Auf der Straße überkamen mich ein Fremdeln und eine Angst, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt habe. Ich fühlte mich plötzlich wie ein Findelkind – heimatlos, schutzlos und schwach.
Vorangegangen war ein Morgen in der üblichen Mischung aus Katastrophe und Wohlbefinden. Nach dem ersten Espresso und dem gesunden Müsli schließlich beim Tee die Zeitungen. Es sind mehrere, die jeden Morgen pünktlich um halb sechs vor der Wohnungstür im zweiten Stock liegen. Alles funktionierte also bestens, wie immer. Erst schnell die Überschriften, dann die Meldungen und Kommentare. Zum Schluss noch Kluges aus dem Feuilleton.
Drogen
Aber an diesem Morgen war der Mix zu hart. Der Chef der Wirtschaftsweisen sagt: »Ich empfehle Cholera statt Pest.« Selbst der Kommentator in der ›Welt‹ schreibt: »Fakt ist, die Weltwirtschaft ist auf Droge.« Genaueres lese ich in »Lettre International« von Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Er analysiert das »lebensgefährliche Doping-System des Pump-Kapitalismus der Finanzmärkte«. Cholera, Pest, Droge, lebensgefährlich. Das sind beim Morgentee erst mal nur Buchstaben, versüßt mit den kleinen Triumphen der Bestätigung. Es kann ja gar nicht schlimm genug kommen, solange man Recht behält. Aber wenn es tatsächlich lebensgefährlich wird? Dann brühen wir den grünen Tee bei genau 85 Grad ein zweites Mal auf und machen ansonsten mit richtigem Bewusstsein weiter das Falsche. Dass die Welt untergeht, wenn der CO²-Verbrauch weiter steigt, kann man inzwischen auch in der Bildzeitung lesen. Und? Im vergangenen Jahr ist der Ausstoß erneut kräftig gestiegen. Ein Allzeithoch. Was machen wir? Müll trennen und weiter Zeitung lesen: China macht Rückzieher beim angekündigten Klimaschutz, weil die Wachstumskurve einknickt. Für die Treibhausreduktion fehle nun das Geld. Wäre nicht der Knick in der Wachstumskurve schon ein Teil der Lösung? Pest oder Cholera? Vielleicht sogar Pest und Cholera?
Dann verließ ich das Haus und auf der Straße fragte ich mich, was dort los sein wird, wenn es wirklich eine Krise gibt. Gar nicht der ganz große Crash, nur mal der Run all dieser gutgekleideten toten Seelen zur Bank, weil nun doch der Euro platzen könnte. Und wenn die ersten losrennen, dann wird er platzen. Oder was wäre, wenn nur für ein paar Tage der Strom ausfällt?
Plötzlich sehe ich auf der Straße nur noch Zombies und ihre obszönen, vornehmlich hochgestellten schwarzen Autos, die SUVs, darin die Untoten ihre Beerdigungslimousinen selbst steuernd. Meine sonst gut funktionierende Abwehr aus interpretieren, woanders hingucken und mir Gedanken machen hatte plötzlich ausgesetzt. Das Findelkind fror und hatte Angst, nicht nur kognitiv.
Am Schreibtisch mache ich mich wieder an die Stärkung meines Immunsystems und dort weiter, wo ich am Tag zuvor aufgehört hatte, mit dem Lesen von Michael Tomasello, um den es ja in dieser inzwischen überfälligen Kolumne gehen sollte. Eine These aus dem Artikel von Wolfgang Streeck stellt sich dazwischen, als Brücke. Für einen demokratischen Abschied aus dem »lebensgefährlichen Doping-System des Pump-Kapitalismus der Finanzmärkte« müsse der »Gesellschaftsvertrag des demokratischen Kapitalismus neu geschrieben« werden. Auch und gerade in den Schulen.
Müll
Am Abend zuvor hatte ich eine Veranstaltung mit Remo Largo im Forum der Körber Stiftung. Es ging um Pubertät, sein neues Buch. 400 Leute applaudierten, als es um die Kritik am Zumüllen der Köpfe ging und dass wir eine pädagogische Müllabfuhr brauchen. Ob die Leute, viele davon Lehrer, am nächsten Tag statt weiter Stoff einzufüllen sich ans Ausmisten und Ordnen machen?
Um Michael Tomasello wird es dann also in der nächsten Kolumne gehen. Aber ich fang schon mal an. Der Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat im Vergleich mit unserer Verwandtschaft, den Affen, herausgefunden, wie die Menschenkinder von früh an kooperieren. Auch Affen können Intentionen anderer erkennen, aber sie nutzen ihr Wissen nur zum eigenen Vorteil. Das Besondere unserer Art ist weniger ein Altruismus, den man in Gegensatz zum Egoismus bringen könnte, es ist die Kooperation von Anfang an.* Sie zeigt sich bereits vor dem Sprachgebrauch. Sie ist unabhängig von Belohnungen und Ermutigungen. Sie ist eine in der Frühgeschichte der Gattung angelegte Überlebensform mit dieser unglaublichen Emergenz, dass sich an die biologische eine kulturelle Evolution anschließen konnte.
Tomasello: »Alles über den Altruismus mag ganz interessant sein, aber der wirkliche Schlüssel ist die Zusammenarbeit, das gemeinsame Lösen von Problemen, insbesondere bei der Nahrungssuche. Alle großen Affen, alle Primaten, besorgen sich die Nahrung selbst. Sie mögen sich in Gruppen bewegen, aber die Nahrung beschafft sich jeder einzelne.« Der Schlüssel ist die Zusammenarbeit, das gemeinsame Lösen von Problemen! Ein Satz für alle Schulgesetze, Präambeln und Leitbilder und vor allem für den Alltagskompass der Lehrer.
PS
Eine Ursache der Finanzkrise sieht der kanadische Ökonom und Managementtheoretiker Henry Mintzberg in der Dressur auf kurzfristige Erfolge durch Bonuszahlungen. Die Konditionierung auf Außensteuerung lasse das Urteilsvermögen verwahrlosen. Menschen wissen dann nicht mehr, was sie wollen, ja ob sie überhaupt etwas wollen. Der amerikanische Ökonom Samuel Bowles schreibt: Explizite, also äußere Leistungsanreize zerstören gute Absichten.
PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de
Aus: Pädagogik 1/2012