3. Die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit

Im Vorfeld der Beurteilung der Aussagequalität werden Daten zu der speziellen, d.h. auf die spezifische Situation des in Frage stehenden Sachverhalts einerseits und die der Aussageerhebung andererseits bezogenen Aussagetüchtigkeit des Zeugen erhoben und beurteilt. Mit den Begriffen Aussagetüchtigkeit oder Aussagefähigkeit ist die Fähigkeit des Zeugen gemeint,

• den in Frage stehenden Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen,
• ihn in der zwischen dem Geschehen und der Befragung liegenden Zeit im Gedächtnis zu bewahren,
• über ausreichendes Sprachverständnis für die Befragung sowie über ausreichende sprachliche Ausdrucksfähigkeit für die Schilderung des Geschehnisses zu verfügen,
• ein ausreichendes Maß an Kontrollmöglichkeiten gegenüber Suggestiveinflüssen zur Verfügung zu haben sowie
• Erlebtes von Phantasievorstellungen unterscheiden zu können.

Die Ausprägung der personenspezifischen Voraussetzungen für die Aussagefähigkeit ist nicht zeitüberdauernd stabil. Für die Begutachtung der Aussagetüchtigkeit von Relevanz ist die jeweilige Ausprägung der Funktionen, die während des in Frage stehenden Geschehnisses die Wahrnehmung, in der zwischen Geschehen und Aussage liegenden Zeit das Gedächtnis sowie während des Aussagens das Erinnern und die Wiedergabe beeinflußt haben bzw. beeinflussen könnten. Begutachtet wird also die spezielle Aussagetüchtigkeit in Abhängigkeit von tatbestands- und personenspezifischen Aspekten.
Im amerikanischen Rechtssystem ist die Bewertung der Aussagetüchtigkeit ("competency") dem Berufsrichter vorbehalten, der auf diese Weise einen Zeugen aus der Vernehmung vor der Jury ausschließen kann, während die Bewertung der GIaubhaftigkeit ("credibility") den Geschworenen überlassen bleibt. Sinn dieser Unterscheidung ist es, die Jury nur solche Aussagen hören zu lassen, deren Richtigkeit sie anhand ihres gesunden Menschenverstandes beurteilen kann, ohne daß spezielle Fachkenntnisse erforderlich wären, um nicht in die Irre geführt zu werden. Dabei haben in den letzten Jahren zunehmend gesetzliche Änderungen dazu geführt, den Jurymitgliedern mehr Kompetenz bei der Beurteilung von Zeugenaussagen zuzutrauen, d.h. weniger Zeugen wegen abgesprochener "competency" auszuschließen (Melton 1985, 1988, Haugaard 1988). Da das Absprechen der allgemeinen Zeugeneignung dazu führt, daß die Aussage des Zeugen für den rechtlichen Prozeß nicht weiter in Betracht gezogen wird, sollte diese nur in den seltenen Fällen verneint werden, in denen eine derart gravierende Einschränkung vorliegt, daß der Zeuge tatsächlich nicht dazu in der Lage ist, durch seine Aussage einen wie gering auch immer gearteten Beitrag zur Wahrheitsfindung durch das Gericht beizutragen. Da derart gravierende Einschränkungen in der Regel auch ohne spezielle Fachkenntnis ersichtlich sein werden, besteht die Aufgabe des psychologischen Sachverständigen bei der Feststellung der Aussagetüchtigkeit häufig eher darin, das Gericht auf minder schwere Einschränkungen der speziellen Aussagetüchtigkeit aufmerksam zu machen und auf entsprechende Techniken bei der Zeugenbefragung sowie bei der Gewichtung einzelner Aussageelemente hinzuweisen.
Die Aussagetüchtigkeit und somit die Aussagefähigkeit können von entwicklungs- und persönlichkeitsbedingten sowie von psychopathologischen Faktoren beeinträchtigt werden. Eine eingehendere Überprüfung der Zeugeneignung ist daher in der Regel bei Vorliegen einer oder mehrerer der im Folgenden kurz hinsichtlich ihrer Besonderheiten dargestellten Voraussetzungen indiziert.

Beeinträchtigungen in der Funktion der Sinnesorgane

Ein erster, keineswegs trivialer Aspekt der Aussagetüchtigkeit liegt in der Funktion der Sinnesorgane, die für die Wahrnehmung des in Frage stehenden Sachverhaltes notwendig waren. Wenn der Zeuge kurzsichtig ist und während des Geschehnisses seine Brille nicht aufgesetzt hatte, dann waren seine visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten zumindest eingeschränkt. Entsprechendes gilt für Hörgeräte, in beiden Fällen ist jedoch zu ermitteln, inwieweit diese Einschränkungen sich in der konkreten Situation tatsächlich mindernd auf die Aussagetüchtigkeit ausgewirkt haben.

Niedriges Lebensalter

Der in der Praxis am häufigsten anzutreffende Fall, in dem eine Konstellation gegeben ist, in der an eine unzureichende Zeugentüchtigkeit gedacht werden kann, ist die Bewertung der Aussagetüchtigkeit von (Klein-) Kindern, oft in Fällen sexuellen Mißbrauchs, in denen das Opfer meist auch der einzige Zeuge ist. Historisch betrachtet wurde sowohl Kindern als auch Jugendlichen vor allem in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die (allgemeine) Zeugeneignung vielfach abgesprochen. Als die Aussagetüchtigkeit beeinträchtigende Aspekte bei Kleinkindern wurden vor allem die mangelnde Fähigkeit, Phantasiertes von Erlebtem zu unterscheiden, erhöhte Suggestibilität sowie die noch nicht voll ausgebildete Fähigkeit, eine zusammenhängende und geordnete Darstellung zu geben, bewertet. Diese Betrachtungsweise wurde jedoch in der Literatur bereits seit Mitte der 60er Jahre relativiert, indem in zunehmendem Maße die Bedeutung der Umstände der Befragungssituation kindlicher Zeugen gegenüber der Bedeutung etwaiger entwicklungsphasenspezifischer Beeinträchtigungen hervorgehoben wurde (z.B. Undeutsch 1967). Obschon eine Altersgrenze, unterhalb derer einem Kleinkind die Aussagetüchtigkeit grundsätzlich abzusprechen wäre, nicht genau festgesetzt werden kann, ist doch aufgrund einer Reihe von entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten, (insbesondere Entwicklung von Gedächtnis und Sprachfähigkeit) davon auszugehen, daß Kinder in einem Alter von unter vier Jahren nur in seltenen Ausnahmefällen die Voraussetzungen für die Attestierung von Aussagetüchtigkeit erfüllen können.

 

 

 

 

 

© Verlagsgruppe Beltz, 1998
Letzte Änderung: 25.5.98
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