Pressemeldung

Freitag, 03. November 2017

Hirnforschung und Weiterbildung

Wie Trainer, Coaches und Berater von den Neurowissenschaften profitieren können.

Interview mit Hanspeter Reiter

Spiegelneurone, Glückshormone, Neuro-Enhancement: Diese Hype-Begriffe haben Trainer, Coaches und Berater aufhorchen lassen. Welche Verstärker braucht das menschliche Gehirn, um leichter zu lernen - und nachhaltiger? In einem Interview erklärt der Weiterbildner Hanspeter Reiter, warum sich Trainer, Coaches und Berater mit den Erkenntnissen der Hirnforschung befassen sollten.

Lieber Herr Reiter, zum Einstieg ganz generell gefragt: Wie kann die Hirnforschung Weiterbildnern weiterhelfen?

Zunächst einmal dadurch, dass Neurowissenschaften empirisch nachweisen, was bisher nur angenommen wurde. Das betrifft sowohl lernpsychologische Theorien, als auch Anwendungen wie Didaktik und Methoden. Bildgebende Verfahren legen beispielsweise nahe, dass es in Lehr-Lern-Settings in der Weiterbildung sinnvoll ist, viele Sinne anzusprechen, da dadurch unterschiedliche Hirnareale aktiviert werden. Auch ist es sinnvoll, Botschaften in Geschichten zu kleiden, da hier das episodische Gedächtnis angesprochen wird. Beides erhöht Aufmerksamkeit, Engagement und damit das Merken, sprich die Gedächtnisleistung.

Gleichzeitig weist die neurowissenschaftliche Lernforschung differenzierend darauf hin, dass die Gegenwartskapazität des Menschen begrenzt ist. Insbesondere multimedial arbeitende Weiterbildner müssen darauf achten, dass sie nicht zu viele Reize parallel setzen, also nicht das multimediale Füllhorn einfach ausgießen. Wer dies nicht beachtet, bewirkt im Gehirn sozusagen "ein Durcheinander", und das geht einher mit einer stark reduzierten Gedächtnisleistung. Die Neurowissenschaften verdeutlichen zudem, wie die Gedächtnissysteme im menschlichen Gehirn funktionieren - womit wir beim Lernen als solchem landen.

Vera F. Birkenbihl hat ja schon recht früh gehirngerechtes Lernen propagiert. Was heißt gehirngerechtes Lernen vor dem Hintergrund der Erkenntnisse, die die Hirnforschung seither gewonnen hat?

Ja, »Stroh im Kopf« wird wohl demnächst die 50. Auflage erreichen, erschienen im GABAL-Verlag. Die vor einigen Jahren schon und leider viel zu früh verstorbene Kollegin hat interessante Modelle entwickelt, die aufs Merken zielten. Sie stand für ein anderes Herangehen - etwa an das Lernen eines Wortschatzes -, indem sie Körper und Sinne, Kognition und Gefühl in den Übungen kombinierte. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse nutzen diese Symbiose, etwa im Neuromarketing, das - ähnlich wie in der Weiterbildung -- durch sogenannte niederschwellige Reize etwas leicht Erinnerbares im Adressaten zu implantieren trachtet. So hält das Neuromarketing Konzepte bereit, die auch für Lernen, Behalten und Handeln relevant sind.

Das illustriert beispielsweise das im Handbuch vorgestellte Modell der Limbic Types, der Limbic Map und der Limbischen Lerntypen. Weiterbildner, so die Konsequenz aus diesen Modellen, sollten über einen didaktisch-methodischen Koffer verfügen, der es ihnen ermöglicht, idealerweise alle, mindestens jedoch unterschiedliche Typen zu bedienen. Das gilt nicht nur für Extra- und Introversion, sondern grundlegend für die Basismotivationen und deren Ausprägungsgrad. Stimulanz-Orientierte etwa benötigen mehr Entertainment als Balance-Orientierte, die eher das Ruhige, Sichere, Angenehme und Unexaltierte bevorzugen, und Dominanz-Orientierte bevorzugen eher Fakten. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse somit können Weiterbildnern helfen, die für eine »andockende« Weiterbildung am besten geeignete Praktik zu wählen.

Zu den modernen Erkenntnissen, die längst Gewusstes bestätigen, gehören auch Aspekte aus der Theorie und Praxis des Embodiments - in der Robotik übrigens hochaktuell und auch im Lernen. Das zeigt sich bereits in Kleinigkeiten, etwa wenn Bewegung in Lehren und Lernen integriert werden. So fördert das Kauen von Kaugummi angeblich die Konzentration; und Mönche haben sich beim Essen vorlesen lassen, um Inhalte lange Zeit zu speichern. Es gibt inzwischen zahlreiche Belege dafür, dass Bewegung sowohl beim Lernen hilft, als auch dabei, geistig fit zu bleiben.

Welche Anreize braucht das menschliche Gehirn, um leichter und nachhaltiger zu lernen?


Hmm, eigentlich funktioniert das »von alleine«, denn wir sind rund um die Uhr Reizen ausgesetzt, die zu Lerneffekten führen! Die in einer Situation wenig sinnvollen Reize auszufiltern, ist eine der wesentlichen Funktionen auch des menschlichen Gehirns. Tatsächlich ist unser Hirn offener und bereiter für Neues, wenn Emotionssysteme angesprochen werden - vorausgesetzt, man setzt positive Stimuli statt negative. Negative Stimuli bewirken nur Disstress, was zur Ausschüttung von Cortisol führt, und da merken Teilnehmer sich nichts mehr!

Ein anderes Beispiel ist das Stichwort Konsistenz: Erwartungen der Lernenden zu erfüllen, ist mit entscheidend für den Lernerfolg. Ebenso ihnen Lerninhalte anzubieten, die zu bereits Gewusstem passen und ein »Andocken« an vorhandenes Wissen ermöglichen.

Welche Formate fördern das Lernen? Und welche behindern den Lernfortschritt eher?

Alle wirken, das wissen wir aus der Empirie! Je nach Lernziel ist ein didaktisch gezielt zusammengestellter Mix von Medien und Formaten und ein abwechslungsreicher Wechsel zwischen diesen hilfreich. Die Begrenzungen aus der Forschung zum multimedialen Lernen sind dabei zu beachten; das gilt für Lernsettings und deren Umfeld. Unabhängig von den eingesetzten Medien gelten Jahrhunderte alte Erkenntnisse noch immer, insbesondere das erwähnte Anknüpfen an Vorwissen. Hier geht es um den Ausbau der entsprechenden neuronalen Netze, das Schaffen von Autobahnen statt Nebenstraßen - so wird Lernen nachhaltig(er)! Hinderlich sein können vor allem Rahmenbedingungen: Gibt es zu viel Ablenkung, zum Beispiel rund um den Seminar-Raum? Vor allem beim digitalen Lernen ist die Gefahr der Ablenkung groß.

Ein weiterer Aspekt geht von Formaten weg: Assoziationsreiche Didaktik stützt und fördert Lernen; Anknüpfen an Altes und Neubilden von Neuem wird erleichtert; Lernende bauen bereits vernetzte Strukturen aus. Mnemo-Techniken zum Beispiel helfen beim Fakten-Merken, indem sie assoziativ wirken; Metaphern erleichtern Verstehen; Rollenspiele, Simulationen und konkrete Praxisbeispiele fördern Lernen, indem Teilnehmende sie be- und erarbeiten.

Es gibt ja durchaus differenzierte Ergebnisse. Zum Beispiel wird gleichzeitig in Wort und Bild präsentierter Lernstoff besser behalten als reiner Text, andererseits verschlechtern sich die Lernergebnisse, wenn Text von Powerpoint-Folien abgelesen wird. Wie erklärt sich das?

Dazu kursieren diverse Antworten. Deshalb nur einige Hinweise: Ein Bild plus gesprochenes Wort bedient mehr Kanäle und verstärkt die neuronalen Verbindungen intensiver - soweit der Text (a) äußerst kurz gehalten ist und (b) wirklich zum Bild passt und dieses erläutert.

Zum Vorlesen: Die Empirie weist darauf hin, dass Präsentationen, bei denen Text vorgelesen wird, dem persönlichen Lesetempo des Publikums nicht entspricht. Folglich wird weniger behalten. Eine andere Erklärung basiert auf der Erkenntnis, dass beim Lesen wie auch beim Hören von Texten die gleichen Hirnareale aktiv sind. Das dürfte daran liegen, dass wir erst seit wenigen tausend Jahren Schrift lesen können (und müssen), während seit vielen hunderttausend Jahren gesprochen und gehört wird. Übrigens lässt sich das durchaus steuern: Ich schalte den Beamer schon mal ab, um mündlich zu erläutern. Voilà!

Welche Erkenntnisse gibt es noch, die Weiterbildner unbedingt beachten sollten?

Licht und Farben wirken stark über den visuellen Cortex und beeinflussen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, siehe den Schlafrhythmus - das Hormon Melatonin spielt hier rein. Ernährung wirkt unmittelbar aufs Bereitsein. Freude und Vergnügen beim Lernen zielen aufs Belohnungssystem, siehe Nucleus accumbens, und führen zum Ausstoß des Glückshormons Dopamin und des Bindungshormons Oxytocin. Bei zu starkem Mangel daran kommt es zu Verlustangst, gespeist aus dem Gyrus cinguli.

Ach ja: Visualisieren Sie - jetzt und immerdar. Die Tendenz geht hier stark gen Bewegtbild: Filmsequenzen aktivieren diverse Hirn-Areale, auch im präfrontalen Cortex. Dabei mögen auch Spiegelneurone eine Rolle spielen - so sie denn beim Menschen nachgewiesen werden können: Wir tendieren dazu, Beobachtetes nachzuspielen, zu imitieren. Man kennt das aus der mentalen Vorbereitung von Sportlern, die in Gedanken zum Beispiel eine Rennstrecke durchfahren. Aktiv sind dabei wohl die gleichen Hirnareale wie beim echten Durchführen einer Tätigkeit, etwa motorische.

Und: Kleine Einheiten zu bieten, scheint den Übergang ins Langzeit-Gedächtnis zu forcieren. Da mag das gelegentliche Stupsen (auch »nudging«) unterstützend wirken, etwa mithilfe von geschlossenen Nutzer-Gruppen in den Sozialen Medien oder (Instant-)Messengern, womit wir dann beim Blended-Learning wären.

Dazu kommen wir gleich. Welchen Lernbedingungen sind wir insbesondere im beruflichen Kontext unterworfen. Worauf gilt es zu achten, wenn wir im Beruf dazulernen wollen? Im Grunde ist es gleich, ob Sie beruflich oder privat lernen wollen.

Im Beruf mag es stärker ums Verändern von Verhalten gehen statt ums reine Vermitteln von Wissen. Entscheidend ist jedenfalls das eigene Anwenden: Lern-Transfer ist ein Dauer-Thema, das alle paar Jahre wieder aufpoppt. Was wir selbst tun, das macht schlicht mehr Spaß und bleibt besser haften. Deshalb sind (Serious) Games auch durchaus sinnvoll: Kleine Einheiten mit direktem Feedback und Erfolgserlebnis, die dazu vergnüglich ablaufend - Spaß darf sein! Deshalb kommen kombinierte Events gut an, etwa eine Kombination von indoor und outdoor.

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr? Gilt das noch? Welche neuen Erkenntnisse liefert die Hirnforschung zum Thema Lebenslanges Lernen?

Das mag eine der wichtigsten Erkenntnisse moderner Neurowissenschaften sein, dass Hans nachholend lernen kann, bis ins hohe Alter. Neuroplastizität ist das Stichwort. Allerdings funktioniert das nur auf der Basis sinnvollen frühen Lernens, weil bestimmte Hirnareale sich zu gewissen Lebensaltern entwickeln müssen, sonst verkümmern sie unwiderruflich oder funktionieren nur mit erheblichem Aufwand, etwa das Erlernen von Sprache(n). Also gilt mehr oder weniger dies: Wenn Hänschen was lernt, lernt Hans immer mehr.

Welche Möglichkeiten bietet das E-Learning, Blended Learning? Was erscheint sinnvoll, was tut nur so?

»Vieles kann, wenig muss«, vielleicht ein wenig flapsig formuliert: Weder ist digitales (oder teil-digitales) Lehren und Lernen ein absolutes Muss, noch braucht es den absoluten Verzicht darauf. E-Learning für Erwachsene steht durchaus im Einklang mit Neuro-Erkenntnissen. Wenn Sie derlei einsetzen möchten, achten Sie jedenfalls hierauf: Wie ist die Lernumgebung, siehe Lernraum? Welche Chancen gemeinsamen Arbeitens gibt es auch in virtuellen Räumen, siehe Chat und gemeinsame Dokumente? Geht es um nur ums Lernen von Wissen oder um das Üben von Verhalten? Dann sollten jedenfalls auch Präsenz-Elemente integriert sein.

E-Learning fängt übrigens schon mit Webinaren an, also Seminaren via Web - oder Webtalks mit zusätzlichem »Talk-Master«. Interaktiv geht auch beim E-Learning! Und auch dies noch: Wie generell in Führung und Weiterbildung, ist digitales Lernen für die einen mehr, für andere weniger geeignet! Lassen wir das Thema »Lern-Typen« beiseite, das ja recht umstritten ist (und bleibt). Klar ist, dass unterschiedliche Persönlichkeiten divers reagieren.

Zum Abschluss: Können Sie uns die größten Mythen nennen, die zum Thema Neurodidaktik kursieren?

Mythen im Sinne von »wer´s liest, glaubt´s ungeprüft«? Da nenne ich zwei, die allerdings von ernsthaften Didaktikern sehr zurückhaltend angeführt würden: Neuroenhancement und Spiegelneurone. Zum Neuroenhancement: Tatsächlich scheint es Stoffe zu geben, die ein vorübergehendes Hochleistungslernen ermöglichen, Hirndoping also. Für anhaltenden Lernerfolg müssen Sie jedoch anders lernen! Und sogar in der Filmserie »Limitless« wird klar: Risiken & Nebenwirkungen sind unangenehm bis gefährlich... Zweitens Spiegelneurone: In einem wahren Hype haben diverse Trainer Spiegelneurone als »Empathieareale« in ihre Konzepte integriert, um so Trainingselemente als besonders wirksam zu begründen, siehe etwa das »Spiegeln« im NLP. Doch nach wie vor harrt das Konzept der Spiegelneurone, das seinerzeit von Giacomo Rizzolatti aufgrund von Beobachtungen - und Messungen in den Gehirnen - von Affen entwickelt wurde, seines Nachweises beim Menschen. Meine hier gegebenen Antworten sind übrigens kurz und knapp gehalten und somit eher plakativ. Das »Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung« bietet dazu in Breite und Tiefe die Erkenntnisse von zwei Dutzend Expertinnen und Experten aus den modernen Neurowissenschaften plus deren Transfer in die Praxis erfahrener Weiterbildner. Um ein wenig Werbung für das Buch zu machen.

Vielen Dank, Herr Reiter, für das Gespräch!

Das Interview führten Winfried Kretschmer, www.changex.de, und Jacob Hochrein, Verlagsgruppe Beltz.

Hanspeter Reiter, Jg. 1953, »Dialog-Profi«, ist von Köln aus als Weiterbildner und Trainer/Berater im Bereich Marketing-Kommunikation tätig. Er ist im Vorstand von GABAL e.V. Seit über 30 Jahren ist er in Sachen Marketing und Vertrieb unterwegs, hat alle Facetten der klassischen 4 P'von der Pike auf gelernt, angewandt und die modernen Formen mit entwickelt. Schwerpunktbranchen: Medien, Finanzdienstleistung, Weiterbildung. Neben dem Studium der Sprachwissenschaft, Rhetorik und sprachlichen Kommunikation fußt sein Wissen auf einer Fortbildung zum Werbewirt (BAW).

Hanspeter Reiter (Hrsg.) Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung Wie Trainer, Coaches und Berater von den Neurowissenschaften profitieren können 410 Seiten, Euro (D) 49,95