MitarbeiterInnen als Teil eines Qualitäts- und Entwicklungsprozesses

Werner Meyer-Deters
Inhalt
  1. Die Aufgaben von Trägern und Einrichtungsleitungen auf dem Weg zu einem Schutzkonzept
  2. Initiative und Mitwirkung von MitarbeiterInnen bei der Entwicklung von Schutzkonzepten
  3. Probleme bei der Entwicklung von Schutzkonzepten als Reaktion auf Missbrauchsfälle in der Einrichtung
  4. Probleme von top-down eingeführten Schutzkonzepten
  5. Schlüsselanforderungen eines Schutzkonzeptes: Gefährdungslagen erkennen
  6. Schutzkonzepte als Schutzprozess verstehen
  7. Modell für die partizipative Entwicklung eines institutionellen Schutzkonzeptes
Die Aufgaben von Trägern und Einrichtungsleitungen auf dem Weg zu einem Schutzkonzept

Die Verantwortung für die Initiative zur Entwicklung eines institutionellen Schutzkonzeptes liegt primär bei der Leitung, bzw. dem Träger der Institution oder Organisation. Das ergibt sich aus den Vorschriften des Bundeskinderschutzgesetzes (BkSchG). Es bewährte sich, wenn der Träger bzw. die Leitungen der Institution Präventionsbeauftragte benennen und für ihre Qualifizierung Sorge tragen, die die Erarbeitung und Implementierung eines Schutzkonzeptes in der Institution voranbringen sollen. Für diese Aufgabe sind die Präventionsbeauftragten frei zu stellen und sollten, im Sinne einer Stabsstelle, direkt der Einrichtungsleitung zugeordnet sein.

Die praktische, pädagogische und institutionelle Prävention entsprechend des Schutzkonzeptes einerseits, und die gegebenenfalls notwendigen Initiativen zur Intervention bei Hinweisen auf Kindeswohlgefährdung und Machtmissbrauch andererseits, ist vor allem die Aufgabe der MitarbeiterInnen, die im direkten Kontakt mit Schutzbefohlenen stehen. Um die für diese ambitionierten Aufgaben notwendige Verankerung des Schutzkonzeptes unter dem MitarbeiterInnen zu erreichen und eine hohe Handlungssicherheit und Praxisnähe des Schutzkonzeptes zu gewährleisten, ist folglich die Einbeziehung der Abteilungsleitungen und MitarbeiterInnen bei der Entwicklung des Schutzkonzeptes ebenso unverzichtbar wie die Beteiligung der gesetzlichen Mitarbeitervertretung (je nach Trägerschaft: Personal-, Betriebsräte oder Mitarbeitervertretungen). Die institutionellen Präventionsbeauftragten organisieren und begleiten diesen Prozess der Beteiligung in der Einrichtung.

Initiative und Mitwirkung von MitarbeiterInnen bei der Entwicklung von Schutzkonzepten

Wenn MitarbeiterInnn diese Initiative von oben nach unten (top down) von Seiten der Leitung in ihrer Institution und Organisation vermissen oder diese hinsichtlich ihrer Ernsthaftigkeit, Praxisrelevanz, Machbarkeit für völlig unzureichend halten, sollten sie selbst die Initiative ergreifen. Besonders dann, wenn sie als MitarbeiterInnen nicht umfassend bei der Entwicklung des Schutzkonzeptes beteiligt worden sind, sollten sie auf ihre Mitwirkung bestehen und ihre Mitwirkung gegebenenfalls durch Einschaltung der Mitarbeitervertretung durchsetzen. Weil alle Schutzkonzepte die institutionelle Prävention sexualisierter Gewalt und jedweder Form von Machtmissbrauch und Interventionsverfahren bei Vermutungen und tatsachenbezogenen Hinweisen auf sexualisierte Gewalt festschreiben, ergeben sich zwangsläufig dienstliche Anweisungen für MitarbeiterInnen. Denn Schutzkonzepte beschreiben Verpflichtungen zum Handeln und Unterlassen für MitarbeiterInnen, die das Verhalten am Arbeitsplatz und damit das Arbeitsvertragsverhältnis berühren. Von daher ist die Zuständigkeit der Mitarbeitervertretungen, bzw. Personal- oder Betriebsräte in jedem Fall gegeben.

In jedem Fall soll und kann die Initiative für die Entwicklung von Schutzkonzepten von den pädagogischen MitarbeiterInnen ausgehen, wenn Organisations- und Einrichtungsleitungen oder Träger keine Anstalten machen, die Entwicklung von Schutzkonzepten in Angriff zu nehmen. Auch wenn von Seiten der Institutionsleitungen diese Aufgabe nur halbherzig angegangen oder lediglich formal, also auf dem Papier geschieht, um nach außen postulieren zu können, dass ein Schutzkonzept vorhanden ist, sollten MitarbeiterInnen sich nicht zufrieden geben und aktiv werden. Denn es besteht die Gefahr, dass bei allgemein gehaltenen, unpräzisen Absichtserklärungen für den Kinder- und Jugendschutz einzutreten, lediglich Dekoration betrieben und Scheinsicherheit suggeriert wird. Solche Konzepte, in denen zum Beispiel nicht klar in Verfahrensordnungen beschrieben ist, welche konkreten Schritte und Schutzmaßnahmen von Seiten der MitarbeiterInnen im Verdachtsfall, bei tatsachenbezogenen Hinweisen auf Machtmissbrauch und erst recht bei entsprechenden Beschwerden zwingend sind, schaffen keine Handlungssicherheit. In Gegenteil:

  • Schutzkonzepte, die weder machbar und überprüfbar sind, die keine klaren Verantwortungen und Zuständigkeiten definieren und nicht alle in der Institution denkbaren Varianten möglicher Fälle von Kindeswohlgefährdungen berücksichtigen, sind völlig unzureichend und bestenfalls guter Wille. Sie können der institutionellen Verantwortung, d. h. der Verantwortung der Leitungen und aller MittarbeiterInnen und (ggf.) der Ehrenamtlichen für wirksamen Kinder- und Jugendschutz nicht wirklich gerecht werden. Solche unzureichenden Konzepte erweisen sich in Herausforderungssituationen nicht als belastbar und sind dann eher eine Quelle für Enttäuschungen, Frustrationen und Rückzug von MitarbeiterInnen. Diese werden dann weder die Einrichtungsleitungen noch das Schutzkonzept ernst nehmen. Diese Konzepte landen zumeist in Schubladen und Ordnern und fallen dem Vergessen anheim. Vor allem sind gewaltbetroffene Kinder und Jugendlichen die Leittragenden, wenn sie Hilfe brauchen.
  • Schutzkonzepte - selbst wenn sie gut durchdacht sind - die nicht zugleich bottom up, als umfassend unter Einbeziehung aller MitarbeiterInnen und ihrer gewählten Mitarbeitervertretung, entstanden sind, werden kaum mit Leben gefüllt werden können. Ganz abgesehen davon, dass das zu entwickelnde Schutzkonzept auch unter Beteiligung der Adressaten des Schutzkonzeptes, also der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern bzw. Vormünder, entwickelt werden sollte. Diese partizipative Einbeziehung der eigentlichen Adressaten, der maßgeblich von den PädagogInnen selbst in Angriff genommen werden muss, erfordert Kenntnisse und Sattelfestigkeit von den MitarbeiterInnen, die diese am besten durch ihre eigene, maßgebliche Beteiligung im Entwicklungsprozess des Schutzkonzeptes erlangen können. Zudem wird so eine konstruktive Haltung der MitarbeiterInnen gegenüber dem notwendigen Schutzkonzept selbst erreicht, weil ihre eigene Handlungssicherheit im Umgang mit dem Schutzkonzept ihrer Institution erreicht werden kann.
Probleme bei der Entwicklung von Schutzkonzepten als Reaktion auf Missbrauchsfälle in der Einrichtung

Aktuell geschehene oder länger zurückliegende Fälle von gravierendem Missbrauch in Einrichtungen sind nicht selten der entscheidende Auslöser für die Entwicklung von Schutzkonzepten. Insbesondere dann, wenn sie bislang in der betroffenen Institution nicht vorhanden waren. Eine sorgfältige und unbedingt notwendige Aufarbeitung von Fällen, in denen MitarbeiterInnen oder Leitungskräfte Straftaten in Institutionen zu Lasten von Kindern und Jugendlichen begangen haben, ist unverzichtbar. Fehlverhalten und Versäumnisse, gewaltbegünstigende Umstände und Bedingungen, struktur-, ablauf- und personenbezogene Risikofaktoren müssen aufgespürt werden, denn sie sind bei der Ausgestaltung oder Optimierung von Schutzkonzepten unbedingt zu berücksichtigen.

Erfahrungen zeigen, dass die Aufarbeitung des geschehenen Unrechts und angerichteten Leids, wenn der Tatort die eigene Einrichtung war, emotional immer enorm kräftezerrend für Leitungen, Teams und insbesondere für die MitarbeiterInnen ist, deren Vertrauen durch TäterInnen in den eigenen Reihen missbraucht wurde. Energien der MitarbeiterInnen und Leitungsverantwortlichen werden durch die erlebte Krise der Aufdeckung von Gewalt gegen Kinder oder Jugendliche, für deren Schutz sie Verantwortung tragen, massiv absorbiert, so dass die Neigung nachlassen könnte, nun auch noch intensiv nach noch bislang nicht bedachten Risikofaktoren zu fahnden. Zumal dann, wenn der tiefe Wunsch besteht, möglichst schnell wieder zum vermeintlich ruhigen Tagesgeschäft übergehen zu können. So ist in vielen Institutionen, in denen gravierende Kindeswohlgefährdungen geschehen sind, immer wieder zu beobachten, dass der Blick auf die im Nachhinein bekannt gewordenen Gefahrenpotentiale verengt bleibt, die mit diesen belastenden Geschehnissen verknüpft sind, wenn es um Schussfolgerungen für den besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen als Schutzbefohlene geht.

Das „Eisen Schutzkonzept“ kann in aller Regel besser geschmiedet werden wenn es kalt ist, nicht wenn es heiß ist. Das heißt, wenn nichts passiert ist, wenn Zeit und Ruhe da ist, dann sollte die Entwicklung eines Schutzkonzeptes am besten angegangen werden. Kurz: Die Aufarbeitung von Gewaltereignissen sollte also möglichst abgeschlossen sein, bevor ambitionierte Schutzkonzepte entwickelt werden

Probleme von top-down eingeführten Schutzkonzepten

Schutzkonzepte sind bis heute meistens an den grünen Tischen der Einrichtungsleitungen entstanden. In aller Regel unter Einbeziehung weniger, themenaffiner MitarbeiterInnen und oft mit Unterstützung externer Fachleute aus Fachberatungsstellen. Das ist schon ein Fortschritt, aber es ist nicht genug, wenn die notwendige Nachhaltigkeit, vor allem durch eine Verankerung dieser Schutzkonzepte unter möglichst allen MitarbeiterInnen erreicht werden soll. Schutzkonzepte haben viele Elemente. Zum Beispiel pädagogische und institutionelle Präventionsmaßnahmen. Zu den institutionellen Maßnahmen gehören in aller Regel verpflichtende Schulungen der MitarbeiterInnen, zwingend die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses und zumeist die Kenntnisnahme und Unterzeichnung einer Selbstverpflichtungserklärung oder eines Verhaltenskodex. Verunsicherungen und Widerstände bei MitarbeiterInnen sind nicht selten, wenn sie mit diesen neuen Auflagen und Erwartungen von Seiten der Träger und Einrichtungsleitungen konfrontiert werden. Vor dem Hintergrund des öffentlichen, politischen und fachlichen Diskurses über sexualisierte Gewalt seit 2010, trifft man bei vielen MitarbeiterInnen und ehrenamtlich Tätigen in Institutionen heute auf Verunsicherung und Sorgen, nun unter Generalverdacht zu stehen und keinesfalls Fehler mehr machen zu dürfen. Das behindert die Bereitschaft von MitarbeiterInnen, von Oben implementierte Schutzkonzepte vor allem als Chancen für höhere, persönliche Handlungssicherheit zu sehen. Es nährt eher Mutmaßungen, demnach die Institution und Leitungen vornehmlich ihr Sicherheitsinteresse vertreten, und zwar auf Kosten der MitarbeiterInnen. Es liegt auf der Hand, dass in einem solchen Betriebsklima die eigentlichen Adressaten der Schutzkonzepte, nämlich die Kinder und Jugendlichen, völlig aus dem Blick geraten.

Das ist vermeidbar, indem Schutzkonzepte unter maßgeblicher Beteiligung der MitarbeiterInnen entwickelt werden. Auch wenn es länger dauert. Es ist nachhaltiger als das Überstülpen noch so durchdachter Schutzkonzepte. Aber bislang gibt es kaum dokumentierte Erfahrungen bei der Entwicklung von institutionellen Schutzkonzepten, die konsequent mit allen MitarbeiterInnen gemeinsam erarbeitet worden sind und als Modell in den Institutionen, ihrer Leitungen und Präventionsbeauftragten genutzt werden können. Ganz im Gegensatz zu bereits fertigen institutionellen Präventions- und Schutzkonzepten, Interventions- und Verfahrensordnungen, die als Beispiele, Anregungen und Empfehlungen verschiedenster Einrichtungen, Träger und Dachverbände herangezogen werden können. Diese werden als Anregungen von Verantwortlichen in den Einrichtungen natürlich genutzt, um eigene Schutzkonzepte zu schreiben und oft auch zu kopieren. Hier und da vielleicht auch, um den eigenen Entwicklungsaufwand möglichst niedrig zu halten und diese Pflichtaufgabe möglichst schnell zu erledigen.

Gute Schutzkonzepte anderer Institutionen können als Anregung für die Erarbeitung eines eigenen Konzeptes sinnvoll sein, um das Rad nicht völlig neu erfinden zu müssen. Abes es verbietet sich die einfache Übernahme von Schutzkonzepten anderer Eirichtungen, auch wenn diese Konzepte von ähnlich strukturierten Einrichtungen stammen. Nicht nur, weil sich die Frage stellt, ob die Konzepte anderer Einrichtungen und Träger zu den Bedingungen und Herausforderungen der eigenen Institution genau passen. Mindestens genau so dringlich ist der Hinweis, dass bei diesem Vorgehen die Gefahr droht, dass die Chancen eines Schritt für Schritt, mit allen MitarbeiterInnen entwickelten Schutzkonzeptes, nicht genutzt oder gering geschätzt werden. Nur ein selbst erarbeitetes Schutzkonzept führt zur notwendigen Identifikation der MitarbeiterInnen mit „ihrem“ Schutzkonzept und prägt ihre Motivation, das Schutzkonzept konsequent im alltäglichen Handeln zu berücksichtigen.

Insbesondere der Umgang mit Versäumnissen, Fehlern der MitarbeiterInnen, der Umgang mit Verdachtsmomenten, mit Hinweisen auf Kindeswohlgefährdung und mit Beschwerden, erfordert eine strikte Beachtung des Schutzkonzeptes. Voraussetzung dafür ist wiederrum, dass alle MitarbeiterInnen möglichst wenig Angst haben müssen, zu Unrecht beschuldigt zu werden, sich davor zu fürchten, eigene Versäumnisse und Fehler anzusprechen und motiviert sind, sich Hilfe zu holen, wenn sie sich überfordert fühlen, Irritationen und Fehlverhalten anderer zu benennen und couragiert auf Unrecht zu reagieren und Übergriffe in jedem Fall zu melden. Diese Kultur der Fehlerfreundlichkeit und Achtsamkeit kann am besten erreicht werden, indem Schutzkonzepte von unten nach oben (bottom up) von Seiten der Leitungen initiiert und gemeinsam, unter Beteiligung allen MitarbeiterInnen, erarbeitet werden.

Schlüsselanforderungen eines Schutzkonzeptes: Gefährdungslagen erkennen

Die partizipative Erarbeitung eines Schutzkonzeptes muss konkret, machbar und überprüfbar geschehen. Realistischer Weise können nicht alle Dimensionen eines Schutzkonzeptes mit allen MitarbeiterInnen bis ins Detail erarbeitet werden. Darum ist es wichtig, sich auf Schlüsselanforderungen zu konzentrieren, für die alle MitarbeiterInnen unbedingt sensibilisiert und gewonnen werden müssen. Alle Erfahrungen aus Missbrauchsfällen in Institutionen zeigten, dass mannigfache Risiken und Gefährdungen übersehen, unterschätzt oder ignoriert worden sind. Von daher ist eine systematische Sensibilisierung für die dienst- und arbeitsfeldspezifischen Risiken und Gefahren, die Machtmissbrauch begünstigen, eine wichtige Aufgabe, die am besten vor Ort, also von den MitarbeiterInnen selbst geleistet werden kann. So wird eine höhere Aufmerksamkeit erreicht. Auch wenn es unrealistisch ist, alle Risiken zukünftig ausschließen zu können und Institutionen absolut sichere Orte für Kinder und Jugendliche sein werden, ist das Wissen um die Risiken ein wichtiger Schritt, mit diesen zukünftig aufmerksamer umgehen zu können. Ganz konkret kann dann das Bewusstsein sich in Vereinbarungen über den Umgang mit diesen Risiken in einem Verhaltenskodex niederschlagen, den die MitarbeiterInnen von ihrer tätigkeits- und dienstbezogenen Risikoanalyse selber abgeleitet haben. Ausgangspunkt bei der Erarbeitung eines Schutzkonzeptes unter maßgeblicher Beteiligung aller MitarbeiterInnen ist die Risikoanalyse vor Ort. Und ein wichtiges Ergebnis, ist ein partizipativ erarbeiteter Verhaltenskodex im Umgang mit eben diesen Risiken bzw. arbeitsfeldtypischen, potentiellen Gefährdungen für betreute Kinder und Jugendliche. Die notwendige professionelle Balance von Nähe und Distanz und der unbedingte Respekt gegenüber Kindern und Jugendlichen stehen im Zentrum tagtäglicher Arbeit. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um alle, auch noch so dezente Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen stets ernst zu nehmen und konsequent hinzuhören hinzusehen und zu handeln, wenn Kinder oder Jugendliche in Not Hilfe brauchen.

Schutzkonzepte als Schutzprozess verstehen

Dem Wesen nach sollte ein Schutzkonzept besser als Initiierung und fortdauernde Pflege eines Schutzprozesses verstanden und angelegt werden, indem unter Beteiligung aller Involvierten der Schutz von Kindern und Jugendlichen stetig weiter entwickelt wird. Die Beteiligten sind: Der Träger der Einrichtung, die Leitungsverantwortlichen, alle MitarbeiterInnen, auch die nichtpädagogischen Kräfte, ggf. auch die Ehrenamtlichen, eingeschlossen die Kinder und Jugendlichen und ihre Angehörigen bzw. Vormünder.

Die Entwicklung und Entfaltung eines solchen Prozesses gelingt am besten, wenn bereits die Erarbeitung des Schutzkonzepts als ein systematisch geplanter Partizipationsprozess organisiert wird. Dafür gibt es keine idealtypischen Rezepte und Strategien, weil die aufgabenbezogenen, strukturellen und personellen Bedingungen der jeweiligen Institution und Organisation sich unterscheiden und unbedingt berücksichtigt werden sollten.

Aber die klaren Verantwortlichkeiten und Autorisierungen für die Steuerung der Erarbeitung des Schutzkonzeptes, also die Etablierung von Präventionsbeauftragten und ihre entsprechende Beauftragung, sind unverzichtbar und haben sich bereits als Standard in vielen Institutionen gut bewährt. Für diesen Prozess ist großer Zeitdruck genauso hinderlich, wie keine zeitliche Vorgaben oder ein fehlendes, regelmäßiges Monitoring zum Fortgang der Entwicklung des Schutzkonzeptes.

Modell für die partizipative Entwicklung eines institutionellen Schutzkonzeptes

Die Entwicklung eines Schutzkonzeptes, dass die Einbeziehung möglichst aller MitarbeiterInnen und ggf. aller ehrenamtlich Tätigen erreichen will, benötigt einen Planungsvorlauf. Diese Vorleistung sollten die Präventionsbeauftragen der Einrichtung übernehmen und mit der Einrichtungsleitung, der Mitarbeitervertretung und den Abteilungs- oder Bereichsleitungen - je nach Größe und Struktur der Institution – abstimmen. Die Nutzung externe Fachberatung ist dringend zu empfehlen. Besonders dann, wenn der Träger der Institution noch keinen Rahmen oder keine Empfehlungen zur Orientierung für die Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten vorgibt.

Es ist zu beachten, dass mit der partizipativen Entwicklung des Schutzkonzepts die Arbeit der Präventionsbeauftragten nicht zum Abschluss kommt und Leitungen und MitarbeiterInnen, sich dann damit nicht mehr befassen müssen, sondern dass die Verstetigung durch ein regelmäßiges Monitoring erreicht wird.

Sinnvoll ist es, einen in mehrere Arbeitsschritte eingeteilten Prozess zur Entwicklung des institutionellen Schutzkonzeptes zu planen. Dafür (siehe hierzu auch LE 3.1) könnte folgendes Modell ein Anhaltspunkt sein:

Bei der Planung gilt es, für jeden Arbeitsschritt Verantwortliche zu finden, sie entsprechend durch die Einrichtungsleitung mandatieren zu lassen, ihre Aufgaben klar zu beschreiben und realistische Umsetzungszeitfenster festzulegen. Eine Steuerungsgruppe, die von der/dem Präventionsbeauftragten, VertreterIn der Institutionsleitung, der Mitarbeitervertretung der institutionellen Arbeitsfelder bzw. aus den Abteilungen besetzt ist, könnte den Prozess auf dem Weg zu einem institutionellen Schutzkonzept steuern und unterstützt gegebenenfalls die Teams und Abteilungen einer Institution bei der Umsetzung der einzelnen Schritte.

Je nachdem, welche Aufgabe, welche Struktur und Größe die Institution hat, gibt es verschiedene Berufsgruppen, vielleicht auch sehr unterschiedliche Aufgaben, Abteilungen und Dienste, die zu berücksichtigen sind. Und die in den einzelnen Abteilungen und Diensten betreuten oder begleiteten Kinder und Jugendlichen können unterschiedlichen alt sein und verschiedenste Vorerfahrungen und Bedarfe haben. Daraus ergeben sich zwangsläufig verschiedene Gefährdungen und Risiken, womöglich Opfer von psychischen, körperlichen und sexualisierten Grenzverletzungen, Übergriffen oder Straftaten zu werden. Diese potentiellen Gefährdungen gehen vielleicht nicht nur von MitarbeiterInnen, sondern auch von anderen Schutzbefohlenen oder auch von dritten, außenstehenden Personen aus. Viele spezifische Aspekte sind Kriterien für die Bildung von Arbeitsgruppen aus tätigkeitsverwandten Abteilungen und Diensten, die den kollegialen Dialog zur Entwicklung eines Schutzkonzeptes in ihren Abteilungen und Diensten der Institution anleiten.

Die Arbeitsruppen könnten zum Beispiel nach folgenden Arbeitsbereiche aufgeteilt sein: Kinderbetreuung, Jugendgruppen, ambulante Dienste, offene Jugendfreizeitarbeit.

Mit Unterstützung durch Präventionsbeauftragte finden Teamtreffen zur Entwicklung ihres Beitrags für das institutionelle Schutzkonzept statt, um die Zielstellung des Schutzkonzeptes darzulegen und mit den Schritten und Methoden zur Erarbeitung des Schutzkonzeptes vertraut zu machen und ein institutionsübergreifendes, abgestimmtes Vorgehen zu vereinbaren. Zu Beginn soll allen MitarbeiterInnen gegenwärtig werden, welche denkbaren Tatkonstellationen es gibt, auf die die Institution mit wirksamen und überprüfbaren Verfahrensschritten im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes reagieren können muss. Unbedingt muss betont werden, dass der Dialog mit allen MitarbeiterInnen einzig und allein zum Ziel hat, ein bestmögliches Schutzkonzept zu entwickeln und der Handlungssicherheit aller MitarbeiterInnen dient.

Als ersten Schritt nehmen die MitarbeiterInnen auf diesem Weg eine abteilungs-, dienst-, und tätigkeitsspezifische Risikoanalyse vor und dokumentieren die Ergebnisse dieses Risikodialogs (siehe hierzu LE 3.2 und 3.3). Die Anleitung in diesem Teamprozess übernehmen die Abteilungs- oder Teamleitungen, sofern sie in der oben genannten Steuerungsgruppe sitzen. In kleineren Einrichtungen können die Präventionsbeauftragten die Anleitung selbst übernehmen.

Nachstehende Risikodimensionen könnten im Dialog besprochen werden. Es bietet sich in größeren Teams an, dafür drei Arbeitsgruppen mit dem Fokus auf eine Risikodimension zu bilden. Es sind folgende Risikodimensionen:

  1. mögliche Risiken, die mit den Kindern und Jugendlichen zu tun haben könnten:
    • Behinderung, Sprachentwicklungsdefizite oder mangelnde Deutschkenntnisse,
    • Vorerfahrung durch emotionale, körperliche oder sexualisierte Misshandlung,
    • hohe emotionale Bedürftigkeit und Verletzlichkeit,
    • Neigung zu Überanpassung, devotes Verhalten, Distanzlosigkeit oder Vertraulichkeit,
    • Auffälligkeiten hinsichtlich Hygiene, Körper, Gesundheit und Risikoverhalten.
  2. mögliche Risiken, die von MitarbeiterInnen ausgehen könnten:
    • respektlose Haltung, Zynismus oder naive Idealisierung gegenüber Kindern und Jugendlichen,
    • mangelnde Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft,
    • Einzelgängertum, intransparentes Verhalten, mangelnde Teamfähigkeit,
    • mangelnde Affektkontrolle, mangelnde Wahrhaftigkeit und Konfliktvermeidung,
    • Neigung zur Selbstüberforderung oder symbiotische Haltung zur Arbeit,
    • wiederholtes grenzverletzendes Verhalten und Tabuisierung von Unrecht,
    • mangelnde Selbstfürsorge oder chronische emotionale Erschöpfung,
    • unzureichende Trennung zwischen Privatleben und Beruf,
    • Suchterkrankungen oder psych. Erkrankungen.
    • mögliche Risiken, die mit dienst- und institutionsbezogenen Bedingungen zu tun haben könnten:
    • fehlende Standards in Bewerbungsverfahren, die Gewaltprävention thematisieren,
    • keine Präventionsschulungen als Standard und keine Vorlage von Führungszeugnissen,
    • fehlende Standards für Nähe und Distanz und kein Verhaltenskodex,
    • unrealistische Dienstpläne und unklare Aufgabenbeschreibung,
    • bauliche missbrauchsbegünstigende Bedingungen und Risikoorte,
    • fehlende Kinderschutzfachkraft,
    • keine regelmäßigen Teamgespräche/ Supervision und keine sorgfältigen Übergaben,
    • kein internes und externes Beschwerdemanagement für Kinder, Jugendliche und ihre Angehörigen,
    • autoritäre oder verwahrloste Leitungsstruktur und ein Klima der Respektlosigkeit der MitarbeiterInnen untereinander und hohe Diskrepanz zwischen formeller und faktischer Verantwortung, mangelnde Verbindlichkeit und ein „anti-Chef-Klima“ im Team.

Eine sehr bewährte Methode zur Sensibilisierung für Gefahrenmomente ist es, wenn alle MitarbeiterInnen sich vorstellen, wie ein Täter in den eigenen Reihen wohl vorgehen würde, wenn er die Absicht hätte, ein Kind oder einen Jugendlichen im dienstlichen Kontext sexuell zu missbrauchen. Die zusammengetragenen Antworten werden nach den drei oben genannten Kategorien geordnet. Bei dieser Methode wird allen schnell und ernüchternd klar, dass es relativ leicht ist, Macht in der Institution zu missbrauchen, wenn man die Absicht dazu hat. Aspekte von Täterstrategien werden erkannt und eine Sensibilität im Hinblick auf Gefahrenmomente und missbrauchsbegünstigende Umstände, Orte und besonders gefährdete Kinder und Jugendliche werden zwangsläufig für alle MitarbeiterInnen sichtbar und besprochen.

Es liegt auf der Hand, dass dieser zielführende Teamdialog auch gut im Kontext oder als Teil institutioneller Präventionsschulungen stattfinden kann. Eine Präventionsschulung, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch konkrete Ergebnisse als Teil eines Qualitäts- und institutionellen Entwicklungsprozesse für die Optimierung des Kinderschutzes hervorbringt, ist besonders effektiv.

Im Zweiten Schritt bespricht das Team Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der vorangegangenen Risikoanalyse und hält diese Ergebnisse ebenfalls fest.

Sie treffen Entscheidungen über:

  • den Umgang mit Risiken, die mit den Betreuten zu tun haben könnten,
  • den Umgang mit Risiken, die mit dem Verhalten als MitarbeiterInnen zu tun haben könnten
  • und zum Umgang mit institutions- und strukturbedingten Risiken.
  • Dabei ist es nötig zu entscheiden, wer bis wann
  • welche Risiken mit welchen Maßnahmen abstellt,
  • welche Risiken durch welche Maßnahmen minimiert
  • welche Gefahren vorrangig beseitigt oder minimiert

Nicht wenige der erkannten Risiken und Gefahrenpunkte die in Teamdialog festgestellt werden, können nicht, oder nur mit unvertretbaren Mitteln beseitigt werden. Dann müssen diese lediglich im Blick bleiben, wozu ebenfalls kreative Ideen gefragt sind. Auf jeden Fall müssen alle verabredeten Maßnahmen stets machbar, überprüfbar und zielführend sein. Immer sollte auch unterschieden werden, welche der Maßnahmen die Unterstützung von der Einrichtungsleitung oder des Trägers bedürfen, und für welche Maßnahmen das Team die Verantwortung übernehmen kann. Diese beratenden und beschlossenen Maßnahmen zur Risikominimierung müssen selbstverständlich dokumentiert werden, um ihre Abarbeitung stets nachhalten und gegebenenfalls nachsteuern zu können, wenn unerwartete Probleme auftreten oder neue Gesichtspunkte belangreich werden. Denn sollte sich erweisen, dass bekannte Gefahren für das Kindeswohl, nicht so weit wie möglich beseitigt und deswegen geschehene Übergriffe oder Straftaten begünstigt worden sind, dann kann dieses Versäumnis möglicherweise mehr als dienstrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Aber es kann bekanntlich keine Institution die Garantie absoluter Sicherheit bieten. Aber jedes inakzeptable Risikoniveau sollte mindestens auf ein akzeptierbares Restrisiko reduziert werden, das stets im Fokus der Aufmerksamkeit bleiben muss.

Im dritten Schritt des Dialogs der MitarbeiterInnen im Team liegt die Aufmerksamkeit besonders

  • auf dem potentiellen Risiko, dass von unachtsam grenzverletzenden oder gar vorsätzlich übergriffig handelnden MitarbeiterInnen ausgehen könnte,
  • der Ermutigung zur eigenen couragierten Haltung im Umgang mit Fehlverhalten
  • und dem Erkennen von Mängeln der institutionellen Beteiligungs-, Beschwerdemöglichkeiten.

Damit wird einerseits der Einstieg zu Erarbeitung eines Verhaltenskodex begonnen und andererseits werden Defizite der Partizipationsmöglichkeiten von Kindern, Jugendlichen und ihren Angehörigen sichtbar und können verbessert werden. Als Sensibilisierungsmethode bietet es sich an, verschiedene Perspektiven einzunehmen und allen MitarbeiterInnen im Team die Gelegenheit für eine Reflexionsrunde zu geben und folgende Fragen aus der Perspektive als MitarbeiterIn möglichst wahrhaftig zu beantworten:

  • „Die Grenzen der Kinder und Jugendlichen zu achten heißt für mich….“
  • „Meine Grenzen zu achten bedeutet für mich…“
  • „Auf Grenzen stoße ich, wenn….“
  • „Unter Balance von Nähe und Distanz im Umgang mit Kindern und Jugendlichen verstehe ich…“
  • „Was ermuntert uns, damit wir eigenes Verhalten offen und ehrlich reflektieren und uns gegebenenfalls auch den Nachfragen der KollegInnen stellen?“
  • „Was behindert uns, um eigenes Verhalten offen und ehrlich zu reflektieren und gegebenenfalls unsere KollegInnen anzusprechen, wenn uns ihr Verhalten irritiert?“

Nahstehende Fragen sollten dabei von den MitarbeiterInnen aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen beantwortet werden. Noch besser ist es, wenn die Einrichtung, bzw. die MitarbeiterInnen nachstehende Fragen außerdem durch die Kinder und Jugendlichen und ihre Angehörigen beantworten lassen und die geäußerten Meinungen der Kinder, Jugendlichen und ihrer Vormünder bei der Entwicklung des Schutzkonzepts ebenfalls einfließen würden und als Maßstab für die Güte des Konzepts zu Grunde gelegt werden. So werden die primären Adressaten des Schutzkonzeptes im Sinne der Partizipation direkt einbezogen.

Fragen an die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern bzw. Vormünder könnten sein:

  • „Woran merkt ihr / merken Sie, dass wir MitarbeiterInnen und Leitungskräfte uns grenzachtend verhalten?“
  • „Was macht es euch/Ihnen womöglich schwer, grenzmissachtendes Verhalten durch uns zu erkennen und sich couragiert und erfolgreich zu beschweren?“
  • „Was macht es euch/Ihnen leicht, grenzmissachtendes Verhalten zu erkennen?“
  • „Was müsst ihr /müssen Sie wissen, um Grenzverletzungen zu erkennen und sich selbstbewusst zu beschweren?“

Weitere Fragen an die Kinder, Jugendlichen und ihre Angehörigen könnten entwickelt und gestellt werden, um beispielsweise in Erfahrung zu bringen, was sie anregen oder erwarten, um das Schutzkonzept der Einrichtung überzeugend zu finden.

Die Schlussfolgerungen aus der Befragung der Kinder, Jugendlichen und ihrer Vormünder sind eine sehr wichtige Quelle für die Erarbeitung eines qualifizierten Schutzkonzeptes. Der Grad der auf Seiten der Kinder, Jugendlichen und ihren Eltern bzw. Vormündern subjektiv empfundenen Sicherheit und Zufriedenheit und die Meinung und Erfahrung dieser eigentlichen Adressaten des Schutzkonzeptes, kommen einem „Stresstest“ für das Konzept recht nahe. Zudem sind die Ergebnisse dieser Befragungen für die Überprüfung des Schutzkonzeptes von großem Nutzen und können Anlass für die weitere Optimierung sein.

Werner Meyer-Deters

Dipl. Sozialarbeiter/Sozialpädagoge und Gewaltberater/Gewaltpädagoge,

Bis Juni 2015 Fachkraft für Institutionsfortbildung und Vorträge (Prävention & Intervention) der Bochumer Kinderschutzambulanz Neue Wege, Institutionsberatung und Krisenmanagement in Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung, Präventionsfachkraft des Caritasverbandes für Bochum und Wattenscheid e.V.

Akkreditierte Fortbildungsfachkraft des Bistums Essen und des Erzbistums Paderborn.

Vorstandsmitglied der DGfPI

Institut Kogemus - Präventions- und Interventionsberatung für die Jugendhilfe bei sexualisierter Gewalt