PÄDAGOGIK – P.S. Reinhard Kahls Kolumne

Das Üben neu entdecken

»Ich muss jetzt üben«, sagt der Schüler mit verquältem Gesicht. Üben und müssen sind bei ihm zu einer freudlosen Liaison verwachsen. Nicht nur bei ihm. Wir halten Üben für ein notwendiges Übel, wenn nicht gar für Drill und Unfreiheit. Viele wollen damit gar nichts zu tun haben. Wird so wieder mal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?

Fallen

Was ist Üben? Blicken wir auf die Kinder. Ein Baby zieht sich am Stuhl hoch und fällt hin. Es richtet sich am Hosenbein des Vaters auf und wieder fällt es. So geht das monatelang. Erwachsene würden längst aufgeben. Aber Kinder machen weiter, bis ihnen das Laufen wie automatisch gelingt. In Phasen der Unlust sammeln sie neue Energie. Aus Leiden bildet sich Leidenschaft. Ohne Leiden geht nichts. Irgendwann kann dann jeder laufen. Laufen ist eine schöne Metapher. Physiologisch gesehen ist es aufgefangenes Fallen, Wechsel von Stabilität in Instabilität, Schritt für Schritt. Beim Laufenlernen macht jeder seinen Grundkurs im Üben. Wir lernen von Fall zu Fall und wir lernen uns im Fallen zu fangen.
Üben ist eben keine Dressur. Die Zwangsumschulung des Linkshänders zum Rechtshänder oder das Einbläuen der Flötentöne sind Perversionen des Übens. Die hervorragende Dissertation von Heiner Klug »Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität« (www.art-live.de) zeigt, wie die Musikerziehung im 19. Jahrhundert kippte. Üben war bis dahin, was man heute kontinuierliche Verbesserung nennen könnte. Bachs Goldberg-Variationen waren Übungen, aber nicht nach dem Muster jetzt üben, um später etwas zu können, komponiert. Es waren Erkundungen im weiten Feld von Kunst und Kunstfertigkeit. »Üben und Ausüben«, so Klug, waren das Gleiche. »Übung war jede Beschäftigung mit dem Instrument, jedes Spiel, unabhängig vom Niveau: vom Anfänger bis zum Meister, der Vortrag inbegriffen.« Übungsstücke waren »Muster und Anregungsstücke zum Selbsterfinden.« Lehrer improvisierten zuweilen wie heutige Jazzmusiker und sie komponierten zumindest ein bisschen. Üben war eine Wechselwirkung von Ohr und Hand bzw. Mund. Dann kamen Übungsstücke auf den Notenmarkt, zum Beispiel Klavierschulen. Damit ließ sich der Unterrichtsaufwand um den Faktor sechs vermindern, schreibt Klug. Noten wurden Vorschriften. Üben schrumpfte von einem Selbstverhältnis des Musikers mit Blick auf den Meister, zum direkten Weg von der Note zum Instrument. Dominanz der Technik. Statt eines Spiels, das immer indirekt läuft, wurde nun ein kurzer und möglichst perfekter Weg zwischen Note und Instrument angestrebt. Der Übende fand sich störend dazwischen. Durch Üben, Üben und noch mal Üben sollte er sich dünne machen. Heiner Klug sieht darin den Sieg einer veränderten Arbeitshaltung.

Präsenz

»Der Sinn der Übung als Selbstzweck wurde ersetzt durch den neuen der vorbereitenden Übung.« Das kostete dem Üben seine Seele, die hellwache Präsenz, das Glück ganz gegenwärtig zu sein. Konrad Lorenz nannte dies »Funktionslust« und Mihaly Csikszentmihalyi hat dafür das Wort »Flow« geprägt, zum Beispiel die Selbstvergessenheit des Bergsteigers, die Hingabe an eine Sache, der Ernst des Spiels. Eine Haltung, wie man sie bei Kindern, Künstlern, Forschern und guten Handwerkern beobachten kann. Das ist das Gegenteil des aufgeschobenen Lebens, des Darbens auf dem dornenreichen Weg, der keinen Eigenwert hat und dessen Ziel nur selten erreicht wird.
Der Mensch ist ein krummes Holz, schrieb Kant. Den Satz könnte man hier im PS jedes Mal zitieren. Auf das Üben übertragen heißt er, soll das Holz gerade gehobelt oder soll aus der spezifischen Krümmung eines jeden sein einmaliger Eigensinn gebildet werden? Der Abstand zwischen diesen beiden Varianten ist so groß, wie der zwischen dem Exerzieren auf dem Kasernenhof und den Exerzitien in einem Zen-Kloster.

Intensität

Was Üben ist, können wir heute am besten von den Kindern lernen. Vielleicht so wie Gerd E. Schäfer von der Kölner Uni mit seinen Mitarbeitern Kinder in der Lernwerkstatt Natur in Mülheim beobachtet. Nach zwei Jahren staunen die Wissenschaftler immer noch, mit welcher Intensität die Kinder bei der Sache sind, zum Beispiel wenn sie sich am Bach in der Schlucht tagelang im Schöpfen und Gießen üben. »Das müssen sie in hundert Variationen ausprobieren«, beobachtet Schäfer, »mit Sieb, ohne Sieb, mit Sand im Sieb, mit Erde im Sieb, mit Blättern im Sieb, mit kleinen Flohkrebsen im Sieb.« Bei diesen scheinbar immer gleichen Übungen sind die Kinder auf der Suche nach neuen Variationen und nach Konstanz. Schäfer beobachtet dabei »eine ungeheure Ausdauer.« Konzentrationsschwäche wurde auch bei Kindern nicht gefunden, die im Kindergarten als konzentrationsschwach gelten.
Die Kinder wollen die Dinge und zugleich sich selbst spüren. Am liebsten würden sie in der Materie baden. In der Wiederholung lernen sie die Dinge und ihre eigenen Operationsmöglichkeiten kennen. Sie beginnen einen Dialog mit den Dingen und mit sich selbst. Es ist, als würden sie sich dabei stimmen, so wie man ein Musikinstrument stimmt. Das ist Üben. Wiederholen, variieren, wiederholen. Und vor allem: Do it your way!

P.S.

Das Zusammenspiel von Kopf und Hand hat die Evolution der menschlichen Gattung vorangetrieben und das Üben hervorgebracht. Dass die Hand und das Handwerk in unseren Schulen so wenig gelten, zugunsten vor allem des Mundwerks und lauter kopierter Vorlagen, ist merkwürdigerweise so selten ein Thema. Das sollte man sofort ändern.

P.P.S.

Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.reinhardkahl.de