Ferdinand Piëch, in dem angeblich nicht Blut, sondern Benzin zirkuliert, winkt freudig und entspannt den Kindern zu. Die haben gerade so schön gesungen, »Ich bin ich und du bist du und das soll so bleiben, genauso wie wir sind, mögen wir uns leiden«. Wann er zuletzt wohl solche Freude an neuen Prototypen hatte? Versteht der Ingenieur und Milliardär überhaupt, dass diese Kinder nicht mehr wie Generationen vor ihnen in der Schule standardisiert werden sollen? Die von VW gegründete »Neue Schule Wolfsburg«, wurde Ende September mit einem Festakt offiziell eröffnet. Sie soll mit dem Slogan von der »Individualisierung« des Lernens tatsächlich ernst machen. Und sie soll damit die Region infizieren. Vielleicht sogar das Land.
Manch einer reibt sich die Augen. 700 Leute sind in der Halle. Alle seien VIPs, hat man den VW-Hostessen diesmal gesagt, vor allem die Kinder und ihre Eltern. Na ja, einige sind etwas vipper als andere, so der VW-Vorstand samt Damen, Betriebsrat und Kultusministerin (CDU) in der ersten Reihe.
Schule für alle
Der Festakt ist aus dem Stoff, den die bunten Blätter mögen. Personalvorstand Horst Neumann und die von ihm kürzlich samt zwei Kindern geheiratete Frau, so erfahren nun alle, haben kürzlich bei ihrer Hochzeit 30.000 Euro für den noch zu bauenden Experimentierpavillon der neuen Schule gesammelt. Und Frau Piëch sagt angesichts ihres am kommenden Tag bevorstehenden Hochzeitstages, sie und ihr Mann hätten diesmal die Juwelen gestrichen und schenkten dafür der Schule einen Bus, denn Unterricht solle doch nicht nur in Klassenräumen stattfinden. Und dann preist der Wolfsburger Oberbürgermeister Rolf Schnellecke (CDU) wohl erstmals öffentlich eine »Schule für alle«, also eine Gesamtschule. Zur Erinnerung, das ist der Schultyp, der zwei Legislaturperioden lang in Niedersachsen nicht gegründet werden durfte. Die Neue Schule wird sogar von Klasse eins bis dreizehn gehen und – so der Oberbürgermeister, »sie wird keine Eliteschule«. Was aber nur wenige im Saal wissen, ursprünglich sollte diese Gründung eher eine Eliteschule werden.
Teilnehmender Beobachter
Ich wechsele nun die Perspektive. Ich schalte um vom interessierten Beobachter des Festakts zum teilnehmenden Beobachter, als Mitglied der »Errichtungskommission«. Im Sommer 2008 rief Peter Meyer-Dohm an. Er war bis zu seiner Pensionierung konzernweit Chef der Aus- und Weiterbildung bei VW. Zuvor war der Professor der Volkswirtschaft mit Schwerpunkt Bildungsökonomie Rektor der Ruhr-Uni Bochum. Seine Botschaft in einem Satz: Die Kommandowirtschaft geht zu Ende, überall. Und natürlich weiß er, dass das leichter gesagt als getan ist. Meyer-Dohm also erzählt, dass das Werk, so sagt man in Wolfsburg, der Stadt zu ihrem 70. Geburtstag eine Schule schenken will. Die muss natürlich Spitze werden, aber, so viel Indiskretion darf sein, was das genau sei, weiß der Vorstand nicht. Irgendwie Elite. Man denke an eine internationale Schule, vielleicht mit Englisch als erster Sprache und wohl auch mit Chinesisch. Die Schule soll auch Wolfsburg für internationale Manager und Spitzeningenieure attraktiv machen. Wer schafft am Weltmarkt als erster ein Auto mit 100 Prozent Solarenergie? Jedenfalls soll aus allen Fenstern der Schule Zukunft leuchten. Er habe nun die Aufgabe eine internationale »Errichtungskommission« vorzuschlagen und wenn die berufen sein werde, dann wolle man deren Vorschlägen folgen. Also tatsächlich Ende der Kommandowirtschaft?
Der Evolutionsrat
Meyer-Dohm liest die Liste derer vor, die er fragen will oder bereits gefragt hat: Mats Ekholm aus Schweden war viele Jahre Direktor von Skolverket, der schon vor 20 Jahren entstaatlichten nationalen Bildungsagentur. Matti Meri aus Finnland hat bis zur seiner kürzlichen Emeritierung die Lehrerbildung an der Uni Helsinki geleitet. Mit Barbara Riekmann von der Max-Brauer-Schule in Hamburg und Erika Risse vom Elsa-Brandström- Gymnasium in Oberhausen kommen zwei entschiedene deutsche Schulleiterinnen. Außerdem Susanne Owen-Hughes, Schulleiterin der Berlin British School. Die obligatorischen Professoren sind Christian Fischer aus Luzern und Uwe Hameyer aus Kiel, zwei ausgewiesene Bildungsforscher, der eine mehr auf Begabungsforschung und Diagnostik, der andere mehr auf neue Lernkultur konzentriert. Uff. Da will ich natürlich dabei sein. Eine Ehre. Eine Aufgabe. Und wir dürfen tatsächlich die neue Schule erfinden? Ja, sagt Meyer-Dohm, immer voraussetzend, dass zwischen Vision und Pragmatismus mehr möglich ist, als man denkt, aber auch nicht alles. Um die Liste zu vervollständigen. Es kamen dann noch Armin Lohmann vom Niedersächsischen Kultusministerium und Klaus Mohrs, der für Schule zuständige Dezernent in Wolfsburg (das heißt dort Stadtrat) dazu und last not least Uwe Möller vom Club of Rome.
Nun habe ich mit der Gründungsfeier und dem Vorspiel so viele Buchstaben verbraucht, dass ich ausnahmsweise lieber eine Fortsetzungsgeschichte aus diesem ungewöhnlichen Bündnis und den Folgen machen will, als die Sache auf 5.500 Zeichen zu komprimieren.
PS
Sollte jemand meinen, Wolfsburg sei ein Sonderfall: Zwei Tage später eine Bildungskonferenz in der IHK Karlsruhe. Bernd Bechtold, Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags, begrüßt die Teilnehmer so: In China beginnen inzwischen 800.000 junge Leute jährlich ein Ingenieurstudium. In Deutschland sind es 40.000. Die Ausbildung in China ist nicht schlechter. Wie lange können wir unsere Produkte noch verkaufen? Wer erfindet Neues? Woher kommen Kreativität und Ideen? Eine neue Bildung ist das Wichtigste. Nur Sprüche? No!
PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de
Aus: Pädagogik 11/2009