Ambivalenzen

Keine Schule. Dafür tolle Eltern, die am besten als Künstler hauptberuflich mit Kindern malen, spielen und sie ernst nehmen. Das wär´s doch!

So rein sieht in dem eben angelaufenen Film »Alphabet« der positive Pol aus. André Stern ist nie zur Schule gegangen und ihm fehlt nichts. Er ist klug und wirkt zufrieden. Er ist Gitarrenbauer, Musiker und seit er über sein Leben geschrieben hat, ist er als Vortragsredner Kronzeuge für die Fundamentalkritik an der Schule. Er ist ein Held in dem Film »Alphabet«. Er und seine Eltern, die in einer wunderschönen Villa mit Paradiesgarten in Frankreich einen Malort für Kinder betreiben. Immer noch. Sie sind an die 90 Jahre alt. Gegründet haben sie ihn als Staatenlose, aus Deutschland vertrieben. Man bewundert sie. Ein anderer Held in dem Film ist Pablo Pineda Ferrer aus Spanien. Trotz des sogenannten Down-Syndroms, mit dem er zur Welt kam, machte er Abitur, wurde Lehrer und studiert nun Psychologie. An­dré Stern, seine Eltern und Pablo sind in dem Film die Platzhalter für das Positive. Sind sie wirklich Helden oder sind sie bloß Metaphern?

Der negative Pol in »Alphabet« ist nicht minder eindeutig. Los geht es mit dem Stress chinesischer Schüler. Dann die offensichtliche Blödheit von McKinsey-Einsteigern. Schließlich das unwürdige Leben und die skandalös niedrige Bezahlung eines jungen Wachmanns in Dortmund. Lauter Zombies, so die Botschaft, produziert dieses Bildungssystem. Selbst die Kinder, deren Bilder Stern senior an seinem Malort aufblättert, malten immer einfältiger.

Erfolg

Thomas Sattelberger ist im Film der Vertreter der Anklage. Er kritisiert die Ökonomisierung des Lebens. Sattelberger war erst Ausbildungschef bei Daimler. Dann Leiter der Führungskräfte bei der Lufthansa, Personalverstand bei Continental und zuletzt Arbeitsdirektor und Personalvorstand bei der Telekom. Das nennt man Topmanager. Nun ist er pensioniert. Seine Kritik ist scharf und ich bin mir sicher, sie trifft den Nerv, nämlich die überbordende Grammatik von Zweck-Mittel-Relationen, für die es am Ende nur den einfältigen Sound der vorgeführten McKinsey-Streber gibt: Erfolg, Erfolg, Erfolg. Besser als die anderen sein. Es an die Spitze schaffen. Effektiv sein, egal wofür. Wer keinen Erfolg hat, der lebt angeblich nicht, der vegetiert nur. Gerade die vorgeführten Erfolgreichen leben nicht. Sie zerren sich und die Welt in die schrecklichen Strudel bloßen, wenn auch luxuriösen, Überlebens. Konkurrenz und Erfolg machen alles egal und gleichgültig. Sie verwandeln Alles in Nichts.

Erwin Wagenhofer ist in seinen Filmen dieser fatalen Grammatik auf der Spur und doch rast er in die Sackgasse. Darin ist etwas Symptomatisches. Wofür? Tiefem Unbehagen an der Schule und an der Entfremdung des Lebens wird Erlösungsmetaphorik und Begeisterung angeboten. Statt dokumentarisch zu sein, ist der Film durch und durch metaphorisch. Dokumentierte Wirklichkeit ist nie ambivalenzfrei. Dieser Film allerdings ist völlig ambivalenzfrei.

Predigen

Nehmen wir Thomas Sattelberger. Wie ist es denn dazu gekommen, dass ein Mensch zugleich so kritisch und intuitiv sein kann und es in dem kritisierten System so weit gebracht hat? Das kann doch ohne Ambivalenzen gar nicht sein. Die wären erkenntnisreich und spannend. Stattdessen reiht sich Predigt an Predigt. Dabei ist auch Gerald Hüther, dem wir – ich auch – vieles an Ideen verdanken. Woher nur der Sog zur Predigt und zunehmend das Vermeiden des immer ambivalenten Konkreten?

Oder nehmen wir den Kritiker der Schulen in China. »Die Kinder«, sagt Yang Donping im Film, »gewinnen am Start und verlieren am Ziel.« Ja! Von Yang Donping hören wir nur Düsteres. Der chinesische Pädagogikprofessor, das erfährt man am Rand, ist auch Vorsitzender einer Regierungskommission zur Schule. Was macht die? Wie arbeiten die Chinesen an den dort zumindest von einigen erkannten Problemen?

Oder Andreas Schleicher, der Pisa-Koordinator, der in China interviewt wird und die dortigen Erfolge hervorhebt. Er erscheint als Drahtzieher einer neoliberalen Verschwörung, die das Konkurrenzdenken auf der ganzen Welt verbreitet. Wer ihn kennt, weiß, dass ihm ähnliche Sätze, wie sie Thomas Sattelberger sagt, zu entlocken sind. Ebenso wie man Sattelberger hätte schwarz malen können.

Quälen

Der Film hat mich tagelang gequält. Auch weil ich, wenn ich die Innenbeleuchtung einschalte, weiß, wie leicht man in Schwarz-Weiß-Optik und Erlösungsglauben verfallen kann. Aber es wird wirklich Zeit, Ambivalenz zu ertragen. Was das heißt? Der Film hat den Untertitel: »Angst oder Liebe«. Im »oder« steckt das Dilemma. Anders gesagt: Lange haben wir proklamiert, eine gute Schule sei eine ohne Angst. Das war eine fatale Täuschung. Eine gute Schule wäre eine, in der Kinder und Jugendliche, wie auch die Lehrerinnen und Lehrer, Angst haben dürfen! Aber keine Angst vor der Angst mehr haben müssen! Das könnte eine Koordinatenverschiebung zu einer besseren Welt sein.

PS
Und was ist mit Pablo aus Spanien? Ich rufe Remo Largo an. Der emeritierte Kinderarzt ist der besonnenste unter den Reformpädagogen*. Auf vielleicht 500 Kinder mit Down-Syndrom, sagt er, komme ein Normalbegabter. Er ärgert sich noch, dass er kürzlich auf einem Podium zu der These »Jedes Kind ist hochbegabt« geschwiegen hätte. Es wird Zeit für eine ehrlichere Debatte. Prediger aller Art reden über alles, nur nicht über sich. Reden wir mehr in der ersten Person Präsens!

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de

*    Zuletzt: Wer bestimmt den Lernerfolg? Weinheim 2013


Aus: Pädagogik 12/2013