Die Bedeutung von Präventions- und Interventionsstandards am Beispiel der Karlsruher Standards für Prävention und Intervention

Susanne Heynen
Einleitung

Der Verdacht auf sexuellen(, physischen oder psychischen) Missbrauch ist im Arbeitsalltag einer Organisation immer eine Situation, die mit Unsicherheiten, Ängsten und auch persönlichen Emotionen verknüpft ist. Umso wichtiger ist es, sich grundsätzlich und nicht akut mit diesem Szenario auseinanderzusetzen und über die Beschäftigung mit dem Thema und der Planung von Interventionsmaßnahmen eine möglichst hohe Handlungssicherheit zu schaffen. Die Planung von Interventionsmaßnahmen ist eine anspruchsvolle Aufgabe und erfordert eine hohe Professionalität. Unbedingt zu beachten ist, dass Verfahrensgrundsätze, die für die Jugendämter und freien Träger der Jugendhilfe in § 8a SGB VIII und für Berufsgeheimnisträger, wie z.B. ÄrztInnen, PsychologInnen oder LehrerInnen in § 4 KKG vorgegeben sind, eingehalten werden. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass jeder Fall eine eigene Charakteristik hat und dass flexibel auf jeden Einzelfall reagiert werden kann bzw. dass die Interventionsmöglichkeiten das Handeln im Einzelfall nicht zu sehr einschränken (vgl. Bange, 2015).

Am Beispiel des Kinder- und Jugendhilfebereichs bzw. konkret an der Entwicklung von Standards zur Prävention und Intervention gegen sexuelle Gewalt in Institutionen der Stadt Karlsruhe werden im Folgenden die Grundlagen für die einzelnen Handlungsschritte im Bereich des § 8a SGB VIII aufgezeigt.

Nachfolgend wird zunächst die aktuelle gesellschaftliche und rechtliche Entwicklung dargestellt mit Blick auf Institutionen, die sich mit einem Verdacht auf (sexualisierte) Gewalt in ihrem Verantwortungsbereich auseinandersetzen müssen. Im zweiten Schritt werden ausgehend von den Bausteinen des Karlsruher Standards zur Prävention und Intervention gegen sexuelle Gewalt in Institutionen (Stadt Karlsruhe, 2012) die wichtigsten Handlungsschritte beschrieben. Es folgt dann eine Einschätzung institutioneller Schutz- und Interventionsmaßnahmen vor dem Hintergrund des BKiSchG im Falle eines Verdachts durch Organisationen, die sich mit der Thematik auseinandergesetzt und sich Standards gegeben haben. Der Beitrag endet mit Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung. Der Fokus des Beitrags wird auf Grenzverletzungen, sexuelle Übergriffe und strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt (zur Begriffsbestimmung s. Enders & Yücel, 2012) durch Erwachsene gelegt. Sexueller Missbrauch unter Kinder und Jugendlichen kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht behandelt werden.

Bedeutung von Präventions- und Interventionsstandards - Rechtliche Grundlagen im Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII)

Zunehmend verbringen Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Alltags im Rahmen von außerfamiliären Institutionen der Jugendhilfe sowie von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen. Zu dieser Entwicklung gehört, dass seit dem 1. August 2013 Eltern für ihre Kinder ab dem ersten Lebensjahr und unter bestimmten Voraussetzungen auch darunter einen Rechtsanspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (§ 24 SGB VIII) haben und der Ausbau von Ganztagsschulen zunimmt. Mit Eltern muss in der Eingewöhnungszeit eine vertrauensvolle Erziehungspartnerschaft entwickelt werden, die auch beinhaltet, sich mit der den Pflegeleistungen in der Einrichtung, auch denen von männlichen Mitarbeitern sowie sexualpädagogischen Konzepten vertraut zu machen, um Beobachtungen oder Schilderungen der Kinder einordnen zu können.

Parallel dazu werden Eltern, Fachleute und Verantwortliche der Jugendhilfe durch die Medien, Fort- und Weiterbildungen dafür sensibilisiert, dass es auch im Rahmen von Institutionen zu Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen kommen kann. Entsprechend wächst auf beiden Seiten der Bedarf, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, Absprachen über eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu treffen sowie Qualitätsstandards zur Prävention und Intervention zu entwickelt, die Orientierung und Handlungssicherheit bieten und gesetzlichen Grundlagen entsprechen.

Hierzu zählen das Sexualstrafrecht (s. auch Bundesministerium der Justiz, 2012; Kliemann & Fegert, 2012) und das Arbeitsrecht sowie die im SGB VIII gesetzlich festgelegten Maßnahmen zum Kinderschutz, zur Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern sowie zur Qualitätsentwicklung, die durch das BKiSchG akzentuiert wurden.

§ 1 SGB VIII Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe

(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 (auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit) 3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen“.

§ 8b SGB VIII Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen

(1) Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.

(2) Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, und die zuständigen Leistungsträger, haben gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien

  1. zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie
  2. zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten.

§ 45 SGB VIII Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung

(…) (6) Sind in einer Einrichtung Mängel festgestellt worden, so soll die zuständige Behörde zunächst den Träger der Einrichtung über die Möglichkeiten zur Beseitigung der Mängel beraten. (…) Werden festgestellte Mängel nicht behoben, so können dem Träger der Einrichtung Auflagen erteilt werden, die zur Beseitigung einer eingetretenen oder Abwendung einer drohenden Beeinträchtigung oder Gefährdung des Wohls der Kinder oder Jugendlichen erforderlich sind. (…)

(7) Die Erlaubnis ist zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn das Wohl der Kinder oder der Jugendlichen in der Einrichtung gefährdet und der Träger der Einrichtung nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die Gefährdung abzuwenden. (…)

§ 47 SGB VIII Meldepflichten

Der Träger einer erlaubnispflichtigen Einrichtung hat der zuständigen Behörde unverzüglich

  1. (...)
  2. Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen, (...) anzuzeigen.

§ 48 SGB VIII Tätigkeitsuntersagung

Die zuständige Behörde kann dem Träger einer erlaubnispflichtigen Einrichtung die weitere Beschäftigung des Leiters, eines Beschäftigten oder sonstigen Mitarbeiters ganz oder für bestimmte Funktionen oder Tätigkeiten untersagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er die für seine Tätigkeit erforderliche Eignung nicht besitzt.

§ 72a SGB VIII Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen

(1) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dürfen für die Wahrnehmung der Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe keine Person beschäftigen oder vermitteln, die rechtskräftig wegen einer Straftat nach den §§ 171, 174 bis 174c, 176 bis 180a, 181a, 182 bis 184g, 225, 232 bis 233a, 234, 235 oder 236 des Strafgesetzbuchs verurteilt worden ist. Zu diesem Zweck sollen sie sich bei der Einstellung oder Vermittlung und in regelmäßigen Abständen von den betroffenen Personen ein Führungszeugnis nach § 30 Absatz 5 und § 30a Absatz 1 des Bundeszentralregistergesetzes vorlegen lassen.

(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen durch Vereinbarungen mit den Trägern der freien Jugendhilfe sicherstellen, dass diese keine Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, beschäftigen.

(3) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen sicherstellen, dass unter ihrer Verantwortung keine neben- oder ehrenamtlich tätige Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, in Wahrnehmung von Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe Kinder oder Jugendliche beaufsichtigt, betreut, erzieht oder ausbildet oder einen vergleichbaren Kontakt hat. Hierzu sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe über die Tätigkeiten entscheiden, die von den in Satz 1 genannten Personen auf Grund von Art, Intensität und Dauer des Kontakts dieser Personen mit Kindern und Jugendlichen nur nach Einsichtnahme in das Führungszeugnis nach Absatz 1 Satz 2 wahrgenommen werden dürfen.

(4) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen durch Vereinbarungen mit den Trägern der freien Jugendhilfe sowie mit Vereinen im Sinne des § 54 sicherstellen, dass unter deren Verantwortung keine neben- oder ehrenamtlich tätige Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, in Wahrnehmung von Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe Kinder oder Jugendliche beaufsichtigt, betreut, erzieht oder ausbildet oder einen vergleichbaren Kontakt hat. Hierzu sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit den Trägern der freien Jugendhilfe Vereinbarungen über die Tätigkeiten schließen, die von den in Satz 1 genannten Personen auf Grund von Art, Intensität und Dauer des Kontakts dieser Personen mit Kindern und Jugendlichen nur nach Einsichtnahme in das Führungszeugnis nach Absatz 1 Satz 2 wahrgenommen werden dürfen.

Neben diesen rechtlichen Vorgaben geben viele Paragraphen im SGB VIII Hinweise auf Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. Hierzu gehören unter anderem § 74 Förderung der freien Jugendhilfe, § 78b Voraussetzungen für die Übernahme des Leistungsentgelts, § 78c Inhalt der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen § 79 Gesamtverantwortung, Grundausstattung und § 79a Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe.

Ein weiteres wichtiges Thema für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor einer Gefährdung ist ihre Beteiligung, die in folgenden Paragraphen im SGB VIII explizit angesprochen wird: § 8 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, § 36 Mitwirkung, Hilfeplan.

Qualitätsentwicklung in Einrichtungen am Beispiel der Karlsruher Standards zur Prävention und Intervention gegen sexuelle Gewalt in Institutionen

Viele Träger und Einrichtungen haben unter Einbezug der Mitarbeitenden Strategien zur Prävention und Intervention gegen (sexuelle) Gewalt entwickelt (eine Übersicht findet sich in Stadt Karlsruhe / Sozial- und Jugendbehörde, 2012), schulen Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche und fördern themenspezifische Supervision und Fortbildungen. Dabei bauen Strategien gegen (sexuellen) Missbrauch in Institutionen auf bereits bestehende Konzepte und Vorgehensweisen angrenzender Bereiche auf. Hierzu gehören:

  • Sexualpädagogische Konzepte
  • Präventionsstrategien im Hinblick auf Belastungs- und Gefährdungsformen wie Mobbing, sexuelle Aggression im Jugendalter und in Jugendlichenbeziehungen
  • Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Jugendhilfe
  • Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen
  • Qualifizierung relevanter Berufsgruppen zu Themen wie Kinderrechte, Partizipation, Kinderschutz
  • Führungskräfteentwicklung im Sinne eines kooperativen Führungsstils
  • Beschwerdemanagement
  • Transparente Organisationsstruktur und Organisationskultur, in der offen, ehrlich und vertrauensvoll sowie achtsam und respektvoll miteinander umgegangen wird.

Selbst wenn Institutionen beziehungsweise Führungskräfte und Mitarbeitende sensibilisiert sind für Fragen des Kinderschutzes und der Nähe und Distanz in der Pädagogik, wenn sie ihre Arbeit dem BKiSchG und dem SGB VIII gemäß ausüben und über Strategien zur Prävention in den relevanten Bereichen Personalgewinnung/-entwicklung sowie Kinder- und Jugendrechte, Beteiligung verfügen, ist es notwendig, sich mit dem Thema Intervention und Rehabilitation auseinanderzusetzen und auch hierfür Standards zu entwickeln. Als Beispiel dient im Folgenden der Interventionsstandard der Stadt Karlsruhe (Stadt Karlsruhe, Sozial- und Jugendbehörde, 2012). Er dient der frühzeitigen Erkennung von sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Leitung im Verantwortungsbereich des öffentlichen Jugendhilfeträgers. Der Standard zielt darauf ab, Orientierung und Handlungssicherheit dafür zu schaffen, dass unabhängig von der Komplexität eines konkreten Einzelfalls Einmischung, Einspruch, Ernstnehmen der Geschehnisse und ein entsprechender Opferschutz im Vordergrund stehen können. Einer frühzeitigen Dokumentation kommt dabei eine besondere Rolle zu.

Auszüge aus den Standards zur Prävention und Intervention der Sozial- und Jugendbehörde der Stadt Karlsruhe

D.2 VORGEHEN BEI VERDACHT AUF SEXUELLEN MISSBRAUCH

D.2.1 ERSTE REAKTION IM VERDACHTSFALL

Ein Verdacht kann aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten, Äußerungen eines Kindes, Beobachtungen von Mitarbeitenden oder anderen Hinweisen auf sexuelle Übergriffe und sexualisierte Gewalt entstehen.

Zu den ersten Aufgaben der Bezugsperson gehören neben dem Schutz des Kindes:

  • Sorgfältige Dokumentation, getrennt nach objektiven Verhaltensbeobachtungen und nach subjektiven Reaktionen (wie Emotionen oder Vermutungen über die Person und ihre Motivation) (…)
  • Information der Leitung. Wenn es sich bei dem oder der Verdächtigten um die Leitung selbst handelt, wird die nächste Führungskraft informiert.

D.2.2 AUFGABEN DER LEITUNG

Die im Folgenden aufgelistete Vorgehensweise muss sorgfältig abgewogen werden und der Fallkonstellation und der Stärke des Verdachts (sexueller Übergriff oder sexualisierte Gewalt) angepasst werden. Sie unterliegt keiner vorgegebenen Reihenfolge (siehe auch § 8a Sozialgesetzbuch Achtes Buch, SGB VIII, Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung).

  • Bewertung der Informationen durch unmittelbare Vorgesetzte.
  • Entscheidung bezüglich der ersten Schritte (Information des/der nächsten Vorgesetzten, Vier-Augen-Prinzip, Abwägungsgespräche).
  • Einbezug einer insoweit erfahrenen Fachkraft (siehe Stadt Karlsruhe, 2009, S. 22 ff).
  • Schutz des Kindes vor dem oder der Verdächtigen, beispielsweise durch Kontakteinschränkung (wie Begleitung durch zweite Fachkraft, Dienstplanänderung, Einsatz eines Springers).

Darüber hinaus verfügt der o.g. Standard (vgl. ebd.) über einen umfassenden Anhang mit Fortbildungsausschreibungen, eigenen, zum Teil von anderen übernommenen und überarbeiteten Materialien (Musterbestätigung zur Vorlage beim Einwohnermeldeamt, Selbstverpflichtung, Fallbeispiel zur Veranschaulichung der Problematik), Verweisen auf eigene pädagogisch einsetzbare Materialien und auf Materialien, die von anderen bezogen werden können. Von besonderer Bedeutung ist Anhang 9 Arbeitsrechtliche Konsequenzen mit Informationen zu Abmahnung, Kündigung und Verdachtskündigung, zum Leitfaden für den Umgang mit Leistungsdefiziten und zu entsprechenden Fortbildungen. Außerdem ist ein Abschnitt zur Tätigkeitsuntersagung (s. oben, § 45, § 48 SGB VIII), zum Arbeitszeugnis und zu juristischen Schritten enthalten. Der Anhang endet mit einer Übersicht über hilfreiche Adressen, etwa von Fachberatungsstellen, und einem umfassenden Literaturverzeichnis.

Ergänzend wurde in Karlsruhe in einem Abstimmungsgespräch zwischen dem öffentlichen Jugendhilfeträger und der Staatsanwaltschaft und nach Rücksprache mit der Kriminalpolizei die Zusammenarbeit festgelegt. Es konnte vereinbart werden, dass vor einer Anzeige eine anonyme Beratung zur Absprache des Vorgehens erfolgen kann. Dies ermöglicht der Einrichtung zum Beispiel, noch von einer Anzeige abzusehen, wenn das Opfer nicht zur Strafanzeige bereit oder in der Lage ist. Abhängig von der Schwere der Tat können die Strafverfolgungsbehörden sehr schnell reagieren, notfalls über den Bereitschaftsdienst der Staatsanwaltschaft oder den Kriminaldauerdienst der Polizei (im Detail s. Heynen, 2015).

Aktuelle Erfahrungen zur Umsetzung von Standards zur Prävention und Intervention

Die Erfahrungen in Karlsruhe weisen darauf hin, dass die Entwicklung von Präventions- und Interventionsstandards sinnvoll ist:

  1. Die Sensibilität von Mitarbeitenden in Jugendhilfeeinrichtungen und von Eltern gegenüber Grenzverletzungen und der Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs bis hin zu sexualisierter Gewalt hat zugenommen. Im Gegensatz zu früher ist die Bereitschaft gestiegen, grenzverletzende Verhaltensweisen in Frage zu stellen und als unangemessen zu benennen, die strafrechtlich nicht relevant sind, aber den Standards einer angemessenen Nähe und Distanz in der Pädagogik widersprechen. Für Eltern und Institution ist von besonderer Bedeutung, dass sie wechselseitig Vertrauen aufbauen können. Die Schwelle, sich an eine Fachberatungsstelle, den KVJS oder die Institution selbst zu wenden, scheint gesunken zu sein. Dabei kommt es zu Beratungsprozessen, in denen nicht ein Verdacht bestätigt werden kann, sondern grundsätzliche Fragen der vertrauensvollen Zusammenarbeit geklärt werden müssen.
  2. Institutionen, die sich intensiv mit der Thematik des institutionellen Missbrauchs, mit Qualitätsentwicklung im Kinderschutz und der Umsetzung des BKiSchG auseinandergesetzt haben, sich im Ernstfalle gut den Aufgaben der Intervention und Rehabilitation stellen können.
  3. Für den Erfolg von Präventionsmaßnahmen ist es bedeutsam, ob und wie Mitarbeitende ins Team und in die Qualitätsentwicklung in einer Einrichtung eingebunden sind. Ein besonderes Risiko zu grenzverletzendem und missbräuchlichem Verhalten scheint dann gegeben zu sein, wenn Personen im Team aufgrund ihrer Arbeitszeiten oder einer zeitlich geringfügigen Beschäftigung als Honorarkraft wenig integriert sind. Auf der anderen Seite mag es auch einfacher sein, Beobachtungen und Erfahrungen zu äußern, wenn es sich bei der verdächtigten Person nicht um eine in der Institution und ihrem Arbeitsumfeld wichtige, integrierte und mit großer Sympathie belegte Person handelt.
  4. Es ist sehr hilfreich, wenn Institutionen über Standards der Prävention und Intervention verfügen, über rechtliche Grundlagen und Vorgehensweisen gut informiert sind und gewohnt sind, vertrauensvoll mit Externen wie Fachberatungsstellen sowie dem örtlichen und überörtlichen Träger der Jugendhilfe zusammen zu arbeiten. Dies gibt Mitarbeitenden und Leitungskräften Klarheit über den eigenen Verantwortungsbereich und das konkrete Vorgehen im Falle eines Verdachts. Dann kann auch Mitarbeitenden, die nicht unmittelbar, etwa als Teammitglied, von einem Verdacht berührt sind, aber möglicherweise hören, dass ‚irgendwas‘ passiert ist, Sicherheit vermittelt werden. Für alle Beteiligten ist von allergrößter Bedeutung, dass Transparenz hergestellt wird über die Vorgehensweise, nicht über die Vorwürfe selbst (s. oben). Mit den Beschäftigen kann das Vorgehen im Falle von Maßnahmen, die nach Grenzverletzungen bis hin zu strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt ergriffen werden, in Personalversammlungen, Teambesprechungen und in Krisensitzungen reflektiert werden und sie können zur Qualitätsentwicklung beitragen. Unterstützung bieten gegebenenfalls Personalrat, Fachberatungsstelle, anderweitige externe Beratung (straf-, arbeits-, jugendhilferechtlich, psychologisch), der überörtliche und örtliche Jugendhilfeträger. Eine Anzeige trägt darüber hinaus zur Klärung bei, wenn der Opferschutz dadurch nicht gefährdet ist.
  5. Wichtig ist, dass alle Beteiligten individuelle psychologische und rechtliche Unterstützung (entsprechend der Konditionen der Rechtsschutzversicherung des Trägers) und gegebenenfalls Unterstützung durch eine Fachberatungsstelle (opfer- und täter- bzw. täterinbezogen) und den Personalrat erhalten. Nicht unterschätzt werden darf die Länge des Prozesses, bis es zu einer abschließenden Klärung kommt. In den allerwenigsten Fällen erfolgt eine Beendigung durch eine Verurteilung des oder der Verdächtigten. Stattdessen stehen Fragen der internen Bearbeitung sowie arbeitsrechtlicher Konsequenzen im Vordergrund. Dabei dürfen die Leitungskräfte nicht die Gesamtverantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen und deren Eltern sowie verdächtigte Mitarbeitende, das Team, die gesamte Mitarbeiterschaft und die Institution aus dem Blick verlieren. Durch ein sicheres und transparentes Verfahren gewinnt die Organisation nicht nur das Vertrauen der Kinder, Jugendlichen und deren Eltern, sondern auch ihrer Mitarbeitenden dahingehend, dass ein Verdacht ernst genommen und adäquat darauf reagiert wird, dass Führungskräfte nicht tabuisieren, sondern ‚dran bleiben‘. Dazu gehört auch, dass die Führungskräfte im Falle eines nicht bestätigten Verdachts Verantwortung für die Rehabilitation der beschuldigten Person und ihre Integration ins Team oder die Organisation übernehmen. Dabei können Supervision, Beratung durch Externe und insbesondere Fachberatungsstellen, aber auch der überörtliche Jugendhilfeträger unterstützen.
  6. Es bedarf einer individuellen Anpassung von Standards an das jeweilige Arbeitsfeld. Dieser sollte entwickelt werden, bevor es zu einer Krise kommt, damit jede Person weiß, was aus ihrer Rolle heraus zur ihrem Verantwortungsbereich gehört.
  7. Die Umsetzung der Standards, insbesondere im Hinblick auf die Prävention von Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Taten muss regelmäßig reflektiert und, wenn möglich, evaluiert werden. Ein erstes Instrument zur Evaluation wurde in Karlsruhe erprobt. Mit der Methode des ‚Community readiness‘ untersuchte Gampe (im Druck) die Stufen der Implementierung von Präventions- und Interventionsstandards im Rahmen des Pflegekinderdienstes der Stadt Karlsruhe. Sie konnte damit ein Instrument zur Reflexion und Aktivierung der Auseinandersetzung vorlegen, welches möglicherweise auch anderen Institutionen dazu dienen kann, eine entsprechende Qualitätsentwicklung zu fördern.

Verantwortung im Rahmen des Neben- und Ehrenamtes (Flüchtlingshilfe, Kinder- und Jugendarbeit): Umsetzung des § 72a SGB VIII Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen

Die Jugendhilfe und das Bildungssystem sind derzeit in großem Maße gefordert, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Obhut zu nehmen und Hilfen zur Erziehung zu leisten sowie Kinder, die mit ihren Familien flüchten, Bildungs- und Betreuungsangebote in Kindertageseinrichtungen und Schulen zu bieten. Aufgrund der steigenden Zahlen von Flüchtlingen ist das System auf ein großes Netzwerk an Personen angewiesen, die bisher unter Umständen wenig Kontakt zur Jugendhilfe und Schule hatten. Hierzu gehören im Rahmen der Netzwerke der Flüchtlingshilfe ehrenamtlich Helfende, DolmetscherInnen, Engagierte für Nachhilfe, Freizeitangebote und Sport, Freiwillige in Vereinen. Damit erweitert sich das klassische Feld der Kinder- und Jugendarbeit um eine neue Zielgruppe. Diese ist in die Präventionsarbeit intensiv einzubeziehen. Dies gilt auch für die Vormünder, die besonders im Bereich der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im regelmäßigen Kontakt mit ihrem Mündel stehen.

Geschieht dies im Rahmen von Jugendhilfeeinrichtungen, kann auf die bestehenden Qualitätsentwicklungen zurückgegriffen werden. Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit in Sport-/Vereinen und Verbänden bedarf es einer besonderen Sensibilität und Unterstützung, da es sich bei den Verantwortlichen weitgehend um ehrenamtliche Vorstände und ReferentInnen für Kinder- und Jugendarbeit handelt, die, wenn sie nicht einem engagierten bundesweit tätigen Dachverband angehören, durch die Umsetzung des § 72a SGB VIII weitgehend überfordert sind. Die Stadt Karlsruhe und der Stadtjugendausschuss e. V. beraten und schulen Vereine und Verbände, die Kinder- und Jugendarbeit leisten. Der öffentliche Jugendhilfeträger bietet die Einsicht in das erweiterte Führungszeugnis an und entlastet damit das Ehrenamt. Insbesondere die Schulungen werden von ehrenamtlichen Verantwortlichen in Verbänden und Vereinen interessiert und engagiert aufgenommen und tragen dazu bei, dass der Kinder- und Jugendschutz ohne Scheu verbessert werden kann.

Fazit

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Interventionsstandards der Orientierung und Handlungssicherheit dienen. Ihre Umsetzung muss sich im Falle eines Verdachts an dem Einzelfall orientieren, zum Beispiel im Hinblick auf Kriterien, wie das Alter des Opfers, dem subjektiven und objektiven Schaden, der Rolle der verdächtigten Person, die Einbindung von Opfer und Beschuldigten in ein soziales Netzwerk und das Vorhandensein von unterstützenden Vertrauenspersonen.

Zusätzlich zu diesem Beispiel aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe werden im Bereich „Rechtliches“ die rechtlichen Interventionsmöglichkeiten und -pflichten gem. § 8a SGB VIII und § 4 KKG beschrieben. Dabei wird das rechtliche Handlungsrepertoire von Einrichtungsträgern in Bezug auf eine Strafanzeige oder einen Strafantrag, jugendhilferechtliche Schutzmaßnahmen und vertraglichen, insbesondere arbeitsvertraglichen, heim-, schul- oder familienrechtliche Interventionen aufgezeigt.

Literatur

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Kinderbüro Karlsruhe - Jugendschutz (2011): Deine Rechte in der Jugendhilfe. Karlsruhe., Pdf-Datei zum Runterladen

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