Auf das Wie kommt es an

Viele Kinder kommen in Deutschland zu spät in die Schule, sagt die Bundesbildungsministerin. »Am Ende der ersten Klasse haben sie dann keine Lust mehr, weil sie unterfordert sind.« Ihre Konsequenz: »Keinen starren Stichtag.« Die Zukunft liege in einer stärkeren Verbindung von Kindergarten und Grundschule. Mit dem Lernen solle früher begonnen werden, »etwa mit vier, statt erst mit sechs Jahren«.
Das Interview mit Annette Schavan löste einen Sturm der Entrüstung aus. »Die Kinder haben ein Recht auf ihre Kindheit«, erklärte der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne wie ein Volkstribun und traf damit die Stimmung im Land. Aber beginnt mit der Einschulung tatsächlich das Ende der Kindheit? Das ist offenbar die Überzeugung der meisten Deutschen. Man bekommt sie auf jedem Spielplatz zu hören. Sagt eine Mutter, wir schicken Laura schon mit fünf in die Schule, antwortet der Chor der Mütter und Väter: Ach, lass ihr doch noch ein Jahr Kindheit, der Ernst des Lebens kommt früh genug.

Der Ernst des Lebens?

In der Schule wird das Lernen bald zur Prüfung. Der Spaß hört für die meisten Eltern endgültig auf, wenn ihrem Kind die Gymnasialempfehlung verweigert wird. Mit zehn Jahren möglicherweise als zweit- oder drittklassig abgestempelt zu werden, diese Angst beherrscht bald auch die Kinder und lähmt sie. Studien verzeichnen bereits in der zweiten Klasse einen Einbruch ihrer Lernlust. Dabei sind sie doch fast alle voller Vorfreude und Neugier in die Schule gekommen. Und dieser Krampf soll schon mit vier beginnen? Selten wurde in Internetforen ein Politiker so beschimpft wie Annette Schavan.
Die folgende Mediendebatte hat etwas Gespenstisches. Der Schuleintritt wird durchweg als der unvermeidliche Übertritt in eine kalte Welt angesehen. Also sollte er lieber später stattfinden. Eine Diskussion, wie das Lernen für die Jüngsten aussehen kann? Fehlanzeige. Dabei gibt es doch Beispiele. Etwa an der Laborschule in Bielefeld, die seit mehr als 30 Jahren mit den Fünfjährigen anfängt und beste Erfahrungen macht. Oder in den Niederlanden und in Neuseeland, wo Kinder ab vier in die Schule kommen. Lernen und Spielen gehören dort allerdings zusammen und bleiben länger ein Tandem. Manche Schulen nehmen Kinder an ihrem Geburtstag auf, jedes an einem anderen Tag und immer mit einer Feier. Das ist die Initiation in eine Schule, die wirklich individualisiert und die zugleich eine Selbstverständlichkeit verspricht: Zugehörigkeit, acht bis zehn Jahre gemeinsamen Lernens, keine Suche nach blinden Passagieren.
Müsste die Debatte über den Anfang nicht mit solchen Beispielen beginnen? Aber nein. Es gibt offenbar quer zu den Reihen unserer Bildungsfraktionen einen gemeinsamen Nenner: Schon für den Schuleintritt müssen Kinder irgendwie fertig, nämlich schulreif sein. Ein Wort, das andere Sprachen gar nicht kennen. Und noch etwas vereinigt die Lager. Die Unterstellung, dass hinter den Überlegungen für eine frühere Einschulung die turbokapitalistische Beschleunigung steckt. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, der in solchen Debatten nie fehlt, sagt, »man kann psychologische Entwicklungen nicht endlos beschleunigen.« Und: »Für die persönliche Entwicklung, für die Entfaltung der Kreativität muss in der Vorschulzeit Platz sein.« Ach. Und nachher nicht?

Das Schisma

Die deutsche Bildungsideologie pflegt eine merkwürdige Demarkationslinie zwischen Spielen und Lernen, zwischen einer freien Kindheit und dem Schulkind, dem man dann noch häufig mit dem späteren Leben droht, zwischen warmer Lebenswelt und kalter Institution. Schavans sozialdemokratische Vorgängerin, Edelgard Bulmahn, erlebte das gleiche Schisma mit der Ganztagsschule, die zunächst von vielen fast als Freiheitsberaubung und als eine Art Verstaatlichung der Kindheit abgewehrt wurde. Woher kommen eigentlich diese Bilder? Warum wollen die Verteidiger der freien Kindheit die Schule nicht lieber in einen einladenden Lern- und Lebensort verwandeln? Warum ist es ihnen so wichtig, dass die Kinder mittags möglichst schnell aus der Schule kommen und warum fürchten sie nun, sie müssten zu früh hinein?
Wie sich in der Schweiz zeigt, könnte ein früherer Anfang sogar ein Beitrag zur Entschulung der Schule sein. Dort erprobt man die altersgemischte Basis- bzw. Grundstufe, bestehend aus zwei Jahren des ehemaligen Kindergartens und zwei Jahren oder einem Jahr der Primarschule, je nach Kanton. In den gelungenen Fällen hat der Kindergarten stärker die Schule verändert als umgekehrt. Kindergärten haben mehr Erfahrungen mit Mischungen und mit der Individualisierung. Gemischte Gruppen sind den Entwicklungsunterschieden der Kinder und ihrer Lernlust viel angemessener als Jahrgangsklassen mit ihrer Neigung zu Belehrung und Gleichschritt. Unterschiede stimulieren die Entwicklung, es sei denn, man macht aus ihnen Selektionskriterien.

PS

Es kommt also viel mehr auf die Art und Weise als auf die bloße »Maßnahme« an. Das gilt auch für den Vorschlag von Frau Schavan, gegen den Lehrermangel Experten aus anderen Berufen in die Schulen zu holen. Zwingt man Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung, Lehrer zu spielen und sich so zu verhalten, wie sie es einst als Schüler gelernt haben, oder ergreift man die Chance, Botschafter aus der tätigen Welt zu bekommen? Dazu müssten ihnen allerdings neue Rollen in einer veränderten Choreografie des Lehrens und Lernens angeboten werden. An diesem entscheidenden Unterschied im Wie können allerdings nur die Akteure arbeiten. Sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen und sie untereinander auswerten können. Solange diese Spielräume für die Intelligenz der Praxis gering sind oder kaum genutzt werden, wird uns die Dummheit von »Maßnahmen« und rechthaberischen Bildungsdebatten nicht erspart bleiben.

PPS

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de


Aus: Pädagogik 9/2009