Werte und Verwertung

1. Oktober, eine Stunde nach Mitternacht. Seit 60 Minuten ist die Vegetationsperiode mit dem Verbot, Bäume zu fällen, vorüber, da werden im Stuttgarter Schlosspark majestätische Platanen zersägt und noch in der Nacht geschreddert. Am Abend darauf gehen fast hunderttausend Stuttgarter auf die Straße. Bei ihnen wird ein noch unscharfes Gefühl zur Gewissheit: Stuttgart 21 schafft keine Werte. Es entsteht nichts Neues. Der Umbau des Bahnhofs steht für den Verbrauch der Lebenswelt.

Dabei schien die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde zunächst eine verlockende Idee. Was würde alles möglich, wenn fast ein Drittel des inneren Stadtraums neu gestaltet werden kann? Aber kaum jemand glaubt noch, dass dabei jener vielfältige und gemischte Zwischenraum, der seit eh und je die Stadt ausmacht, eine neue Chance bekommt. Befürchtet wird, dass die Stadtmaschine perfektioniert wird und leer läuft, wie ein hochtouriger Motor, der aufheult, wenn er mit keinem Getriebe mehr gekoppelt ist.
Der Stuttgarter Alltag zwischen Bahnhof und Neuem Schloss gleicht dem anderer Innenstädte. Ladenketten, Banken, Parkhäuser und Büros. Lauter Hamsterräder. Nur schnelle Wege, kaum ein schönes Ziel. Man erlebt den Triumph der Verwertung und deren Auszehrung an sich selbst.

Polis, Politik und Polytik
Auf den Demonstrationen gegen das Megaprojekt keimt auch ein Fest. Demos werden zugleich zaghafte Selbstversuche für ein Stadtleben. Phantasiert wird, wie sich lebendige Orte schaffen lassen. Aber wer ergreift die Initiative? Wo ist dafür der politische Raum? Wenn man Politiker so außerirdisch von »den Menschen« reden hört, sucht man erst recht nach einem Anlass, diesen Aliens laut »Nein« entgegenzurufen. Aber wenn es nicht gelingt dem vielerorts aufbrausenden Nein eine konstruktive Wende zu geben, dann könnte unversehens der Ruf nach einer Machtwortpolitik folgen, die Ziele diktiert und zu wissen vorgibt, wo es lang geht. Wie also kann die ausgezehrte Politiker-Politik mit Politik überwunden werden, mit einer »Polytik« der Vielen und der Vielfalt, einer, in der man die Stimme ergreift, statt sie abzugeben?

Der Entwertung kündigen
Was bietet sich dafür mehr an als die Kultivierung der Schulen, die heute zwischen Erneuerung und Verwahrlosung stecken? Sollten sie nicht von der Stadt Besitz ergreifen und sich von der Stadt bespielen lassen? Dazu müssten sie an sich selbst die Logik des Verwertens erkennen und aufkündigen. Denn die erste und nachhaltigste Lektion, die die Kinder in den meisten Schulen immer noch erhalten, ist doch, dass ihr Wissen und ihr Können taxiert, in eine abstrakte Leistungswährung konvertiert und dabei entwertet werden. Manche verweigern sich, aber die meisten machen mit und wollen nun herausbekommen, was sie in dieser dürren Währung wert sind und wie sie sich am besten kapitalisieren können. Und die gleiche Entwertung geschieht der Welt, die zu langweiligem Schulstoff klein gemahlen wird. Bildung hingegen hieße zu erkennen, wer die Kinder und Jugendlichen selbst sind, und herauszufinden, was an Möglichkeit und Talenten in ihnen steckt, vor allem, was sie selbst wollen. Wie also können Schulen Bildungsorte werden und sich davon verabschieden, Märkte zu sein, auf denen Ressourcen verwertet, aber kaum noch geschaffen werden?

Ich träume von einer Schule voller Werkstätten, Bühnen, Küchen, Ateliers und Labore, auch von Räumen für Übungen und Exerzitien. Ich wünsche mir dort neben den professionellen Lehrerinnen und Lehrern auch Meister, Künstler und andere Könner aus der tätigen Welt. Die Pädagogen wären Fachleute fürs Lernen und sie wären vor allem Menschenkenner. Sie wissen, wie krumm und überraschend Biographien verlaufen. Sie wären auch Menschensammler, die nach diesen Meistern, Künstlern und Könnern suchen, sie engagieren und mit ihnen zusammen Schule inszenieren. Die Pädagogen leiten und prägen die Schule, sie selbst werden so erwachsener und unternehmerischer. Sie zeichnen sich allerdings mehr durch Leadership als durch Management aus.

Die Hoffnung, Schulen mögen kultivierte Orte der Stadt oder des Stadtteils sein, ist ja nicht neu, aber nur selten ist aus den zumeist wolkigen Ideen eine beschreibbare Wirklichkeit geworden. Nichts scheint schwieriger als der Logik des Marktes eine Logik der Qualitäten und des Eigensinns, der produktiven und schöpferischen Tätigkeiten entgegenzusetzen. Das rührt an die Alltagsgrammatik der Institution. Das wird als Träumerei denunziert. Das steht im Gegensatz zu den aus Angst vor Versagen gebildeten Verhärtungen. Wie wäre es, wenn nicht mehr klein gehackter Stoff »vermittelt«, sondern Stoffe tatsächlich kennengelernt würden?

Abschied vom Rezept
Zum Beispiel Kochen. Man lernt Stoffe und Aromen kennen. Man begreift die Regeln ihrer Kombination und übt die Kunst der Komposition. Man lernt zu unterscheiden und sich zu entscheiden und sucht seine Meister. Die Kunst des Kochens mit ihren vergänglichen Ergebnissen wäre vielleicht die größte Kunst, gefolgt von der Arbeit am Garten. Viele Schulen adoptierten und kultivierten Flächen in der Stadt. Das Paradigma dieser Schulen wäre der Abschied vom Rezept. Dazu muss man sehr viel können, wissen und vor allem aber Erfahrungen machen.

P. S.
Der kategorische Imperativ dieser Pädagogik wäre neben dem von Immanuel Kant jener von Heinz von Foerster: Handele stets so, dass sich durch Dein Handeln die Menge der Möglichkeiten in der Welt vergrößert. Oder mit Gerald Hüther: Wie schaffen wir den Übergang von einer Ressourcen verbrauchenden zu einer Potentiale schaffenden Kultur?

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 11/2010