PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahls Kolumne |
Das Üben neu entdecken |
»Ich muss jetzt üben«, sagt der Schüler mit verquältem Gesicht. Üben und müssen sind bei ihm zu einer freudlosen Liaison verwachsen. Nicht nur bei ihm. Wir halten Üben für ein notwendiges Übel, wenn nicht gar für Drill und Unfreiheit. Viele wollen damit gar nichts zu tun haben. Wird so wieder mal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Fallen Was ist Üben? Blicken wir auf die Kinder. Ein Baby zieht sich am Stuhl hoch und fällt hin. Es richtet sich am Hosenbein des Vaters auf und wieder fällt es. So geht das monatelang. Erwachsene würden längst aufgeben. Aber Kinder machen weiter, bis ihnen das Laufen wie automatisch gelingt. In Phasen der Unlust sammeln sie neue Energie. Aus Leiden bildet sich Leidenschaft. Ohne Leiden geht nichts. Irgendwann kann dann jeder laufen. Laufen ist eine schöne Metapher. Physiologisch gesehen ist es aufgefangenes Fallen, Wechsel von Stabilität in Instabilität, Schritt für Schritt. Beim Laufenlernen macht jeder seinen Grundkurs im Üben. Wir lernen von Fall zu Fall und wir lernen uns im Fallen zu fangen. Präsenz »Der Sinn der Übung als Selbstzweck wurde ersetzt durch den neuen der vorbereitenden Übung.« Das kostete dem Üben seine Seele, die hellwache Präsenz, das Glück ganz gegenwärtig zu sein. Konrad Lorenz nannte dies »Funktionslust« und Mihaly Csikszentmihalyi hat dafür das Wort »Flow« geprägt, zum Beispiel die Selbstvergessenheit des Bergsteigers, die Hingabe an eine Sache, der Ernst des Spiels. Eine Haltung, wie man sie bei Kindern, Künstlern, Forschern und guten Handwerkern beobachten kann. Das ist das Gegenteil des aufgeschobenen Lebens, des Darbens auf dem dornenreichen Weg, der keinen Eigenwert hat und dessen Ziel nur selten erreicht wird. Intensität Was Üben ist, können wir heute am besten von den Kindern lernen. Vielleicht so wie Gerd E. Schäfer von der Kölner Uni mit seinen Mitarbeitern Kinder in der Lernwerkstatt Natur in Mülheim beobachtet. Nach zwei Jahren staunen die Wissenschaftler immer noch, mit welcher Intensität die Kinder bei der Sache sind, zum Beispiel wenn sie sich am Bach in der Schlucht tagelang im Schöpfen und Gießen üben. »Das müssen sie in hundert Variationen ausprobieren«, beobachtet Schäfer, »mit Sieb, ohne Sieb, mit Sand im Sieb, mit Erde im Sieb, mit Blättern im Sieb, mit kleinen Flohkrebsen im Sieb.« Bei diesen scheinbar immer gleichen Übungen sind die Kinder auf der Suche nach neuen Variationen und nach Konstanz. Schäfer beobachtet dabei »eine ungeheure Ausdauer.« Konzentrationsschwäche wurde auch bei Kindern nicht gefunden, die im Kindergarten als konzentrationsschwach gelten. P.S. Das Zusammenspiel von Kopf und Hand hat die Evolution der menschlichen Gattung vorangetrieben und das Üben hervorgebracht. Dass die Hand und das Handwerk in unseren Schulen so wenig gelten, zugunsten vor allem des Mundwerks und lauter kopierter Vorlagen, ist merkwürdigerweise so selten ein Thema. Das sollte man sofort ändern. P.P.S. Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de |