PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahls Kolumne

Die Dritte Chance – eine Sommermeditation

»Mir war klar, es würde auch mich mal treffen. Jetzt ist es so weit. Ich werde 60. 60? Ja, 60.« Solche Einladungen kommen nun häufiger. Und dann folgt ein Satz, der eigentlich gar nicht passt. »Ein guter Grund mit euch zu feiern.« Wirklich? Feiern? Viele Geburtstage werden schon seit Jahren vermieden, so als wäre es ein Countdown. Manchmal wird auch ein bisschen kondoliert. Vom Kinderlied, »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst«, ist das weit entfernt. Und wenn man dann fragt, liebe Leute, was habt ihr euch eigentlich gedacht? Unsere Sterblichkeit und unsere »Gebürtlichkeit« sind doch zwei Seiten einer Medaille, kommt es nicht drauf an, dass sie sich dreht und wie ein Kreisel tanzt? Ist nicht die einzige Ewigkeit eine erfüllte und wache Gegenwart? Dann antworten die Freunde, ist ja wunderbar gesagt, aber das Gedächtnis lässt nach, die Körperkraft schwindet. Als hätte man ihnen etwas anderes versprochen, sind viele erschrocken und irgendwie überrascht, dass es die Falten des Lebens wirklich gibt. Die andere Seite, die Gebürtlichkeit, bleibt fast unbeachtet, ausgerechnet an Geburtstagen.

Forever Young

Die Generation, die jetzt um die 60 ist, hat an die Verheißungen einer endlosen Jugend gern geglaubt. Jugend als Symbol für Aufbruch, Rebellion und Umbruch wurde dabei zum Emblem für eine endlose Vorlust. Alles sollte irgendwie möglich bleiben, als habe man das wirkliche Leben erst noch vor sich. Möglichst lange leben, aber nicht alt werden. Doch langsam kommen wir, auch ich wurde gerade 60, in die Jahre und reiben uns die Augen. Erst finden wir, dass das Alter gar nicht zu uns passt. Unser liebstes Kompliment heißt, so alt siehst du noch gar nicht aus. Unser gefühltes Alter ist tatsächlich viel niedriger. Verglichen mit den Generationen zuvor, sind die heute 60-Jährigen körperlich etwa fünf Jahre jünger und wer weiß, bei der nächsten großen Altersstudie mögen es sechs oder sieben Jahre sein. Dennoch, der Zahn der Zeit nagt an der Illusion von Zeitlosigkeit.
Bietet ausgerechnet das Alter angesichts der nun nicht mehr zu leugnenden Endlichkeit, die Chance im eigenen Leben anzukommen? Die Alten könnten dem falschen Versprechen imperialer Faltenlosigkeit trotzen. Sie könnten die Flucht vor sich selbst beenden. Sie könnten sogar ein Ferment des Wandels in der ganzen Gesellschaft werden, wenn ihre Lebensweise auch die Jüngeren daran erinnert, was gelungenes Leben seit eh und je ausmacht: Tätig sein und aus seiner unvermeidlichen Unvollkommenheit mit anderen eine gemeinsame Welt schaffen. Ab und zu Exerzitien, als wüsste man, dass das eigene Leben nicht mehr lange währt. Das wäre eine Lebensschule. Sterblichkeit ermöglicht Gebürtlichkeit.

Eigensinn

Die erste Chance waren die frühen Jahre. Mit jedem Kind kommt ein anderer, ein noch nie da gewesener zur Welt. Jeder ist eine Primzahl, nur durch die Eins und sich selbst teilbar. Für die Realisierung dieser Chance war man allerdings noch nicht verantwortlich. Die Pubertät bot eine zweite Chance. Nun galt es, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und beim Erwachsenwerden Eigensinn auszubilden: Sich für sein eigenes Leben entscheiden und das Beste aus Voraussetzungen machen, die immer zu wünschen übrig lassen. Also auf die Ausrede verzichten, dass man eigentlich ein ganz anderer sei, zu dem man nur nicht kommt, oder dass man leider die falschen Eltern hat.
Die Lebensprovinz der Alten bietet nun eine historisch neue, eine dritte Chance. Verglichen mit früheren Generationen werden die Alten immer jünger. Ihre durchschnittliche Lebenszeit wuchs im vergangenen Jahrhundert um 30 zusätzliche Jahre. Anders als früher kommen heute fast alle Menschen in dieser Lebensprovinz an und viele bleiben dort fast so lange wie im Beruf. Erreichen sie eine kritische Masse, könnten sie die Gesellschaft verändern.

Liebe zur Welt

Zwar nimmt mit den Jahren das biologische Potential ab, nicht aber die kulturelle Kraft. Sie steigt, wenn Menschen ihre Unvollkommenheit weniger verleugnen. »Das Alter ist die radikalste Form der Unfertigkeit«, schrieb der kürzlich verstorbene Altersforscher Paul Baltes. Er sah die Unfertigkeit nicht negativ, sondern ambivalent. Die radikalisierte Unfertigkeit ist eine Triebkraft, mit der sich die fertige Welt aufspalten lässt. Mit ihr lassen sich Todesengel vertreiben, die schon die Jungen mit dem Versprechen auf Wellness-Zustände locken, und dabei das Kraftfeld zwischen den Polen Gebürtlichkeit und Sterblichkeit auszehren. Alles hängt davon ab, wie wir diese so bedrohliche wie wunderbare Unfertigkeit ertragen und sie zu Tätigkeiten kultivieren und in Freundschaften verwandeln. Bei den Griechen beneideten die Götter ja die Menschen wegen ihrer Fähigkeit zur Freundschaft. Ein Privileg der Sterblichen.

P.S.

Die Tätigkeiten der Alten sind von anderer Art als der Beruf. Aber das ist noch Zukunftsmusik: Ältere, die als Lernpaten in Schulen gehen. Menschen, die ihre Meisterschaft weitergeben. Subversive Experten, die Parkplätze in Menschenparks verwandeln, nachdem die Autos unter der Erde verschwunden sind. Weise, die an Straßenecken wie Sokrates philosophieren, oder Handwerker, wie sie Richard Sennett in seinem Buch »Das Handwerk« lobt: Sie tun eine Sache um ihrer selbst willen und wollen sie deshalb so gut machen wie nur möglich.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de