Das Yin und Yang der Bildung

Weil ihre dreijährige Tochter nicht ans Klavier wollte, wurde sie auf die Terrasse verbannt, in frostiger Winternacht. Die Mutter drohte auch schon mal, alle Stofftiere zu verbrennen. Bei Freundinnen schlafen? Niemals! Ein anderes Musikinstrument als Klavier oder Geige? Kommt nicht in Frage. Schulnoten unter eins? Kommt mir damit nur nicht nach Haus! Das ist eine Karikatur, hätte man noch bis vor kurzem gedacht. Nein, es sind Zitate aus dem derzeit weltweit meistverkauften und meistdiskutierten Buch über Erziehung. »The Battle Hymn«, so heißt der Titel im Original, »of the Tiger Mother«.

Es liegt was in der Luft

Amy Chua, die Autorin, ist Juraprofessorin in Yale, Harvard-Absolventin, also feinste amerikanische Aristokratie mit ansonsten guten Manieren. Chua hat, würde man in Deutschland sagen, chinesischen Migrationshintergrund. Ihren Erziehungskrieg gegen die beiden Töchter kennt man inzwischen aus der Zeitung. Die Presse sprang sofort darauf an. Die Medien spüren, da liegt etwas in der Luft und das bekommt in diesem Buch Gestalt. Das Thema hinter dem Thema ist die Globalisierung, die nun auch die Bildung erreicht. So viel noch zu dem Buch. Es rechtfertigt eigentlich die Aufregung nicht. Es ist nicht ganz so martialisch, wie es der Verlag skandalisiert. Immerhin verliert die Mutter den Krieg gegen ihre jüngere Tochter. Und die Autorin bricht ihre eigenen Spitzen zuweilen mit Selbstironie.

Das Buch ist also ein Medienereignis, aber nicht nur im manipulativen Sinne. Denn diese Erregung lässt sich nicht künstlich hervorrufen. Das Buch macht Angst. Nein, es löst vorhandene Ängste aus. Amy Chuas Drillerziehung steht für die asiatische Bedrohung und passt zu den Abstiegsängsten vieler Amerikaner und Europäer. Man bedenke, dass die Hälfte des Dollarschatzes schon China gehört und dass sich China weltweit Rohstoffe sichert. Und nun sitzt es auch noch auf diesem anderen so genannten Rohstoff, der Bildung? Da passt es, dass nun auch Amerika seinen Pisaschock erlebt hat. Die Kinder in Shanghai seien den Amerikanern um Schuljahre voraus. Auch europäische Eltern sagen ihren Kindern schon lange nicht mehr, du sollst es mal besser haben. Die Mitteilung heißt nun, du musst Spitze sein, wenn du nicht absteigen willst.

Chua zeichnet ein einprägsames Bild vom generativen Dreischritt der Migrantenfamilien. Die erste Generation kennt nur Arbeit. Die zweite strengt sich an, um der Fron zu entkommen und steigt auf. Die dritte Generation ist satt und wird schlaff. Um diesem vermeintlichen Schicksal zu entkommen, bekriegt Chua ihre Töchter. Nun soll die Not der Großeltern simuliert werden, als Drill. Das leuchtet vielen Amerikanern und Europäern ein.

Üben? Üben!

Es kommt hinzu, dass ein Geschoss aus der Chua Artillerie durchaus trifft. Es gibt sie ja, die nicht erwachsen gewordenen Erwachsen, die ihren Kindern gegenüber so tun, als seien sie gar nicht da. Sie meinen, es sei progressiv das Wort Nein zu streichen, und merken nicht, dass sie damit auch das Wort Ja entwerten. Es gibt auch den Verzicht auf Anstrengungen und das Ausweichen in Schnellgratifikationen. Und natürlich hat Amy Chua Recht, wenn sie schreibt, dass nur die Dinge wirklich Freude machen, die man auch gut kann. Aber dann fällt ihr eben nur der Drill ein. Das verweist auch auf die fatale Tradition in pädagogischen Debatten, das Kind, um das es doch gehen soll, mit dem Bade auszuschütten. Denn auf die finstere Tradition schwarzer Pädagogik, in Amerika der pietistischen vertraut, folgte die antiautoritäre Negation. Schlachten im Grobschnitt des Entweder – Oder. Entweder reine Außensteuerung, also Disziplin und Drill, oder die zuweilen romantisierte reine Spontaneität. Deutlich wird diese schwache Polarisierung am Thema Üben (PS 9, 2008). Das Verwerfen eines Übens, das auf Drill vereinseitigt worden war, führte häufig zum Auslöschen des Wortes, statt das ganze Üben zu rehabilitieren. In den guten, vorindustriellen Zeiten hat Üben beides bedeutete: Wiederholen und Variieren. Natürlich muss man, um etwas gut zu können, üben. Das sind die berühmten 10 000 Stunden, von denen Hirnforscher oder auch Richard Sennett in seinem Buch über Handwerk sprechen, 10 000 Stunden, die man braucht, um ein Meister zu sein. Aber um etwas wirklich gut zu können und Freude daran zu haben, muss man es auch wollen. Man muss hungrig sein, nicht aus Not, sondern aus Appetit, weil man auf den Geschmack gekommen ist, zum Beispiel bei der Musik oder bei einer anderen Kunst. Chua hingegen sieht im Klavier oder der Geige kein Instrument für die Kunst, sondern ein Gerät im mentalen Fitnessstudio.

Kreativät und Denken sind ohne das Risiko zu scheitern nicht zu haben. Dass nur gelingen kann, was auch scheitern darf, ist die paradoxe Erfolgsformel, auch für die Globalisierung, die, wenn sie gelingt, selbst paradox ist: eine Glokalisierung, die Lokalisierung mit einem G davor.

Umwege

Die Asiaten übrigens entdecken schon seit einiger Zeit die Kreativität, von der der Westen zehrt und der er selbst nicht mehr so recht traut. Das zeigt die angstgetriebene Resonanz auf den Schlachtruf der Frau Chua. Dabei hält die chinesische Tradition ein so starkes Modell bereit: Yin und Yang. Kein Entweder – Oder, kein simples richtig oder falsch, sondern Pole, die ein Feld aufladen. Ein Feld für Wege und Umwege, also für Biographien, und nicht für Lernschnellwege, auf denen die Zombies rasen.

PS
Zum Schluss Goethe: »Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir bloß nicht absolut nach Haus.«

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 3/2011