PÄDAGOGIK - P.S. Reinhard Kahl’s Kolumne |
Misstrauen und Kleinkrieg |
Welcher Institution vertrauen Sie am meisten? Diese Frage stellte das Gallup Institut weltweit. In 47 Ländern sollten 17 Institutionen in eine Rangfolge gebracht werden. Das Ergebnis: Auf dem Globus stehen die Bildungsinstitutionen auf Platz eins. Das ist eine gute Nachricht. Die schlechte heißt – man ahnt es schon – in der deutschen Gefühlslandschaft liegt Bildung im Misstrauenstal, deutlich unter Normalnull, exakt auf Platz 11 (von 17), übrigens ganz in der Nähe von Gewerkschaften und Medien. Das höchste Vertrauen genießen bei uns Polizei und Militär. Das ist folgerichtig. Denn wo Misstrauen herrscht, kann man letztlich doch nur den Ordnungsmächten trauen. Wenn es kritisch wird, werden Machtworte, Vorgaben und die eiserne Hand verlangt. Wollen die Misstrauischen überhaupt Bildung? Meinen sie nicht allen Sonntagsreden zum Trotz Ausbildung? Verlangen sie nicht Tauglichkeit für das so hart und feindlich vorgestellte spätere Leben? Und ist es ein Zufall, dass wir Bildung exakt auf die Position setzen, auf die uns Pisa verwiesen hat, unteres Mittelfeld? Unschwer erkennbar gehört die Mistrauenskultur zur Physiognomie der auslaufenden Industriegesellschaft, so wie die nach Literacy fragende Pisa-Studie einen nachindustriellen Bildungsbegriff ansetzt. Produktivkraft Stolz Wer von Vertrauen spricht, darf von Selbstbewusstsein, ja von Stolz und Zugehörigkeit nicht schweigen. Gewiss, Stolz ist in Deutschland ein kontaminiertes Wort. Im Auschwitz- und Mauerland wurde das Vertrauen in die Welt gekränkt. Aber kann man den Stolz auf seine Zugehörigkeit rechtsradikalen Glatzen, also denen überlassen, die ja nicht von einer bescheidenen Sicherheit getragen sind, sondern voller Minderwertigkeitsgefühle Stolz nur proklamieren? Dass Stolz eine Produktivkraft ist, gehört zu den ersten starken Eindrücken, wenn man in Skandinavien oder Kanada den erfolgreichen Schulen auf der Spur ist. Stolz kann frei machen, weil er Verlässlichkeit und Zugehörigkeit unterstützt. Der seit einem Jahr am häufigsten zitierte Satz über die finnischen Schulen heißt: »Jeder gehört dazu. Wir können es uns nicht leisten, auch nur auf einen zu verzichten. Jeder wird gebraucht.« Das sagt Jukka Sarjala, Chef der finnischen Unterrichtsbehörde. Er kommt übrigens aus der konservativen Partei, aber das, sagt er, sei egal, weil es in Bildungsfragen Konsens gibt. Dass in Deutschland Bildung ein Hackbrett und kein Gemeinschaftsfeld ist, kann er nicht verstehen. Sein Unverständnis betrifft sowohl den latenten Religionskrieg in unserer Bildungspolitik wie auch den häufig gar nicht mehr latenten Bürgerkrieg in den Schulen. »Warum nur sind die Lehrer eure Feinde«, fragten kürzlich Austauschüler aus den glücklicheren Ländern. Ihre deutschen Mitschüler waren sprachlos, denn den Kleinkrieg halten sie für den menschlichen Naturzustand. Destruktionskraft Beschämung Viele Nachrichten aus deutschen Schulen klingen wie Frontberichte. Da sagt ein Deutschlehrer eines angesehenen Gymnasiums zu seinen Schülern immer wieder diesen Standardsatz: »Ihr seid der Rotz an meinem Ärmel.« Demütigung, Geringschätzung und Feindlichkeit, wenn es hoch kommt sachlich cooles Desinteresse, sind der Normalfall an unseren Schulen. Der Blick über den Rand von Krähwinkel zeigt allerdings, dass dieses bloß der deutsche Normalfall ist. Neben Stolz fehlt uns Zutrauen in die Leistungsfähigkeit und erst recht in die Leistungslust der Kinder und Jugendlichen. Zwischen Selbstbewusstsein und Leistung gibt es einen engen Zusammenhang. Wer mit deutschen Schülern, die für ein Jahr in England waren, spricht, hört sie durchweg über eine Schule staunen, die Stil und das Einhalten von Regeln verlangt, die aber auch das, was sie fordert, verschwenderisch gibt. Die unausgesprochene Botschaft heißt Respekt und Zutrauen: »Ihr könnt doch noch viel mehr.« Und abermals, »jeder gehört dazu«. Zugehörigkeit ist dort anders definiert als im egalitären Finnland. Nicht jeder findet überall Einlass. Aber wer drin ist, muss um seine Anerkennung nicht mehr bangen. Haut ab Erstsemester aus deutschen Hochschulen, zumal Studierende der Ingenieur- und Naturwissenschaften, aber auch von Jura, erleben noch eine Steigerung des neurotisierenden Geizes mit Anerkennung und Zutrauen, den sie aus der Schule kennen: »Die Hälfte von Ihnen«, hören sie, »gehört nicht hierher, und die meisten werden beim Examen mit Sicherheit nicht mehr dabei sein.« Auch das lehren die internationalen Statistiken: Kaum irgendwo ist die Dropout-Quote so hoch wie hierzulande, dabei ist in keinem vergleichbaren Land die Studienanfängerquote so niedrig. Was ist nur mit uns los? Warum sind die Deutschen solche Misstrauensjunkies? P. S. Anne Fliegenhenn, Lehrerin aus Münster, schreibt in einer Mail – und am liebsten würde ich sie ganz zitieren: »Viele Jugendliche wollen überhaupt nichts lernen. Das hat mich jeden Tag neu entsetzt. Sie wollen verwertbare Abschlüsse, um ›einen guten Beruf‹ zu bekommen, sie wollen das Abitur als zentralen Endzweck von Schule. Dementsprechend lernen sie, was sie müssen – Neugier und Offenheit für die Anstrengung des eigenen Denkens sind ganz und gar nicht vorauszusetzen, noch nicht einmal Respekt vor Bildung überhaupt. Viele Eltern interessieren sich für die Schule nur und ausschließlich nur dann, wenn es um schlechte Noten ihrer Kinder geht. Wie soll man als junger Mensch allen Ernstes 13 Jahre Schule aushalten, wenn darin nichts Beglückendes, Befreiendes, Kräftigendes zu erwarten ist, sondern nur Mühsal auf dem Weg zum einzig erhofften und ersehnten Zertifikat, nach dem das Leben erst anfangen soll?« P.P.S. Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: Kahl-Lob.des.Fehlers(at)gmx.de |