Was »Chancengleichheit« für die Bildungsreform der 60er und 70er Jahre war, ist in der Nach-Pisa-Zeit mehr und mehr die »Individualisierung« geworden. Sie ist drauf und dran zur Formel für neues Lernen zu werden. Dass jeder Mensch anders lernt, ist ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit und dennoch eine lang vernachlässigte und für viele – gerade auch Pädagogen – neue Erkenntnis. Lernen in der Schule wurde als die passive Seite von Belehrung verstanden, nicht als konstruktive Leistung aktiver Individuen, von denen keines wie ein anderes tickt. Man sah Menschen, sobald sie eingeschult werden, als leere Fässer, die zu füllen sind, und nicht als lauter besonders geschliffene Prismen, in denen sich die Weltstrahlen anders brechen.
Söldner
Wie all die Großworte nährt sich allerdings auch »Individualisierung« von einer Verneinung. Abschied von der pädagogischen Kolonne, die, um den Lehrplan zu erfüllen, im Gleichschritt durch die Schuljahre zieht, erst noch ganz froh, dann wird sie immer müder und gen Ende schließlich erinnert sie an einen Haufen Söldner, die von einer sich in Auflösung befindlichen Armee entlassen werden und Schwierigkeiten haben, sich im Leben zurechtzufinden. Schon länger ist ja das typische Nach-Abi-Ritual kein Trampen mehr in die Welt, sondern ein Besäufnis. Man denke nur an die Alkoholfeste von Abiturienten, die nach 13 Jahren Abgefülltwerden mit Schulstoff tagelang Fusel irgendwo an der Adria oder in Spanien in sich einlaufen lassen. Gemessen an dieser Konditionierung zum Hohlkörper klingt »Individualisierung« fast nach Kulturrevolution. In der geht es erst mal darum, einen unverwechselbaren Körper, ja einen Leib anzuerkennen, der fühlt und wünscht und denkt, der sich bewegen will und überhaupt etwas will. Um »Individualisierung« tatsächlich zu ermöglichen, müsste die Choreografie der Schule eine andere werden.
Aber auch bei Strukturkonservativen, die am System nichts ändern wollen, wird das Zauberwort immer beliebter. Sie insistieren darauf, dass es einzig auf den Unterricht ankomme. Statt an den großen Schrauben der Lernformen, der Kultur und der Schulorganisation zu drehen, so meinen sie, sollte man sich lieber auf die verlässliche »individuelle Förderung« in der Klasse konzentrieren. »Individualisierung« taugt offenbar auch als Fahne für die pädagogische Restauration.
Heterogenität?
Nach Pisa trat zunächst die »Heterogenität« in die Arena. »Unsere Schulen haben Schwierigkeiten im Umgang mit Heterogenität«, raunten die Experten ahnungsvoll. Das schien die Diagnose, »Individualisierung« sollte die Lösung sein. Aber haben denn die Lehrer nicht Schwierigkeiten im Umgang mit unterschiedlichen Kindern? Wie kann man denn überhaupt Umgang mit dieser aparten Person, der »Heterogenität« haben? Jedenfalls verschwinden im Nebel solcher Wörter weiterhin die Individuen. Gilt es nicht die Verschiedenheit als Vorteil zu sehen, sie zu kultivieren und die dafür notwendige Atmosphäre, den Raum, die Umgebung, also im Wortsinn eine Gesellschaft zu schaffen? Was klärt da eigentlich ein Wort wie »Heterogenität«? Es verweist nur auf das Knirschen im Gebälk einer nicht mehr funktionierenden Institution und intoniert das ratlose Raunen seiner Experten.
Verschiedenheit!
Man muss die Schule und das Lernen eben noch mal neu denken. In der Normierungsanstalt waren Individuen im Grunde nicht vorgesehen. Ihre Verschiedenheit war kein Vorteil, aus dem es etwas zu machen galt, sondern ein Nachteil, ein Defizit, das verschwinden sollte. Und weil diese Verschiedenheit nicht verschwinden will, wird sie verleugnet und maskiert und bleibt als Störung, als ein Problem, über das geklagt wird. »Heterogenität« ist dann vor allem eines, sie ist immer zu hoch. Man stimmt das alte Lied von den »falschen Schülern« an, die dort, wo sie sind, eigentlich nicht hin gehörten. Heterogenität wird außerdem ein Deckwort für Einzelkinder, Unterschicht, Hypermotorik und vor allem den »Migrationshintergrund«. Lauter Wörter, die aus Individuen mit Namen, einer Geschichte und einer Zukunft, die keiner kennen kann, bloße Exemplare von Problemlagen machen.
Gemeinschaft
Eigentlich sollte man auf all diese Wörter verzichten und wenn man es nicht schafft, dann sollte man den Kontext nennen, in dem sich erst Bedeutungen bilden. Der Kontext von gelingender Individualität ist die Zugehörigkeit zu einer vertrauensvollen Gruppe und einer schönen und verlässlichen Umgebung, sagen wir ruhig Heimat oder Gemeinschaft. Dieser Schutz ermöglicht Individuen ihr Coming-Out, das Wagnis, sie selbst zu werden, Umwege zu gehen, aus Problemen, dem Rohstoff jeder Biografie, etwas zu machen. Eine Umgebung, die mit dem Versprechen von Zugehörigkeit geizt, die gewissermaßen nach den blinden Passgieren sucht, die vom Schiff oder zumindest von Deck sollen, fördert Maskenbildung und nicht die Bildung. Wer nicht über die Kultur des Lernens sprechen will, sondern bloß über die »Individualisierung des Unterrichts« oder über »individuelle Förderung« als einer Methode, der bleibt beim Füllen von Fässern beziehungsweise bei einer tollen Innovation für den Nürnberger Trichter, einem passgenauen Hightech-Ventil, das den individualisierten und widerstandsfreien Abfüllvorgang verspricht.
PS
Beim Schreiben musste ich dauernd an den genialen Heinz von Foerster denken. In seinen Oberseminaren an der University of Illinois galt die Regel, dass jeder sagen durfte, was er will, aber wer Großnomina gebrauchte oder in Ismen oder mit Schlagwörtern sprach, der musste für jedes dieser Wörter einen Dollar zahlen. Das half.
PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de
Aus: Pädagogik 3/2010