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Ohne Arbeitsdisziplin kein erfolgreiches Lernen

Wie lässt sich Schülern helfen, denen sie fehlt?

Klagen über die angeblich mangelnde Arbeitsdisziplin heutiger Schülerinnen und Schüler sind weit verbreitet. Doch was genau ist unter Arbeitsdisziplin zu verstehen? Was lässt sich für eine bessere Arbeitsdisziplin im Unterricht tun? Und lässt sich Schülern helfen, denen es generell schwer fällt, ihre Aufgaben zielgerichtet zu erledigen? Der Beitrag eröffnet eine differenzierte Sicht auf das Phänomen.

Vier Szenen, erste Begriffsklärungen

  • Szene 1: Deutsch in der 8a – die Lehrerin unterbricht ungehalten ihren Kommentar zu einer SchĂĽlerarbeit: »Ben, hör sofort auf zu quatschen! Kannst du denn nicht endlich mal aufpassen?« Die Lehrerin, die diese Ermahnung ausspricht, wĂĽrde sicher der Aussage zustimmen, dass es Ben an Arbeitsdisziplin fehlt.
  • Szene 2: Geschichte, 9. Klasse, 5. Stunde – groĂźe Unruhe. »Stopp! Mir ist es schon wieder viel zu laut! So können wir nicht mitein­ander arbeiten!« Auch hier mangelt es anscheinend an Arbeitsdisziplin – fehlt sie hinreichend vielen SchĂĽlern, kann dieser Mangel offenbar das Lernklima einer ganzen Klasse hinunterziehen.
  • Szene 3: Mathematik, Klasse 7 – seit fĂĽnf Minuten ist Einzelarbeit angesagt. Dem Lehrer fällt auf, dass Sophie noch gar nicht angefangen hat und mit verträumtem Blick durch das groĂźe Fenster den Schwalben zuschaut, die drauĂźen ihr Kreise ziehen. »Sophie, bitte nicht schon wieder träumen!« Später äuĂźert er im Gespräch: »Sophie mangelt es so häufig an Arbeitsdisziplin!«
  • Szene 4: Die Mutter kommt ĂĽberraschend in Leons Zimmer. Leon sitzt an seinem Laptop; offensichtlich ist er vertieft in ein Computerspiel. »Leon, du hattest mir doch versprochen, als Erstes deine Mathe-Hausaufgaben zu erledigen! Und jetzt spielst du schon wieder! Glaubst du wirklich, dass du es so schaffst, von deiner Vier in Mathe herunterzukommen?«

Vier Szenen aus dem Alltag, wie sie sich, in hundertfachen Variationen, gewiss tagtäglich abspielen, Szenen, die viele Lehrer, Eltern und Schüler an eigene Erfahrungen erinnern dürften und denen sie viele vergleichbare Beispiele hinzufügen könnten.
Schon anhand dieser wenigen Szenen lässt sich erkennen:

  1. »Arbeitsdisziplin« ist ein Anspruch an Schüler, der eine wichtige Voraussetzung für (schulisches) Lernen kennzeichnet. Explizit gesprochen wird von Arbeitsdisziplin allerdings vorwiegend, wenn – im Zusammenhang mit erlebten Störungen der angepeilten Lern- und Arbeitsprozesse – ihr Fehlen beklagt wird.
  2. Mit Arbeitsdisziplin/fehlender Arbeitsdisziplin wird zunächst nur ein Verhalten oder eine Verhaltenstendenz beschrieben. Über Ursachen für das erwünschte (beziehungsweise unerwünschte) Ver­halten ist damit noch nichts ausgesagt. Diagnostisch hilft die Etikettierung eines Verhaltens anhand der darin zum Ausdruck kommenden Arbeitsdisziplin noch nicht weiter.
  3. Fehlende Arbeitsdisziplin kann sowohl als situatives wie auch als situationsübergreifendes Problem auftauchen: Manche Schüler haben durchaus die Fähigkeit, diszipliniert zu arbeiten; aber in gewissen Situationen rufen sie diese Fähigkeit anscheinend einfach nicht ab. Andere Schüler zeigen fast durchweg einen Mangel an Arbeitsdisziplin.
  4. Mit dieser Feststellung verwandt, aber nicht identisch ist die, dass die situativ beobachtbare Arbeitsdisziplin wie auch die generelle Fähigkeit zu ihr von intra- wie auch extrapersonalen Bedingungen abhängen. Eine bestimmte Disposition zu disziplinierter Arbeit lässt sich durch die Wechselwirkung von genetischer Ausstattung und Sozialisationsfaktoren erklären. Das realisierte Verhalten (als »Performanz«) ist dann wiederum Ergebnis einer Wechselwirkung der individueller Disposition mit konkreten Umweltbedingungen (z. B. einem von dem betreffenden Schüler als motivierend erlebten Unterricht).
  5. Fehlende Arbeitsdisziplin kann das Problem von einzelnen Schülern, aber auch von Gruppen bis hin zu ganzen Schulklassen sein: Lehrern kommt es oft so vor, als sei fehlende Arbeitsdisziplin geradezu »ansteckend«. Auf jeden Fall hat das Phänomen Arbeitsdiszi­plin eine individuelle wie auch eine soziale Seite.

Eine Arbeitsdefinition

Für eine genauere Begriffsklärung muss offenbar – vor allem angesichts der Feststellungen viertens und fünftens – zwischen zwei Bedeutungsvarianten unterschieden werden, je nachdem, ob das aktuelle Verhalten (Performanz) oder eine situationsübergreifende Disposition (Kompetenz) im Vordergrund steht. Deshalb schlage ich die folgende Arbeitsdefinition vor:

Je nach Kontext sprechen wir einer Person Arbeitsdisziplin zu, wenn sie

  • sich in einer konkreten Situation einer (von sich selbst oder anderen) gestellten Aufgabe, zu deren Lösung sie im Prinzip fähig ist, in einem gegebenen Zeitrahmen konzentriert widmet und sie möglichst auch zum Abschluss bringt, und/oder wenn sie ihre Aufmerksamkeit dem offiziellen Unterrichtsgeschehen schenkt (Verhaltens- oder Performanzaspekt);
  • generell in der Lage ist, ein (von sich selbst oder anderen) gesetztes Lern- oder Arbeitsziel auch unter nicht optimalen Bedingungen konsequent zu verfolgen, bis es erreicht ist (Dispositions- oder Kompetenzaspekt).

Lässt sich nun von auĂźen immer ohne Weiteres entscheiden, ob es sich bei fehlender Arbeitsdisziplin (nur) um mangelnde Performanz oder um mangelnde Kompetenz handelt? Offenbar nicht: Direkt beobachten können wir nur das Verhalten, die Performanz. Auch ein SchĂĽler, der ĂĽber die nötige Kompetenz verfĂĽgt, sich einer ihn sachlich nicht ĂĽberfordernden Aufgabe konzentriert und effizient zu widmen, kann sich einer konkreten Aufgabe verweigern – weil er z. B. den Sinn dieser Aufgabe nicht einsieht, also nicht hinreichend motiviert ist. Und ein SchĂĽler, der im Unterricht oder zu Hause eine Aufgabe konzentriert löst (d. h.: Performanz vorhanden), tut das möglicherweise in diesem besonderen Fall aufgrund fĂĽr ihn gĂĽnstiger situativer Rahmenbedingungen: Er ist – vielleicht nur ausnahmsweise – an dieser konkreten Aufgabe interessiert, und es gibt keine ablenkenden Reize. Und schlieĂźlich gibt es selbstverständlich einen Zusammenhang zwischen inhaltlichen Kompetenzen und Arbeitsdisziplin: Beispielsweise mag ein mathematikbegabter und interessierter SchĂĽler im Fach Mathematik zu ĂĽberzeugender Arbeitsdisziplin fähig sein (als Kompetenz!), in den fĂĽr ihn persönlich misserfolgsgeprägten sprachlichen Fächern hingegen ĂĽberhaupt nicht – bis hin zur Arbeitsverweigerung.

Übrigens ist in keiner der zu Beginn vorgestellten Szenen eindeutig klar, um welche Variante fehlender Arbeitsdisziplin es sich handelt. Die Ursachen aktuellen Verhaltens erschließen sich nicht von selbst – einer der Gründe, weshalb pädagogische Diagnostik für Lehrer so wichtig ist (vgl. Heymann 2009).

Die Beiträge zum Themenschwerpunkt

In vier Erfahrungsberichten zum aktuellen Themenschwerpunkt (von Christian u. Silvia Katharina Pulfrich, Silke Riedl, Peer Ball-Engelkes/Sigrid Esmaeili, Tanja Köster) werden – aus der Praxis heraus und anhand unterschiedlicher Klassenstufen und Schulformen – sowohl mögliche Ursachen für Arbeitsdisziplin beziehungsweise ihr Fehlen angesprochen als auch Handlungsmöglichkeiten für Lehrer sichtbar gemacht, und zwar stets unter der Leitfrage: Wie können Lehrerinnen und Lehrer die Arbeitsdisziplin ihrer Schüler fördern, und wo stoßen sie auf Grenzen? Im Beitrag von Barbara Roth werden grundlegende motivations- und volitionspsychologische (willenspsychologische) Erkenntnisse gebündelt vorgestellt, die ein vertiefendes Verständnis des Phänomens »Arbeitsdisziplin« ermöglichen. Einen erhellenden und entwaffnend offenen Beitrag zum Thema aus ganz anderer Richtung – nämlich der Perspektive der Schüler – leisten fünf Achtklässler(innen) einer Realschule, die Karin Heymann zum Thema Arbeitsdisziplin und ihrem persönlichen Umgang damit interviewt hat.

In allen Beiträgen tauchen immer wieder ganz ähnliche Kernbegriffe und Unterthemen auf. Einige davon, die für das Verständnis der Ursachen und Bedingungen von Arbeitsdisziplin und ihre Förderung besonders wichtig sind, greife ich in meinem eigenen Beitrag nun der Reihe nach auf und diskutiere sie.

Selbstdisziplin, Konzentrationsfähigkeit und Selbstregulation

Wenn jemand über Arbeitsdisziplin als übergreifende Kompetenz verfügt, ist er vor allem zu Selbstdisziplin fähig. Selbstdisziplin äußert sich situativ in der Fähigkeit zur Konzentration und fokussierten Aufmerksamkeit, in der Fähigkeit, »einen Kreis um sich zu ziehen«, der alles Ablenkende zuverlässig ausblendet. Viele Leserinnen und Leser dürften selbst schon die Erfahrung gemacht haben, dass man bisweilen sogar in sehr unruhiger Umgebung – in einem Café, im Zug, in einem Warteraum – konzentriert arbeiten kann. Ein Kind mit Konzentrationsstörungen hingegen wird damit auch unter wesentlich günstigeren Bedingungen große Schwierigkeiten haben. Andererseits gibt es viele Kinder und Jugendliche, denen ein konzentriertes Arbeiten auch dann gelingt, wenn die Umgebung nicht optimal ist; die individuellen Schwellen, ab wann ein Außenreiz als störend empfunden wird, sind erfahrungsgemäß unterschiedlich hoch. Deshalb ist es sehr plausibel, dass durch die Gestaltung einer ruhigen und wenig ablenkenden Arbeitsumgebung die Arbeitsdisziplin von Schülern positiv beeinflusst werden kann. – Ich werde im Abschnitt über »Soziale Faktoren« näher darauf eingehen.

Situationsübergreifend zeigt sich Selbstdisziplin vor allem in Planungstreue und Zuverlässigkeit gegenüber einmal gesetzten Zielen. Wie schwer letztere oft fällt, können viele Erwachsene aus leidvoller Erfahrung berichten, die einmal versucht haben, nachhaltig ihr Gewicht zu reduzieren oder sich das Rauchen abzugewöhnen. Aber auch schlichtere Vorsätze (wie der, regelmäßig Sport zu treiben, der Partnerin/dem Partner im Alltag mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wieder öfter etwas Interessantes mit den eigenen Kindern zu unternehmen, sich nicht beim Surfen im Internet zu verlieren) sind öfter vom Scheitern bedroht, als uns das lieb ist. Unerlässlich für Selbstdisziplin ist die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub: Um eines übergeordneten Ziels willen kann ich die Befriedigung spontaner Bedürfnisse verschieben, eine momentane Unlust in Kauf nehmen zugunsten der Lust, die ich mir von der Erreichung meines Ziels in einer näheren oder ferneren Zukunft verspreche. B. Roth zeigt in ihrem Beitrag, dass es gerade bei nicht hinreichender situativer Motivation – wenn man also keine rechte Lust hat, das zu tun, was gerade ansteht – darauf ankommt, Willensprozesse (»Volition«) für die Steuerung des eigenen Verhaltens zu mobilisieren. Schülern, die an fehlender Arbeitsdisziplin scheitern, fehlt es in der Regel an der Fähigkeit zur Selbstregulation und Selbstkontrolle (zur Unterscheidung dieser beiden Begriffe vgl. ebenfalls Roth).

Motivation

In dem von K. Heymann durchgeführten Interview spricht keiner der beteiligten Schüler ausdrücklich die Worte »Motivation« oder »motivieren« aus. Implizit klingt jedoch immer wieder an, dass Motivation (beziehungsweise fehlende Motivation) von diesen Schülern bei sich selbst als eine der Hauptursachen für Arbeitsdisziplin (beziehungsweise ihr Fehlen) betrachtet wird: Sie sprechen von Gelangtweiltsein, fehlender Attraktivität des Unterrichts, davon, dass Lehrer schwächeren Schülern keine Chancen geben (was diese ja motivieren könnte!), davon, dass es sie stört, wenn »Lehrer das Sagen haben«, und von fehlender Unterstützung durch Lehrer, die »genauer hingucken« sollten.

Motivation scheint bisweilen geradezu ein »Einschaltknopf« für Arbeitsdisziplin zu sein: fühle ich mich als Schüler motiviert, arbeite ich diszipliniert; bin ich es nicht, weiche ich der Arbeit aus, wo ich es kann. Dieser Zusammenhang wird auch anhand von B. Roths Fallbeispiel zu Markus deutlich: Häufig ist Arbeitsdisziplin als Kompetenz durchaus vorhanden, aber sie wird wegen fehlender Motivation als situatives Verhalten nicht »abgerufen«. Dass das auch bei prominenten Leistungsträgern in unserer Gesellschaft nicht grundsätzlich anders ist, mag man sich am Beispiel des Verhaltens von Fußball-Profis vergegenwärtigen, die bei mangelnder Motivation – weil es auf das betreffende Spiel beispielsweise nicht so sehr ankommt – ihre Fans enttäuschen.

Als eine für Pädagogen hilfreiche Motivationstheorie wird oft auf die Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci/Ryan (1993) (vgl. dazu auch Lankes 2010, S. 26 f.) Bezug genommen. Die Autoren gehen davon aus, dass intrinsisch motiviertes Handeln auf der Erfüllung dreier menschlicher Grundbedürfnisse beruht:

  • Autonomie,
  • Erleben eigener Kompetenz und
  • soziale Eingebundenheit.

Wenn es auch schwierig ist, Schülern, deren Selbstdisziplin und Selbstregulationsfähigkeit wenig entwickelt ist, nachhaltig eine konstruktivere Arbeitshaltung zu vermitteln, so kann doch zumindest ein Unterricht, der sich bemüht, die genannten drei Grundbedürfnisse zu befriedigen, dazu beitragen, dass Schüler situativ diszipliniert arbeiten.

Soziale Faktoren

In welchem Maße Schüler im Unterricht und in ihrer häuslichen Umgebung die für ihren eigenen Lernerfolg unabdingbare Arbeitsdisziplin aufbringen, hängt nicht zuletzt von sozialen Faktoren ab. Vor allem in den Erfahrungsberichten von Pulfrich/Pulfrich, Ball-Engelkes/Esmaeili und Köster wird das deutlich: Das Lehrerverhalten und die Art der Klassenführung, die Unterrichtsgestaltung, das Lehrer-Schüler-Verhältnis, die Gesprächskultur, das soziale Mitein­ander zwischen den Schülern – all diese Faktoren beeinflussen das Arbeitsklima in der Klasse und die Bereitschaft und Fähigkeit der Schüler, sich auf den ihnen gebotenen Unterricht so diszipliniert einzulassen, dass Lernen möglich wird.

Lehrer stehen oft vor einem Dilemma: Sie sollen jeden Schüler als Einzelperson in seinen Besonderheiten wahrnehmen, sie sollen aber auch die Schüler einer Klasse als Kollektiv ansprechen, anregen, vielleicht sogar begeistern und zugleich »bändigen«. Ihre professionelle Aufgabe besteht darin, Lerngelegenheiten zu schaffen, individuell zu fördern und zugleich ein soziales Geschehen zu steuern. Hier gilt es immer wieder neu die richtige Balance zu finden: Die Vernachlässigung der Einzelpersönlichkeiten in der Klasse führt zu einem unpersönlichen, pauschalen, von den Beteiligten eventuell als »kalt« empfundenen Unterricht; eine sehr starke Orientierung an den einzelnen Schülern hingegen kann – abgesehen davon, dass sie bei den üblichen Klassenstärken eine Überforderung darstellt – dazu führen, dass die Klasse als Kollektiv »aus dem Ruder läuft«, dass der Lehrer die soziale Kontrolle verliert und der Unterricht in Beliebigkeiten, im schlimms­ten Fall in Chaos ausfranst.

Bewährt haben sich Rituale für den Unterrichtsbeginn und die Gestaltung von Abläufen, gemeinsam mit der Klasse aufgestellte und vereinbarte Regeln, schüleraktivierende Unterrichtsmethoden, die Herstellung von Transparenz in Bezug auf die Ziele des Unterrichts und die Leistungsbewertung sowie die Beachtung von Grundregeln des Classroom Managements (vgl. etwa Nolting 2002, Eikenbusch 2010).

Was die sozialen Merkmale des eigenen Unterrichts angeht, haben Lehrer in der Regel einen größeren Gestaltungsspielraum als in vielen anderen Dimensionen ihrer Berufstätigkeit. Eine Leitfrage für Lehrer kann sein: Werde ich den im vorangehenden Abschnitt vorgestellten Grundbedürfnissen meiner Schüler gerecht? Eröffne ich ihnen Räume für selbstständiges Handeln, gebe ich ihnen die Chance, ihre eigenen Kompetenzen zu erleben, gelingt es mir, das soziale Miteinander mit ihnen gemeinsam positiv zu entwickeln, so wird nicht zuletzt Motivierung als »Einschaltknopf« für die erwünschte Arbeitsdisziplin ernst genommen.

Individuelle Beratung und Coaching

Stand im vorausgegangenen Abschnitt die Förderung von Arbeitsdisziplin im Unterricht durch gekonnte Unterrichtsgestaltung im Vordergrund, sei ergänzend wenigstens kurz auf die Chancen und Grenzen individueller Unterstützung von Schülern eingegangen, die zu der für ihren Lernfortschritt notwendigen Arbeitsdisziplin entweder nicht fähig oder nicht willens sind. Der Fallbericht von S. Riedl verdeutlicht sehr anschaulich, wie schwierig es oft ist, Schülern Hilfe zu bieten, die sich – aus welchen Gründen auch immer – dieser Hilfe verweigern. Individuelle Beratung, individuelles Coaching bergen ein großes Potenzial in sich, das an unseren Schulen noch viel zu wenig ausgeschöpft wird. Doch entfalten kann sich dieses Potenzial im Einzelfall nur, wenn die betroffene Schülerin, der betroffene Schüler sich auf das Unterstützungsangebot einlässt; das zeigen neben dem aktuellen Fallbericht von Riedl auch die Äußerungen der Schülerin Kim im Interview durch K. Heymann (vgl. zu diesem Thema auch K. Heymann 2009).

Hier stoßen Pädagogen an eine Grenze: Menschliches Verhalten ist von außen (ohne die Ausübung von Zwang) nicht in einem technischen Sinne steuerbar – selbst wenn hinter den Steuerungsversuchen noch so gute Absichten stehen.

Und unsere »reizende« Umwelt?

Auf einen thematisch einschlägigen Aspekt, der in diesem Heft nicht gesondert behandelt wird, möchte ich abschließend nur kurz hinweisen: Unsere Alltagswelt hat sich, vor allem durch die »neuen Medien«, innerhalb der letzten Generation mit einer Rasanz geändert, wie es die Menschheit noch nie vorher erlebt hat. Gemessen daran hat sich die Schule erstaunlich wenig gewandelt. Hat die Reizüberflutung, der wir ja alle ausgesetzt sind, nun zu einem allgemeinen Verfall der Arbeitsdisziplin von Schülern geführt? Ich denke, dass man die Frage, wenn sie so allgemein gestellt wird, mit nein beantworten muss. Sie ist aber eigentlich falsch gestellt. Eigene Forschungen (vgl. Heymann/Brügelmann 2011, auch Rohlfs 2006) zeigen: Die Unterschiedlichkeit, mit der die zweifellos vorhandenen Reize und Ablenkungsmöglichkeiten von heutigen Kindern und Jugendlichen verarbeitet werden, ist verblüffend groß. Es gibt nach wie vor die Schüler, die mit großer Selbstdisziplin, Sorgfalt, Konzentrationsfähigkeit und klaren Zielen für sich selbst in einem (häufig bewusst durch das Elternhaus) geschützten Raum ihren schulischen Verpflichtungen nachgehen; und es gibt selbstverständlich andere, die sich den Reizen und Versuchungen der vielfältigen medialen Freizeitangebote nicht entziehen können oder wollen und ihre schulischen Obliegenheiten darüber vernachlässigen. Der überwiegende Teil der heutigen Kinder und Jugendlichen lässt sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen verorten. Bei unserer oft kritischen Einschätzung ist allerdings eine These zu bedenken, die ich wissenschaftlich nicht belegen kann, aber der genauer nachzugehen sicher lohnend wäre: Das durchschnittliche Erwachsenenleben in unserer Gesellschaft hat sich durch den Einfluss der neuen Technologien gegenüber dem gleichaltriger Erwachsener vor dreißig Jahren noch stärker verändert als das eines zwölfjährigen Kindes heute und vor dreißig Jahren.

Literatur

  • Deci, E. L./Ryan, R. M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung fĂĽr die Pädagogik. In: Zeitschrift fĂĽr Pädagogik Jg. 39/1093, S. 223 – 238
  • Eikenbusch, G. (2010): Lernen, sich zu organisieren und zu fĂĽhren. Was wissen wir ĂĽber effektive KlassenfĂĽhrung? In: Eikenbusch, G./Heymann, H. W. (Hg.) (2010): Was wissen wir ĂĽber guten Unterricht? Hamburg, S. 13 – 22
  • Eikenbusch, G./Heymann, H. W. (Hg.) (2010): Was wissen wir ĂĽber guten Unterricht? Hamburg
  • Heymann, H. W. (2009): Lernen verstehen, anleiten und begleiten. Diagnostizieren und Fördern als schulische Handlungsfelder. In: PĂ„DAGOGIK H. 12/2009, S. 6 – 9
  • Heymann, K. (2009): Lerncoaching. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufbauen. In: PĂ„DAGOGIK H. 12/2009, S. 14 – 19
  • Heymann, H. W./BrĂĽgelmann, H. (2011): Lernbiografien im schulischen und auĂźerschulischen Kontext. In: Wagener, A. L. (Hg.): Bill Gates, Kesha und Tom im Siegerland. Kinder und ihre Lernbiografien – Beiträge aus dem Projekt LISA&KO. Universität Siegen (i. V.)
  • Lankes, E.-M. (2010): Interesse wecken. Was wissen wir ĂĽber die Motivierung von SchĂĽlern? In: Eikenbusch, G./Heymann, H. W. (Hg.)

Dr. Hans Werner Heymann, Jg. 1946, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen und Redaktionsmitglied von PÄDAGOGIK.
Adresse: Alte Landstr. 72, 57271 Hilchenbach
E-Mail: heymann(at)paedagogik.uni-siegen.de


Aus: Pädagogik 1/2012