solchen Gruppen betrifft (Rosenbaurn, 1980). Die Einstufung nach intellektuellen Fähigkeiten hat auch zu dem Verdacht schichtenspezifischer Diskriminierung geführt, was verschiedentlich auch nachgewiesen wurde: Schüler aus Familien mit geringerem Einkommen finden sich in einer Gruppe wieder, Schüler aus Familien mit höherem Einkommen in einer anderen (Oakes, 1985, 1991).

Andere Versuche, mit dem Problem der individuellen Unterschiede fertig zu werden, waren: Förderklassen, Einzelbetreuungsmaßnahmen, Schulen ohne Noten, Klassen wiederholen oder überspringen, Akzelerationsverfahren und Schulwechsel, aktivitäts- und themendifferenzierter Unterricht in kleinen Gruppen oder der Klasse.

 

 

 

 

 

© Verlagsgruppe Beltz, 1998
Letzte Änderung: 25.5.98
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