PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne

Form und Förmlichkeit

Es ist noch nicht 8 Uhr. Die Schüler kommen in die Klasse und begrüßen ihren Lehrer mit Handschlag. Dann gehen sie an ihre Tische, legen die Taschen ab und sagen den anderen Hallo. Grüppchen bilden sich und lösen sich auf. Bald wird sich jeder aus den Regalen sein Material geholt haben und legt los. Gibt es so was? Oder zitieren wir aus Entwürfen für eine Schüler-Benimmfibel, von der Bildungspolitiker zwischen Bremen und Saarbrücken neuerdings träumen?

Arbeit

Die Morgenszene gehört zum Tagesablauf der Bodensee Schule in Friedrichshafen. Die Schüler fangen einfach an zu arbeiten, ohne Klingelzeichen, Kommando oder Ermahnung. Wie kommt es, dass sie das Lernen als ihr eignes Ding ansehen? Am stärksten beeindruckt die erstaunliche Ruhe in den Klassen. Nun war es so, dass ich mit einem Kamerateam dort war. Manchmal sagen uns Lehrer, »Sie sollten häufiger kommen. So leise ist es selten.« Liegt es also am Besuch? »Nein«, sagt Franz Gresser, der Klassenlehrer der 7. Klasse. »Es ist sonst eher noch ruhiger. Die Ruhe kommt einfach daher, dass jeder weiß, er macht das Richtige für sich und jeder weiß, dass ich mich um ihn kümmere.« In der Klasse erlebt man, wie es sich auswirkt, wenn Lehrer Lerngelegenheiten geschaffen haben. In den aufgeräumten Regalen gibt es Karteien, Lernspiele, Lexika. Das Material dieser »vorbereiteten Umgebung« hat Franz Gresser zum Teil selbst hergestellt, anderes wurde gekauft oder von Kollegen im Lauf der Jahre erarbeitet. Die Bodensee Schule gehört zu den »Marchtaler Plan Schulen«. Eine Assoziation katholischer Schulen im Südwesten. Sie speisen sich aus deutscher Reformpädagogik, Ideen von Maria Montessori und haben längst ihre eigene Tradition. Sie stehen in Kontakt mit der Wiesbadener Helene Lange – und der Bielefelder Laborschule und fahren auch schon mal nach Schweden oder Finnland.

Gehen wir noch mal in die Klasse. Auf Anhieb fallen Rituale und pädagogischen Erfindungen auf. Alle Schüler arbeiten an ihren Sachen. Das machen sie allein, mit Nachbarn oder in Gruppen. Ihre Fragen stellen sie zuerst ihren Mitschülern. Wer fertig ist oder den Rat des Lehrers braucht, stellt den »Strecker« senkrecht. Das ist ein Holz, auf dem sein Name steht. Franz Gresser lässt dann nicht lange auf sich warten. Diese Verlässlichkeit ist für ihn eine der Erklärungen, dass es so gut klappt. »Die Schüler wichtiger nehmen als Fächer und Lehrpläne!« Verschmitzt fügt er hinzu: »In manchen Schulen müssen die Kinder ein Jahr oder zehn Jahre warten, bis der Lehrer kommt.«

Ordnung

»Wir haben den Tag sehr sauber strukturiert. Wir haben uns völlig von diesem unsinnigen 45-Minuten Raster gelöst,« erklärt Schulleiter Alfred Hinz. Die Schule ist übrigens Ganztagsschule seit 1972. Jeden Morgen haben die Schüler bis zu drei Stunden freie Arbeit. Sie entscheiden selbst, was für sie ansteht. Präpositionen? Dreisatz? Einen Aufsatz schreiben? Sie besprechen es mit dem Lehrer. Das ist jenes »selbst regulierte Lernen«, das derzeit viele Deutsche (zu Recht!) in den Futurum-Schulen in Schweden bewundern.

Freiheit und Struktur sind das Yin und Yang von Schulen, die gelingen. Die Bodensee-Schule hat übrigens die meisten Fächer zu Gunsten von Freiarbeit, vernetztem Unterricht und Projekten abgeschafft. Und wo bleibt die Leistung? In Baden-Württemberg stellt das Kultusministerium den Klassen 9 und 10 Vergleicharbeiten. »Die erledigen wir mit einer Hand«, sagt Alfred Hinz.

Die Hauptthemen der hysterischen deutschen Bildungsdebatte, Leistung, Disziplin und Benimm der Schüler sowie die Arbeitszeit der Lehrer, stellen sich ganz anders, sobald die Schule ein Lern- und Arbeitsplatz und darüber hinaus ein Lebensort für Schüler und Lehrer geworden ist. Was Qualität ist, entscheidet sich ganz konkret in Gesprächen mit jedem einzeln Schüler. Der Nebel von Benimm & Co. löst sich in den drei berühmten R von Hartmut von Hentig auf: Rituale, Regeln, Reviere. Am Bodensee fügt man noch Rhythmen und auch etwas Rock ´n Roll hinzu.

Vertrauen

Man fragt sich, warum so wenige unserer Schulen diese entspannte Arbeitsatmosphäre haben, die doch so reiche Ernste bringt? Vielleicht weil wir so wenig an die wichtigste Ressource erfolgreicher Schulen glauben: Das Vertrauen, dass Kinder und Jugendliche lernen wollen. Das größte Gift in Deutschland ist Misstrauen. Dafür braucht man Feinde. Je nach dem wer spricht, sind es die Schüler, die Eltern, die Lehrer und vor allem die Ämter und Behörden. Wie kommt es eigentlich, dass die Lehrer gerade jetzt aufwachen, wo es um die Quantität, ihre Arbeitszeit geht? Über die Qualität des Unterrichts haben sie sich bisher nicht so echauffiert. Oder?

Es ist schon ein Drama des deutschen Diskurses: Entweder geht es hoch in den Wolken um »die Bildung« oder unterirdisch um Benimm- und Bauchnabelfragen, worüber die Populisten unter den Politikern und die gierigen Medien derzeit schwadronieren. Penetrant schweigen sie darüber was Form bedeutet. Sie ist die Bringschuld der Erwachsenen. Jetzt wird die skandalöse Normalverwahrlosung unserer Schule einfach den Schülern angelastet. Ausgerechnet ein Schüler-Knigge soll Ordnung schaffen.

P. S.

Dabei wäre ein echter Knigge gar nicht so schlecht. Schließlich wollte der Freiherr einst die Kantsche Philosophie in den Alltag bringen. Es ging ihm tatsächlich um Form. Aber man machte daraus Breviere für Aufziehpuppen, ein Regelwerk der Förmlichkeiten.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers(at)gmx.de