Pressemeldung

Montag, 23. März 2009

Amok: Rache chronisch gedemütigter Schüler?

Der Lehrer, Schulpädagoge und Psychologe Kurt Singer über die Frage, ob Schulen etwas tun können, um das Risiko von Amokläufen zu verringern

Herr Professor Singer, nach dem Amoklauf von Winnenden wird nach den möglichen Ursachen für die Tat von Tim K. gesucht. Psychologische Dispositionen und Waffenbesitz sowie die schädliche Wirkung von Computerspielen werden in diesem Zusammenhang erörtert. Sollte die Diskussion hier stehen bleiben?
Kurt Singer: Schule kann für Kinder und Eltern zur Katastrophe werden, auch zur größtmöglichen Katastrophe: dem Amoklauf eines Schülers. Zum dritten Mal ist in Deutschland diese Katastrophe eingetreten. Der Amoklauf eines Schülers. Man kann nicht sagen, die Schule sei an diesem Unglück schuld. Die mörderische Tat fand jedoch in der Schule statt. Dadurch wird es zwingend, den Zusammenhang zwischen Amoklauf und Schule aufzudecken. Es lohnt sich, dort auf Spurensuche zu gehen, wo das Unheil geschehen ist.
Nach den Analysen vorausgegangener Amokläufe stellt sich die Frage: Ist der Amoklauf Jugendlicher die Rache chronisch gedemütigter Schüler? Es sieht so aus, wenn man Abschiedsbriefe, Interneteinträge, Aussagen und die Lebenssituationen solcher Schüler genau betrachtet. Aber es spielen viele Faktoren mit, deshalb wird es kompliziert, die Frage nach den Ursachen einfach zu beantworten.  

Sie sind also der Auffassung, dass in der gegenwärtigen Diskussion neben den anderen Faktoren auch die Verhältnisse an den Schulen einmal genauer beleuchtet werden sollten…
Kurt Singer: Die Logik des Ablaufs der Gewalttat lässt unmittelbare Berührungspunkte zwischen dem Amoklauf in der Schule und der Schule erkennen. Vom Amokschüler dieser Tage, Tim K. weiß man noch wenig. Aber auch schon so viel, dass er in der Schule „nicht gut genug“ war. Es wird von der „unerklärlichen Schreckenstat“ gesprochen. Tatsächlich ist manches daran nicht zu erklären. Was zu erkennen ist, sollte aber auch thematisiert werden.  

Was kann man in Bezug auf das Schulerleben jugendlicher Amokläufer feststellen? 
Kurt Singer: Alle Amokläufer waren gescheiterte Schüler. In unseren Schulsystem herrscht das „Prinzip Scheitern“ vom Schulanfang bis zum Abitur. Lehrer lassen jährlich 250.000 Schüler durchfallen. Für die mehrfach Gescheiterten, zu denen die Amokläufer gehören, kann dies zum Verhängnis werden. Schüler auffangen, statt fallen lassen, wäre die pädagogische Lösung, wie das in anderen Ländern mit großem unterrichtlichen Erfolg praktiziert wird. 
Solche Schüler empfinden sich als Versager und Verlierer, die in der Schule in einem fort entwertet werden. Dabei verursacht der Unterricht selbst, dass Kinder versagen und ihr Selbstbewusstsein verlieren. „Kein Kind darf verloren gehen“, heißt es in einer pädagogischen Schule. In reformpädagogischen Projekten wird eindrucksvoll dargestellt, wie eine helfende pädagogische Beziehung allen Kinder zu Gute kommt.  

Gewaltbereitschaft resultiert häufig aus einer inneren Verletztheit, zu der auch Schulen beitragen?
Kurt Singer: Seelische Verletzungen von Kindern und Jugendlichen gehören leider für viele Schüler zum Schulalltag: sie werden ausgelacht, gedemütigt, bloß gestellt, beleidigt. Bei Robert S. löste eine schwere Kränkung durch die Schulleiterin wenige Stunden später den Amoklauf aus. Auch die Würde des Schülers ist unantastbar. In Schulen, die sich dem grundgesetzlichen Schülerrecht verpflichtet fühlen, gilt der pädagogische Takt: Kein Kind darf in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt werden. Außerdem: Tim K. wird als ein besonders unauffälliger Junge beschrieben. Stille Schüler werden leicht vergessen, obwohl sie oft eine besondere Aufmerksamkeit genießen sollten. Wer kümmert sich um sie, da sie doch nicht auffallen. Wie viele Lehrer fragen danach, wie es den Stillen geht? Nicht nur die Amokläufer gehören zu den Übersehenen in der Schule.  

In Ihrem neuen Buch „Die Schulkatastrophe“ führen Sie neben den oben genannte, noch weitere Faktoren auf, die Schüler kaputt machen können, darunter Isolation, Beschämung und Angst. Können Sie das ein wenig erläutern?
Kurt Singer: Isolation ist ein Element unpädagogischer Schulen. Bereits im 4. Schuljahr werden Schüler aussortiert, abgesondert und vereinzelt; die Zugehörigkeit wird ständig bedroht, Leistungskonkurrenz vergiftet das Schulklima. Miteinander gemeinsam lernen, statt isoliert und gegeneinander. Wo das Helfersystem gilt, bleibt kein Kind allein.
Unter dem unerbittlichen Leistungsdruck sinnloser Stoff-Völlerei werden Schwächere zu Versagern gemacht und als solche fortdauernd beschämt; Beschämung kann das Selbstwertgefühl der Kinder schwer beschädigen. Kein Kind darf beschämt werden – das ist der pädagogische Imperativ einer humanen Schule.
Und zur Angst: Leider ist sie in der Schule so selbstverständlich, dass es dafür sogar einen eigenen Begriff gibt: Schulangst. Millionen Kinder fürchten sich vor Lehrern. Diese Angst kann in Hass umschlagen. Schülern ermöglichen, angstfrei zu lernen ist Grundsatz eines wirksamen Unterrichts, denn Angst mach dumm, stumm und krank.  
All dieses, was das Schulleben von Amok-Schülern besonders kennzeichnet, ließe sich verändern, das zeigen Beispiele reformpädagogischer Schulen. In Schulen, in denen Kinder gut leben, können sie auch gut lernen. Beim Blick auf jugendliche Amok-Täter wird deutlich: Eine humane Schule könnte neben anderen Faktoren dazu beitragen, dass solche schrecklichen Taten nicht passieren!  

Vielen Dank, Herr Professor Singer, für das Gespräch!      

Kurt Singer lehrte Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie an der Universität München. Er ist Psychoanalytiker, war selbst Lehrer und engagiert sich seit Jahrzehnten für eine humane Schule: durch Bücher, Vorträge, in Supervisionsgruppen mit Lehrern, Semi-naren für Eltern und Schüler.    

Sein Buch „Die Schulkatastrophe. Schüler brauchen Lernfreude statt Furcht, Zwang und Auslese“ ist in diesem Frühjahr bei Beltz erschienen.