Jesper Juul – ein Sokrates der Pädagogik

Eine profane Geschichte aus dem Kindergarten. Ich werde sie nicht vergessen: Bert spielt mit seinem Auto. Sarah will es auch. Aber Bert spielt ungerührt weiter. Die Erzieherin schüttelt den Kopf. »Bert«, sagt sie, »nun gib doch Sarah endlich mal dein Auto.« Jesper Juul erzählt die Episode auf einem Kongress. Bis dahin teilen die Zuhörer die Haltung der Erzieherin. Wieder so ein egoistisches Kind. Aber Juul fährt fort: »Wenn ich morgens zu meinem Auto gehe, und mir jemand sagt, heute solltest du dein Auto mal dem Nachbarn geben, was würde ich da wohl sagen?«

Viele Eltern, beobachtet Juul, wollten nichts als nette Kinder. Nirgendwo werde so viel erzogen wie in Deutschland. Die Ratgeber raunen: Kindern muss man Grenzen setzen. Juul hingegen sagt, dass die Erwachsenen sich abgrenzen sollten. Er ermuntert sie, nicht als Prinzipien aufzutreten, sondern als genau die Person, die sie nun mal sind, und dabei in Kauf zu nehmen, sich zuweilen unbeliebt zu machen. Vor allem hätten sie zu lernen, nein zu sagen. Ein Romantiker ist der Däne Jesper Juul nicht.

Bonsai

Es ist verblüffend, wie bei seinen Gesprächspartnern und Zuhörern Lichter aufgehen, wenn sich dieser Sokrates unters Volk mischt und, ohne zu belehren oder gar zu beschämen, schmerzliche Wahrheiten ausspricht oder seine Gesprächspartner darauf bringt.

Er analysiert die perverse Elternhaltung aus Kindern »Bonsaibäumchen« machen zu wollen, »über deren Wachstum der Besitzer die Macht übernommen hat.« Er erleichtert Eltern von der großen Angst, etwas falsch zu machen, indem er sie ermuntert, ihre Ängste und Unsicherheit nicht zu verbergen, »denn die Voraussetzung einer harmonischen Entwicklung ist das Vorhandensein von Raum für das Unharmonische.«

Wenn allerdings bei den netten Kindern, die nur funktionieren sollen, die ganz normalen Missverständnisse und Probleme aufkommen, werden sie häufig pathologisiert. Dann sprechen Eltern über sie wie über ihre Lieblingspatienten. Die Quittung für den ausgesparten Schatten gibt es dann in der Pubertät, wenn die lange vermiedene Farbe schwarz sie überwältigt.

Nichts geht in der Erziehung ohne Paradoxien. Wer auf Perfektion verzichtet, hat die besten Aussichten aufs Gelingen. Um andere zu ändern, arbeitet man am besten am eigenen Modus. Zu viel Belehrung steht dem Lernen im Wege. Erziehung bedeutet, über Bande zu spielen. Das Indirekte ist wirksamer als die Linearität der gängigen Muster. Es schafft Raum für die Möglichkeiten der anderen.

Motivieren?

Noch eine Jesper Juul-Geschichte. Eine Mutter, die Lehrerin ist, sorgt sich, weil es ihr nicht gelingt, ihre Kinder und Schüler zu motivieren. Sie wird unsicher, weil Juuls Antwort auf sich warten lässt, und setzt nach, ob sich vielleicht die heutigen Kinder gar nicht motivieren lassen wollen? Jesper Juul geht auf und ab. Motivieren? Das Wort schmeckt ihm nicht. »Alle Kinder kommen doch mit ungefähr 150 Prozent Motivation zur Welt.« Da fehle doch nichts. Aber wo bleibe sie dann, fragt er in den Raum. Und könne man denn andere überhaupt motivieren? Die Frau nickt, aber sie ist nicht zufrieden. Mangele es den Kindern heute vielleicht an Aufmerksamkeit, die ihnen die Eltern und Lehrer schulden? Ja, sagt Juul, früher war das wirklich so. Als er nach seinem Studium in Dänemark schwierige Jugendliche betreute, da hätte man über fast alle sagen können, dass es ihnen an Aufmerksamkeit fehlte. Aber heute? Wäre es da nicht besser den Kindern ab und zu Ferien von der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, Erzieher und Lehrer zu gestatten?

Auch Kinder hätten ein Recht darauf, dass es ihnen nicht gut geht. Das gehöre zu unserer Grundausstattung, der ganz normalen Unvollkommenheit, und dazu gehöre auch, dass es für Erwachsene nicht möglich ist, »ein Leben zu führen, das nicht auch auf Kosten der Kinder geht.« – »Und umgekehrt.« Nach solchen Sätzen macht er eine Pause und sagt dann oft: »So ist es.« Allerdings hätten die Erwachsenen dafür die Verantwortung zu übernehmen. »So bin ich. Das ist meine Grenze. Mehr kann ich nicht. Damit müssen wir leben.«

Verantwortung!

Das schlechte Gewissen vieler Erwachsener, ihr Perfektionismus und ihr Gefühl, defizitär und schuldig zu sein, springen auf die Kinder über. Ihre versäumte Verantwortung wird zur Schuld der Kinder umgemünzt. Juul kritisiert eine Kultur, die sich hervorragend darauf versteht, Verantwortung zu delegieren, statt zu üben, wie man sie übernimmt. Er kritisiert eine feige Haltung, deren Parole in vielen Varianten »Nicht ich« heißt. Sein pragmatischer Optimismus fragt, was machen wir daraus? Und eben nicht, wer hat Schuld. Am Ende gleicht seine Aufforderung der zur Revolution: »Ab heute übernehmen wir die volle Verantwortung für die Familie, in der Beziehung und in der Schule – wo immer wir stehen.«

Das Erfolgsgeheimnis der vielen Bücher und der überfüllten Veranstaltungen des dänischen Familientherapeuten in Deutschland ist, dass jeder spürt, in diesem Menschen blinken und blitzen die Spiegelneuronen. Hier hat jemand seine Innenbeleuchtung eingeschaltet. Er kennt das alles. »Unsere Eltern haben uns schuldig gemacht, und nicht verantwortlich.« Wer diese Innenbeleuchtung hat, muss andere nicht mit Verhörstrahlern blenden.

PS
Jesper Juul stand in den vergangenen Jahren auf vielen Bühnen. Vielleicht auf zu vielen. Vor einiger Zeit verlor er dabei die Kraft in den Füßen. Eine heimtückische Infektion. Er kam ins Krankenhaus und hat sich noch nicht erholt. Alles Gute für ihn.

PPS
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Aus: Pädagogik 2/2014