Pressemeldung

Donnerstag, 18. September 2014

»In die Freiheit ausgereist«

25 Jahre nach dem Fall der Mauer spricht Klaus Kordon über seine Zeit im geteilten Deutschland und über das »Krokodil im Nacken«

Lieber Herr Kordon, welche Gedanken gingen Ihnen durch den Kopf, welche Gefühle überkamen Sie, als Sie 1989 vom Fall der Mauer hörten?
Ich war auf Lesereise irgendwo zwischen Mannheim und Heidelberg. Nach meiner Abendlesung kam ich abends ins Hotel, aß noch etwas und schaltete dann auf meinem Zimmer den Fernseher an. Da sah ich Menschen über die Berliner »Bösebrücke« strömen – also von Ost-Berlin nach West-Berlin. Ich dachte, das wäre irgendein utopischer Film, bis ich mitbekam, dass das, was ich sah, pure Wirklichkeit war. Natürlich war an Schlaf nicht mehr zu denken. Das war ja meine Heimatstadt, in der in dieser Nacht geschah, was die ganze Welt bewegte. Außerdem wohnte ich nicht weit von dieser Brücke entfernt. Am nächsten Morgen dann fuhr ich zur nächsten Lesestation. Im Autoradio hörte ich den Berliner Regierenden Bürgermeister sagen: »Berlin, nun freue dich!« Da flossen die Tränen. Ich musste rechts ranfahren und erst mal ein bisschen abheulen. ICH FREUTE MICH WIRKLICH.


Sie gehören zu den knapp vier Millionen Menschen, die zwischen 1949 und 1989 aus der DDR flüchteten. 1972 begingen Sie »Republikflucht«. Wie haben Sie die Freiheitssehnsucht erlebt?
Ich bin in Berlin aufgewachsen und erlebte bis zu meinem 18. Geburtstag beide Teile der Stadt. Die Mauer wurde ja erst 1961 gebaut. Ich habe mich immer als Gesamtberliner empfunden. Plötzlich war die Hälfte der Stadt – und noch dazu die für Jugendliche interessantere, heller leuchtende Hälfte – ein verbotenes Territorium. Das war ein schmerzhafter Einschnitt in meinem Leben. Mir war vieles genommen worden, worauf ich nicht verzichten wollte.


Wie sehr hat das Leben in der DDR, insbesondere die langen Monate in Einzelhaft, Ihren Charakter geprägt?
Natürlich hat mich das Leben in der DDR in bestimmter Weise geprägt. Ich sage immer, es gibt keine bessere politische Schulung, als in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in Berlin Kind gewesen zu sein. Man hat gehört, was im Osten über den Westen gesagt wurde, und umgekehrt genauso. Und beide Seiten haben immer nur das gesagt, was der eigenen Sache nutzte. Es war ja kalter Krieg. Ich wusste früh, dass die DDR kein freiheitlicher Staat war. Richtig kennengelernt aber habe ich die DDR in der Einzelhaft bei der Stasi, als ich – neben vielen anderen bedrückenden Erlebnissen – auf meine Bitte nach einem Rechtsanwalt hin ausgelacht wurde: »Den sehen Sie erst, wenn Sie alles gestanden haben«. Diese fünf Monate, in denen man nichts anderes tun konnte, als über sich und die Welt nachzudenken, haben mich ganz sicher sehr geprägt.


Wie haben Sie als Autor die deutsch-deutsche Geschichte verarbeitet? Hat Ihnen das Schreiben des Romans »Krokodil im Nacken« geholfen, die Geschehnisse besser zu verarbeiten?
Bevor ich meinen Roman »Krokodil im Nacken« schrieb, habe ich lange gewartet. 1973 kam ich in den Westen, 2002 erschien der Roman. Das war Absicht. Hätte ich kurz nach meiner einjährigen Haft über diese Zeit geschrieben, wäre das eine bitterböse Abrechnung ge­worden. Ich wollte aber einen fairen Roman schreiben – meine ersten dreißig Jahre und die ersten fünfundzwanzig Jahre DDR. Ich wollte nichts verteufeln und nichts allein der Lächerlichkeit preisgeben, wie es ja kurz nach der Wende ein bisschen Mode war. Aber natürlich war diese Arbeit auch eine Art Selbsttherapie. Im Abstand von so vielen Jahren sieht man vieles klarer.


Wie sah das Leben auf der »Sonnenseite« aus? Fühlten Sie sich endlich »befreit«?
»Auf der Sonnenseite« – wie der Folgeband zum »Krokodil« heißt –, fühlte ich mich tatsächlich befreit. Warum? Weil ich nun endlich schreiben konnte, und das so wie ich wollte und nicht wie ein Staat oder eine Partei es von mir verlangten. Das war ja einer der Hauptgründe für meinen misslungenen Fluchtversuch. Selbstverständlich habe ich auch negative Erfahrungen im Westen gemacht. Es gibt nun mal keinen Staat auf der Welt, in dem immer nur die Sonne scheint. Im Verhältnis zu dem, was ich hinter mir gelassen habe, bin ich aber tatsächlich in die Freiheit ausgereist.


Gibt es auch gute Erinnerungen an die DDR?
Wenn man jung ist, häufen sich oftmals die schönen Erlebnisse, also hat man an diese Zeit auch schöne Erinnerungen. Selbst in der schlimmsten Diktatur ist das so. Viele der Vorzüge, die der DDR noch heute manchmal angedichtet werden, aber waren gar keine, sondern nichts als Mittel zum Zweck. Wollte ich näher darauf eingehen, würde das den Rahmen dieses Interviews sprengen.


Gab es für Sie in den Anfangsjahren der DDR jemals Hoffnungen für das Modell des Arbeiterstaats?
In den Anfangsjahren der DDR hatten viele die Hoffnung, im Osten Deutschlands könnte endlich mal ein besseres, friedlicheres Deutschland entstehen. Wer sich allerdings mit der Geschichte des Kommunismus beschäftigt hatte, der wusste, dass aus der schönen Utopie nichts Gutes geworden war. Der Stalinismus hatte die Sowjetunion und später auch all ihre Satellitenstaaten geprägt. Da muss ich nur an die Moskauer Prozesse in den Dreißigerjahren denken, in denen viele aufrechte Kommunisten unter Stalin den Tod fanden. Diktaturen, das wusste ich früh, haben keine wirkliche Daseinsberechtigung.


Wie blicken Sie heute auf die Zeit in einem geteilten Land zurück?
Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, doch möchte ich aus heutiger Sicht selbst die schlimmen Erlebnisse nicht missen. Das Leben im geteilten Deutschland hat ja ganz deutlich gezeigt, was geht und was nicht geht. Das soll nicht heißen, dass ich das Leben im Kapitalismus als »Besser geht es nicht« betrachte – dazu gibt es in unserer Welt viel zu viele Ungerechtigkeiten. Leider weiß ich nicht, wie diese Auswüchse einer missverstandenen Freiheit zu beheben wären. Das Gegenmodell hat nicht funktioniert und ein neues ist nirgendwo in Sichtweite.


Sie sind ein Zeitzeuge des Unrechtsstaates DDR. Was möchten Sie, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, nachfolgenden Generationen einschärfen?
Ich hoffe, dass nachfolgende Generationen wieder etwas kritischer auf die Welt blicken, die sie gestalten müssen. Gleichzeitig hoffe ich, dass dazu nicht erst neue Notzeiten nötig werden.


Ist die Wiedervereinigung aus Ihrer Sicht geglückt? Oder anders gefragt, wären Sie 1989 Helmut Kohl gewesen, hätten Sie es genauso gemacht wie er?
Ich glaube, dass die Wiedervereinigung in vielen Fällen geglückt ist, aber nicht in jeder Hinsicht. Es stört mich nicht, dass es nach wie vor Menschen gibt – in Ost wie in West –, die sie am liebsten rückgängig machen würden. Doch leben wir in einer Demokratie, jeder darf sagen, was er denkt, und seine politischen Ziele formulieren, wenn sie denn mit unserem Grundgesetz zu vereinbaren sind. Und was Helmut Kohl betrifft, er hätte den Menschen in Ost und West von Anfang an sagen müssen, dass die neue Gemeinsamkeit ihren Preis hat, anstatt aus Wahlkampfgründen von blühenden Landschaften zu reden. Natürlich »blüht« inzwischen vieles im Osten, aber das zu erreichen hat länger gedauert, als den Menschen eingeredet wurde. Andererseits: Es gab keinerlei Erfahrungen mit »Wiedervereinigungen«, wir mussten aus unseren Fehlern lernen.


Klaus Kordon, geboren 1943, lebt als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Der Vater blieb im Krieg, die Mutter starb 1956. Er kam ins Kinderheim, später ins Jugendheim. Kordon war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien. Nach einem Jahr politischer Haft in der DDR zog er in die BRD. Kordon gehört zu den renommiertesten Kinder- und Jugendbuch-Autoren. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

In seinem Roman »Krokodil im Nacken« (2002) hat Kordon die eigene Geschichte viele Jahre später verarbeitet. Darin erzählt er die bewegende Lebensgeschichte des Manfred Lenz, der nach einem gescheiterten Fluchtversucht aus der DDR ein Jahr in Stasi-Gefangenschaft verbringt.